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Archiv "Lebensqualität im Alter: Wachsende Herausforderungen an die Geriatrie und Gerontologie" (07.01.1991)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Die demographischen Verschiebungen im Altersauf- bau der Bevölkerung, die sprunghaft gestiegene Le- benserwartung, die Zunahme alter und hochbetagter Menschen, die Ausbreitung von altersbedingten Er- krankungen, die Multimorbidität und die zunehmen- de Pflegebedürftigkeit stellen die Medizin und die Gesellschaftspolitik, speziell die Geriatrie und Ge- rontologie, vor neue Herausforderungen. Die intensi- ve wissenschaftliche und praktische Beschäftigung mit den Prozessen des Alterns und des Altseins erfor- dern auch in der Sozial- und Gesundheitspolitik eine

„Konzentration der Kräfte". Schon werden erneut durchgreifende Reform-Maßnahmen verlangt, um Prioritäten bei der Mittelverwendung in allen Zwei- gen und Institutionen der sozialen und gesundheitli- chen Sicherung zu setzen. Die Überalterung der Be-

völkerung und die Zunahme behinderter Mitbürger und der Langzeitpflegebedürftigen erfordern institu- tionelle Regelungen, ohne den Staat und die Solidar- einrichtungen personell, finanziell und organisato- risch zu überfordern. Vielfach fehlt es im „Medizinbe- trieb", bei den Ärzten in Praxis und Klinik an „Rüst- zeug" zur Behandlung alter und hochbetagter Men- schen. Dies ist die Quintessenz des XXI. Kongresses der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege in Frankfurt, der unter dem Leitthema „Prävention von Krankheiten im Alter" die wichtigsten, deutlich altersabhängigen Erkrankungen (Rheuma; Alzhei- mersche Erkrankung; Lungenemphysem; Osteopo- rose; Diabetes; psychische Erkrankungen u. a.) und die pharmakotherapeutische Dimension bei der Be- handlung erkrankter älterer Menschen einbezog.

])

ie demographische Aus- gangslage, die so sehr das Krankheitsgeschehen, die sozialen und sozialpsycho- logischen wie medizinischen Bezüge des Altseins und des Altwerdens be- trifft: Ein Fünftel der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland ist heute 60 Jahre und älter. Ihr Anteil ist genauso groß wie der der jungen Menschen unter 20 Jahren. In 30 Jahren — also im Jahr 2020 — wird diese Altersgruppe voraussichtlich schon ein Drittel der Bevölkerung bilden. Heute leidet ein Viertel der über 65jährigen Erkrankten an psy- chischen Erkrankungen.

Im Jahr 2000 werden drei Millio- nen Deutsche das achtzigste Lebens- jahr überschritten haben. Eine halbe Million Menschen wird älter als 90 Jahre sein. Daß diese Prognosen rea- listisch sein dürften, ist Ausfluß der höheren Lebenserwartung. Diese ist seit der Jahrhundertwende um 30 Jahre auf nunmehr 71 Jahre bei männlichen und fast 78 Jahre bei weiblichen Neugeborenen gestiegen.

Diese positive Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland (vor der Vereinigung), darauf wies der Präsident der DZV, Prof. Dr. med.

Hans-Werner Müller, Meerbusch/

Frankfurt, hin, wird nur durch die Japaner übertroffen.

Bei älteren Menschen bestehen häufig multimorbide Zustände und zusätzliche psychische sowie soziale Belastungen. Mit der Überalterung der Bevölkerung nehmen auch die alterstypischen Erkrankungen zu.

Beim DZV-Kongreß wurde berich-

tet: Allein 600 000 ältere Menschen erleiden jährlich einen lebensbedro- henden Oberschenkelhalsbruch. Et- wa 700 000 Patienten leiden allein in Westdeutschland heute an einer De- menz, die meisten an der Alzheimer- schen Krankheit. Die Vielzahl der psychischen Erkrankungen, die Alz- heimer-Erkrankung, die Altersde- menz, vor allem die Multiinfarkt-De- menz infolge kranieller Durchblu- tungsstörungen, und Depressionen erfordern den ganzen Einsatz von Ärzten, Psychotherapeuten, Psycho- logen und ganzer Heerscharen von medizinischen Assistenz- und Fach- berufen, damit die zeitliche Spanne zwischen dem Eintreten multifakto- reller Erkrankungen im Alter und dem immer mehr hinausgeschobe- nen Lebensende möglichst minimiert wird, so Prof. Dr. med. Elisabeth Steinhagen-Tiessen, Direktorin der Abteilung Geriatrie III am Max-Bür- ger-Krankenhaus in Berlin, Initiato- rin eines viel beachteten „Modell- programms Geriatrie" in Berlin.

Dem Hausarzt, dem praktischen Arzt ebenso wie dem geriatrisch qua- lifizierten Allgemeinarzt sowie dem Internisten, komme hierbei eine Schlüsselrolle zu, da er durch eine lebensbegleitende Betreuung und

Kenntnis seiner Patienten frühzeitig Risikofaktoren ausschalten könne, so Professor Hans-Werner Müller, der den DZV-Kongreß leitete.

Prävention muß früh beginnen

Die Experten plädierten dafür, den Zeitpunkt der Prävention von Krankheiten im Alter immer mehr nach vorne, also in die „mittlere" Le- bensphase, zu verlagern. Appelliert wurde an alle Therapeuten, verstärkt altersspezifische und soziale Ursa- chen zu berücksichtigen und „ganz- heitliche Therapien" anzuwenden.

Das Berliner Modell am Max-Bür- ger-Hospital hat ein solches geriatri- sches Ganzheitsprogramm erfolg- reich entwickelt und erprobt, bei dem die ganze Palette der Alters-

„Molesten” mit einem differential- diagnostischen Check-up unter ärzt- licher Verantwortung zusammen mit den in der Geriatrie eingesetzten Fachberufen gezielt angegangen wird (insbesondere mit Kranken- gymnasten, Psychologen, Physiothe- rapeuten, Sozialarbeitern, Logopäd- en u. a.). Es dürfe nicht dazu kom- men, daß der alte Mensch stigmati-

Lebensqualität im Alter

Wachsende Herausforderungen an die Geriatrie und Gerontologie

Dt. Ärztebl. 88, Heft 1/2, 7. Januar 1991 (23) A-23

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siert und gesellschaftlich desinte- griert, zum "Verwahrungsfall" ge- stempelt wird oder daß er zu Hause sitzt und im "Sessel teilnahmslos da- hindöst". Dies wäre "unzumutbar und auf Dauer nicht finanzierbar".

Tatsächlich werden die alten und hochbetagten Menschen auch im Stadium einer Dauererkrankung und Pflegebedürftigkeit zu 85 Pro- zent zu Hause, in der familiären Um- gebung von Kindern und Kindeskin- dern betreut. Nur 15 Prozent werden in Dauerbetreuungseinrichtungen, in Akutkrankenhäusern, geriatri- schen Abteilungen an Akut- und Fachkrankenhäusern, in Alten- und Pflegeheimen, von Sozialstationen und in speziellen Tageskliniken für erkrankte alte Menschen (in Kran- kenheimen, so ein spezieller Berliner Terminus) untergebracht und ver- sorgt. Der Kongreß verwahrte sich gegen eine in der Offentlichkeit ge- äußerte Umstellung, immer mehr al- te Menschen würden lieblos in Insti- tutionen und anonyme Versorgungs- einrichtungen abgeschoben, würden ihrem Schicksal selbst überlassen werden und seien dazu prädestiniert, sozial und finanziell zu verelenden.

Eine Lanze

für

die Geriatrie

Namentlich Professor Müller appellierte an die Verantwortlichen in Politik und Wissenschaft, auch in der Forschung und Lehre gerontolo- gisch "aufzurüsten". Die Veranke- rung des Faches Geriatrie an den Hochschulen in Forschung und Leh- re sei überfällig - auch um eine hochstehende Weiterbildungsquali- fikation für geriatrisch interessierte Allgemein- und Gebietsärzte zu er- möglichen.

... Müller empfahl, unterstützt von der Fachgesellschaft für Geria- trie, die Kompetenz des "Altenarz- tes" dadurch zu verbessern, als insbe- sondere für die in der primär- und I?:ausärztlichen Versorgung tätigen Arzte die Möglichkeit geschaffen werden sollte, eine Zusatzqualifikati- on "Geriatrie" zu erwerben. Als "Ba- sis" für den Erwerb einer Teilgebiets- und/oder Zusatzbezeichnung "Geria- trie" böte sich der Hausarzt an.

Bei einer Etablierung des Fa- ches "Geriatrie" an den Universitä- ten und Hochschulen sowie im klini- schen Bereich böte sich die Chance, die Kompetenz und das Eigenge- wicht der geriatrischen Versorgung im Gesamtbereich der stationären Medizin zu erhöhen und zu verstär- ken. Es könne nicht angehen, daß

"geriatrische Betten" als "Anhäng- sel" größerer Fachabteilungen (etwa Innere) angesehen und unspezifisch versorgt werden. Vielmehr müsse das Akutkrankenhaus differenziert und auf die Behandlungsnotwendig- keiten älterer Menschen ausgerich- tet werden. Professor Müller: "Die typische Angebotspalette eines Akutkrankenhauses mit seinen dia- gnostischen und akut-therapeuti- schen Schwerpunkten garantiert nicht immer eine angemessene geria- trische Versorgung mit rehabilitativ- therapeutischem Schwerpunkt. Das Akutkrankenhaus muß sich stärker als bisher schon während der statio- nären Akutbehandlung alter Men- schen mit rehabilitativen Maßnah- men befassen, wozu neben medizini- schen krankengymnastische, ergo- therapeutische, psychologische, so- zialtherapeutische und aktivierend- pflegerische Maßnahmen gehören.

Neben einer Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten älterer Menschen im Akutkrankenhaus soll- ten die Sozialstationen und ambu- lanten Dienste ausgebaut und Tages- kliniken für chronisch erkrankte alte Menschen eingerichtet werden ... ".

Auf das schwierige Unterfan- gen, exakte Unterscheidungskriteri- en zwischen Altersnorm und eindeu- tigem psychopathologischen Altern zu definieren, wies Prof. Dr. med.

Klaus Oesterreich, der Leiter der Sektion Gerontopsychiatrie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, hin. Gesterreich stellte fest: Trotz der in den letzten 20 Jah- ren gestiegenen Lebenserwartung und der Zunahme älterer Mitbürger sowie der vermehrten Konzentration der ärztlichen und pflegerischen Ak- tivitäten auf "krankhafte Alternspro- zesse" darf nicht übersehen werden, daß die Zahl der gesunden Älteren die der kranken Älteren bei weitem überwiegt. Auch ist der Anteil der psychisch gestörten und psychia- A-24 (24) Dt. Ärztebl. 88, Heft 1/2, 7. Januar 1991

trisch kranken Älteren an der An- zahl kranker Älterer nicht dominie- rend, wie dies oftmals in Verken- nung der Tatsachen dargestellt wird.

Vielfach führe die falsche gesell- schaftliche oder beruflich-professio- nelle Einstellung zu einer Fehlein- schätzung, Altern sei generell mit Krankheit, Gebrechlichkeit, Pflege- bedürftigkeit und psychischer Ab- normität gleichzusetzen. Die Folge:

Eine zweifelhafte und fehlerhafte Unterscheidung von krank/psychisch krank, pflegebedürftig, gebrechlich und abnorm mit allen negativen Konsequenzen. Speziell der ständige Umgang mit schwer gestörten Perso- nen im Krankenhaus und im Lang- zeitpflegebereich könnte Ärzte und nicht-ärztliche Mitarbeiter zu sol- chen Fehleinschätzungen verleiten.

Damit würden die Älteren mehr in die soziale Isolation geführt als ih- nen durch angemessene Maßnah- men geholfen werde.

Bestimmte psychiatrisch rele- vante Störungen und psychopathi- sche Haltungen sowie Neurosen kön- nen sich im Alter abschwächen. Hy- sterische Störungen können durch organisch-neurotische Störungen er- setzt werden. Vielfach können sich Störungen der Kindheit im Alter zu Angstzuständen und Depressionen mit Schuldkomplexen "auswachsen". Damit sind Verläufe gekennzeich- net, die - in einer longitudinalen Be- trachtung - einen Ubergang vom

"Normalen" in das psychisch Krank- hafte dokumentieren. Trotz differen- tialdiagnostischer Verfahren und des Einsatzes von technischen V erfah- ren zur Bestimmung der Gehirnalte- rung, der Auswertung von Verlaufs- befunden läßt sich derzeit kein allge- meinverbindliches Schwellenkriteri- um festlegen, mit dessen Hilfe Vor- handensein oder Nichtvorhanden- sein eines beginnenden Demenz- Prozesses eindeutig bestimmt wer- den kann. Allerdings gibt es eine Reihe probater Parameter, um psychiatrische Erkrankungen, spezi- ell depressive Syndrome, kognitive Einbußen u. a. zu ermitteln und ge- zielt anzugehen. Das entscheidende Kriterium für die Differentialdiagno- se psychische Normalität versus Ab- normität dürfte die Verlaufsbeobach- tung bleiben. Dr. Harald Clade

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