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Archiv "Geriatrie: Für ein selbstbestimmtes Leben im Alter" (17.06.2005)

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T H E M E N D E R Z E I T

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A1722 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 24⏐⏐17. Juni 2005

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lfred Hauser ist in den letzten Wo- chen nicht mehr so recht auf die Beine gekommen. Zunächst war er zu Hause gestolpert und auf die linke Hüfte gestürzt. „Wie das passiert ist, weiß ich gar nicht mehr so genau“, meint der 84-Jährige. „Zum Glück war meine Frau da.“ Die Ärzte im Krankenhaus diagnostizierten eine mediale Schenkel- halsfraktur. Hauser wurde mit einer Duokopfprothese versorgt. Aber kurz nach der Entlassung stürzte er erneut, und die Prothese luxierte. Nach erfolgter Reposition soll der Berliner nun im Evangelischen Geriatriezentrum Wed- ding seine Muskulatur kräftigen und mobiler werden. Weiteres Ziel ist eine Steigerung der Selbstständigkeit beim Waschen und Anziehen.

Hausers Gangunsicherheit ist ein multifaktorielles Geschehen, ein Zusam- menspiel aus diabetischer Polyneuro- pathie, lagerungsbedingter Peronäusläh- mung rechts nach koronarer Bypass- Operation und einer Visusminderung beidseits.Eine Teppichkante kann da ohne weiteres das System zum Kippen bringen – im wahrsten Sinne des Wortes. Die Pati- entenakte des ehemaligen Opernsängers liest sich wie ein Lehrbuch der Inneren Medizin: Koronare Herzerkrankung mit Zustand nach fünf Myokardinfarkten, arterieller Hypertonus, chronische Herz- und Niereninsuffi-

zienz, insulinpflich- tiger Diabetes melli- tus Typ 2. Mit seiner 65-jährigen Ehefrau lebt Hauser in einer Wohnung in der er- sten Etage.Treppen-

steigen ist aber für den Patienten momen- tan nicht möglich. Das Gangbild ist sehr unsicher. „Ach, wenn ich erst mal zu

Hause bin, dann geht das schon wieder“, so Hausers Einschätzung.

Mit mehr als 80 Jahren gehört Hauser zu der stark wachsenden Bevölkerungsgrup- pe der Hochbetagten. Im Jahr 2050 wer- den bereits zwölf Prozent der Deutschen

zu ihr zählen. Im Jahr 2000 waren es noch sechs Prozent. Sinkende Geburtenraten und verlängerte Lebensalter hinterlassen ihre Spuren: Lag die Zahl der über 65- jährigen Bürger im Jahr 2000 bei 16,7 Pro- zent, so wird sie 2050 nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes schon 30 Prozent erreichen. Dies wird nicht ohne Folge für die Aus- gaben der Kranken- und Pflegeversiche- rung bleiben. Nach Angaben des Stati- stischen Bundesam- tes werden bereits heute etwa 43 Pro- zent der Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung durch die Patien- ten verursacht, die älter als 65 Jahre sind.

Im Jahr 2050 rechnen Experten mit etwa vier Millionen Pflegebedürftigen

Doch diese Zahlen sollten kein Grund zum Fatalismus sein. Die Geriatrie stellt ein erfolgreiches Konzept in der medizi- nischen Versorgung alter Menschen dar.

Sie hat ihren Ursprung in einem rehabili- tativen Ansatz. Alte Menschen werden möglichst zeitnah physio- und ergothera- peutisch, gegebenenfalls auch logopä- disch und neuropsychologisch gefördert.

Hinzu kommen aktivierende pflegerische Maßnahmen. Ziel ist der Erhalt bezie- hungsweise die Steigerung von Lebens- qualität und Selbstständigkeit. Dies ge- schieht einerseits durch die Therapie akuter und chronischer Erkrankungen, andererseits durch eine gleichzeitige För- derung der funktionellen Fähigkeiten.

Besonderheiten in der Pathophysiolo- gie und der Pharmakologie im Alter werden beachtet.

Die meisten geriatrischen Patienten leiden an zerebro- vaskulär-neurologischen (Schlaganfall, Morbus Par- kinson), kardiovaskulären (Herzinsuffizienz, periphere arterielle Verschlusskrank- heit) und muskuloskeletta- len Erkrankungen (Fraktu- ren nach Sturz, Osteopo- rose). Die gesamte interni- stische Erkrankungspalette ist außerdem anzutreffen.

Häufige Probleme sind ferner Inkontinenz, Visus- schwäche, Hypakusis, ko- gnitive Einschränkungen, Depression, Schmerzen, Schwindel und erhöhter oder erniedrigter Bodymass- Index.

Das Charakteristikum des geriatri- schen Patienten ist neben dem hohen Lebensalter, dass ihm durch eine oder das Zusammenspiel mehrerer Erkrankungen die Einschränkung seiner Alltagsfähig- keit droht oder bereits vorhanden ist. Die Defizite werden bei Behandlungsbeginn mithilfe von Tests und Messskalen im Rahmen eines Assessments erhoben.

Bewertet werden unter anderem Kogni- tion (Mini-Mental-Status nach Folstein, Uhrentest nach Shulmann), Mobilität (Timed „Up and Go“),Emotion (Geriatri- sche Depressionsskala), Wohnsituation, soziale Unterstützung (standardisierter Sozialfragebogen) und Selbstständigkeit

Geriatrie

Für ein selbstbestimmtes Leben im Alter

Die demographische Entwicklung wird die Gesellschaft nachhaltig verändern. Trotzdem ist die

Geriatrie in Deutschland ein Stiefkind der Medizin.

„Auf keinen Fall darf man die Hände in den Schoß legen, nur

weil ein Mensch alt ist.“

Prof. Dr. med. Christof Lucke, ehemaliger Leiter des Geriatrischen Zentrums in Langenhagen

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bei den Verrichtungen des täglichen Le- bens (Barthel-Index).

Dass geriatrische Maßnahmen sinnvoll sind, wurde wissenschaftlich in der Studie

„Projekt Geriatrie des Landes Schles- wig-Holstein“ (1995) nachgewiesen. Der überwiegende Anteil der untersuchten Patienten kam aus der häuslichen Um- gebung zur stationären Aufnahme. Nach geriatrischer Behandlung konnten etwa 70 Prozent der Patienten wieder dorthin zurückkehren. In der nicht-geriatrisch versorgten Kontrollgruppe schafften dies

nur 50 Prozent der Patienten. Dieser posi- tive Effekt setzte sich über die nachbeob- achtete Zeit von 15 Monaten fort. Durch Einsparungen in der Nachversorgung waren die geriatrisch behandelten Patien- ten darüber hinaus kostengünstiger als die aus anderen Fachabteilungen.

Dass eine rehabilitativ-geriatrische Förderung auch bei Hochbetagten effek- tiv ist, zeigt die Studie von Prof. Dr. med.

Christof Lucke und der Soziologin Gisela Clausen (Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, Ausgabe 1/2004). Die un- tersuchte Gruppe der Patienten ab 80 Jahre erreichte den gleichen Zuwachs an Selbsthilfefähigkeit (ausgedrückt im Barthel-Index) wie die Gruppe der 60- bis 79-Jährigen. 91 Prozent der Betag- ten, aber immerhin auch 82 Prozent der Hochbetagten wurden in die häusliche Umgebung entlassen. Unterschied zwi- schen den beiden untersuchten Grup- pen: das Niveau der Selbstständigkeit.

42 Prozent der Hochbetagten benötigte in der häuslichen Umgebung Hilfe, bei den „jungen Alten“ waren es 31 Prozent.

„Nicht jeder alte Mensch, der in eine Geriatrie verlegt wird, hüpft plötzlich aus dem Bett wie aus einem Jungbrun- nen“, betont Studienleiter Lucke. „Auf keinen Fall aber darf man die Hände in den Schoß legen, nur weil ein Mensch alt ist“, so der ehemalige Leiter des Geria- trischen Zentrums Hagenhof in Langen- hagen. „Wichtig ist es, dass schnell gehan- delt wird, wenn es zu einem Knick in der

Lebensgeschichte kommt, beispielsweise durch einen Sturz oder einen Schlag- anfall.“ Sonst kommt es nach Luckes Ansicht schnell zu Sekundärschäden, etwa zu einem Muskelabbau durch lan- ges Liegen.

Die Geriatrie verfolgt nicht nur eine in- terdisziplinäre, sondern auch eine ganz- heitliche Sichtweise,

denn soziale und psy- chische Belange sind von großer Bedeu- tung. Mangelnde so- ziale Unterstützung und Depressionen sind häufige Proble- me. „Ein geriatri- scher Patient braucht

wegen der fachübergreifenden Multimor- bidität ein Gesamtbehandlungskonzept und eine sinnvolle Behandlungspriorisie- rung“, so Dr. med. Norbert Lübke, Leiter des Kompetenz-Zentrums Geriatrie in

Hamburg. Die Einrichtung wurde 2003 gegründet und arbeitet bundesweit im Auftrag der Krankenkassen, dem Medizi- nischen Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) und dem Medi- zinischen Dienst der Krankenkassen (MDK). Eine Behandlungspriorisierung spart Lübke zufolge nicht nur Ressour- cen, sondern ist auch im Interesse des Patienten. Braucht man aber zur Behand- lung alter Menschen Geriater? „Ein Hausarzt ist auch kein Frauenarzt, weil die Hälfte seiner Patienten Frauen sind“, bemerkt Lübke. Der Geriater ist für ihn ein „Case Manager“. Die Geriatrie sieht er als ideales Gebiet für die Integrierte Versorgung.Allerdings gibt es in Deutsch- land bisher kaum Modellprojekte. Einen Grund dafür nennt Prof. Dr. rer. physiol.

Dr. med. Gerald Kolb, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie:

„Wenn Sie meinen, alte Menschen kann jeder behandeln, dann brauchen Sie auch keine Kooperation mit einem Geriater.“

Die nachgeordnete Rolle der Geriatrie spiegelt sich in der medizinischen Ausbil- dung wider. Die Geriatrie ist im univer- sitären Lehrbetrieb unterrepräsentiert und hat im Medizinstudium kaum eine Bedeutung. In Deutschland gibt es zurzeit vier ordentliche C-4-Lehrstühle für Geria- trie: in Bochum, Erlangen, Ulm und Wit- ten-Herdecke. „Gemessen an der Bedeu- tung der Geriatrie und im europäischen Vergleich ist das zu wenig“, betont Kolb.

In den Niederlanden beispielsweise gibt es an allen medizinischen Fakultäten einen Lehrstuhl für Geriatrie.

Die geriatrische Weiterbildung ist im europäischen Ausland überwiegend eine eigene Spezialisierung, die einen „Com- mon Trunk“ der Inneren Medizin bein- haltet, vergleichbar also einem Schwer- punkt. In den Nie- derlanden gibt es zu- dem die Möglichkeit einer Subspezialisie- rung für Ärzte, die bereits eine Speziali- sierung in allgemei- ner Innerer Medizin absolviert haben. In Deutschland sieht die neue (Muster-)Weiterbildungsordnung eine 18-monatige Zusatzweiterbildung

„Geriatrie“ für Ärzte mit Facharztquali- fikation vor. Diese könne theoretisch auch ein Pädiater erwerben und so ad ab- T H E M E N D E R Z E I T

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A1724 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 24⏐⏐17. Juni 2005

„Wichtig ist es, dass schnell gehandelt wird, wenn es zu

einem Knick in der Lebens- geschichte kommt, beipiels-

weise durch einen Sturz oder einen Schlaganfall.“

Prof. Dr. med Christof Lucke Das Bewegungsbad ist zwar kein Jungbrunnen – Studien haben jedoch gezeigt, dass

auch alte und hochbetagte Menschen von einer gezielten physiotherapeutischen För- derung profitieren.

Fotos:EGZ Berlin

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surdum führen, meint Kolb. Er sieht die Geriatrie durch die neue Weiterbildungs- ordnung geschwächt und unterstützt den Vorstoß des Landes Brandenburg. Hier ist eine Weiterbildung zum

Facharzt für „Innere Me- dizin/Schwerpunkt Ge- riatrie“ möglich. Bundes- ärztekammerpräsident Prof. Dr. med. Jörg-Diet- rich Hoppe teilt die Ein- schätzung Kolbs nicht.

Die Geriatrie sieht er durch die Weiterbildungs- ordnung nicht benachtei-

ligt: „Durch die neue (Muster-)Weiter- bildungsordnung ist die Geriatrie erst zu einer führungsfähigen Bezeichnung ge- worden.“

Die Geriatrie-Landschaft in Deutsch- land ist inhomogen. Grundsätzlich lässt sich zwischen stationären, teilstationären und ambulanten Angeboten unterschei- den. Die aktuellste Bestandsaufnahme enthält Daten aus dem Jahr 2000: Die Anzahl stationärer geriatrischer Einrich- tungen betrug nach Angaben der Bun- desregierung 318 (1993 waren es noch 84). Das entsprach 19,4 Betten je 100 000 Einwohner. Von einer Bedarfsdeckung konnte hier nicht gesprochen werden.

Experten empfehlen 50 bis 60 Betten. Die stationären Einrichtungen gliedern sich einerseits nach § 109 SGB V in die geria- trische Akutbehandlung und die geria- trische Frührehabilitation. Andererseits gibt es die geriatrische Rehabilitation nach § 111 SGB V. Von den 318 Einrich- tungen (2000) waren 184 an Kranken- häuser angegliedert, 134 waren geriatri- sche Rehabilitationseinrichtungen.

In welcher Einrichtung ein Patient be- handelt wird, hängt unter anderem davon ab, in welchem Bundesland er lebt. In manchen Ländern gibt es ausschließlich rehabilitative Einrichtungen nach § 111 SGB V, beispielsweise in Rheinland-Pfalz.

Hier soll die akutmedizinische Behand- lung alter Menschen von Fachabteilungen der Krankenhäuser übernommen wer- den, die dann zeitnah die geriatrische Rehabilitation einleiten. Andere Bundes- länder kennen beide Möglichkeiten. In Nordrhein-Westfalen gibt es sowohl Akutgeriatrien als auch Rehabilitations- maßnahmen. Häufig aber ist die Grenze zwischen Krankenhaus- und Rehapatient fließend. In Schleswig-Holstein sind alle

stationären geriatrischen Einrichtungen an Krankenhäuser angegliedert. Die Ver- teilung der geriatrischen Angebote vari- iert erheblich: So hat Hamburg mehr stationäre geriatrische Ein- richtungen als Sachsen- Anhalt und Mecklenburg- Vorpommern zusammen.

Im Jahr 2000 gab es 136 geriatrische Tageskli- niken (13 im Jahr 1993).

Auch diese Zahl ist noch weit von der angestreb- ten Kapazität entfernt.

Im ambulant-rehabilitati- ven Bereich ist die Versorgungslage noch dünner: elf ambulante und zehn mobile ambulante Einrichtungen gab es bundesweit. Das Motto „ambulant vor stationär“ kann schon wegen fehlender Strukturen nicht umgesetzt werden. Von dem Ziel einer adäquaten wohnort- nahen Versorgung alter Menschen ist man noch weit entfernt.

Alfred Hauser hatte Glück im Un- glück: Nach Reposition seiner Totalendo- prothese wurde er in das Evangelische Geriatriezentrum in Berlin-Wedding auf- genommen – eine Einrichtung mit Vor-

bildcharakter. Nicht nur Ergo- und Physio- therapeuten, sondern auch Logopäden und Neuropsychologen sind fester Be- standteil des Teams. Das Zentrum für Akutgeriatrie und Frührehabilitation mit 132 Betten ist durchweg behinderten- gerecht ausgestattet. Keine Türklinke be- findet sich hier auf gewohnter Höhe.Alles scheint bis ins kleinste Detail durchdacht zu sein. Die Stühle haben spezielle Sitzbe- züge. Von der groben Struktur des Stoffes profitieren Patienten mit Sensibilitäts- störungen, die so die Sitzfläche besser

spüren. In einem „Konsil-Raum“ steht ein Zahnarztstuhl zur Verfügung, der speziell für Schlaganfallpatienten konzipiert ist.

Wenn nötig, wird ein neues Gebiss ange- fertigt.Auch Brillen werden ausgemessen, wenn die Patienten durch eine nicht oder unzureichend korrigierte Visusminde- rung stark eingeschränkt sind. Ein Minus- geschäft. „Aber Sie können nicht mit einem hochqualifizierten Team arbeiten und diese Probleme außen vor lassen“, be- tont Prof. Dr. med. Elisabeth Steinhagen- Thiessen, Leiterin der Einrichtung und Vorsitzende der Bundesarbeitsgemein- schaft Klinisch-Geriatrischer Einrichtun- gen e.V. (ein Zusammenschluss von 181 stationären geriatrischen Institutionen).

„Was nutzt die beste Krankengymnastik, wenn der Patient nichts sieht, oder Sprachtherapie, wenn das Gebiss nicht passt?“ so Steinhagen-Thiessen weiter.

Im Keller befindet sich die gut aus- gestattete Physiotherapie-Abteilung mit einem großzügig angelegten Bewegungs- bad. Auch einen Garten gibt es. Hier verbringt Hauser gerne die freie Zeit zwischen den Therapieeinheiten mit sei- ner Frau. Eine Tagesklinik mit 40 Betten ist dem Geriatriezentrum angeschlossen.

Hauser wird dieses Angebot im Anschluss an den statio- nären Aufenthalt nutzen, um den „Ernstfall“ zu proben:

tagsüber in der teilstationären Einrichtung, nachts zu Hause.

Nicht alle Geriatrien sind so umfassend ausgestattet wie das Zentrum in Wedding.

Der Geriatrie in Deutschland fehlen bisher homogene Strukturen und einheitliche Qualitätsstandards. Das Bun- desministerium für Gesund- heit und Soziale Sicherung unterstützt seit 1996 ein auf zehn Jahre befristetes Modellprojekt der Bundesarbeitsgemeinschaft Kli- nisch-Geriatrischer Einrichtungen und des Evangelischen Geriatriezentrums Berlin. Das Projekt ermöglicht das Ler- nen von anderen und Orientierung an der besten Praxis (Benchmarking) und soll zu einer nachhaltigen Verbesserung der Patientenversorgung führen. Es kon- zentriert sich auf die Problembereiche Stürze, Mangelernährung und Schmer- zen. Was aber nützt eine gute Qualität, wenn die Kapazitäten wegbrechen?

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A1726 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 24⏐⏐17. Juni 2005

Der alte Mensch hat einen Anspruch auf ein eigenständiges und selbstbestimmtes

Leben.

Aus den „Rahmenempfehlungen zur ambulanten geriatrischen Rehabilitation“ der Spitzenverbände

der Krankenkassen

Vergessene Krankheit: Bei einem Drittel der Sturzpatien- ten im Evangelischen Geriatriezentrum Berlin (EGZB) erfolgt die Erstdiagnose einer bereits manifesten Demenz.

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Seit der Bestandsaufnahme geriatri- scher Einrichtungen im Jahr 2000 hat sich im Gesundheitswesen vieles verändert.

Die Einführung des DRG-Systems hat auch in der Geriatrie Spuren hinterlas- sen. Grundsätzlich ist es schwierig, den geriatrischen Patienten mit einer Vielzahl gesundheitlicher Probleme kostenadä- quat in einer Diagnosegruppe abzubil- den. Klar ist, dass die Hauptdiagnose nicht immer den Aufwand angemessen widerspiegelt. Immerhin hat die „geriatri- sche Komplexbehandlung“ einen Platz im DRG-System gefunden. Sie kann ab- gerechnet werden, wenn unter anderem ein definiertes Assessment und be- stimmte Therapieeinheiten durchgeführt wurden. Nach Meinung von Experten je- doch ist die Einführung weiterer speziel- ler Fallpauschalen für die Geriatrie nötig.

Die Rehabilitationseinrichtungen sind zwar nicht direkt vom neuen Abrech- nungssystem betroffen. Kürzere Liege- zeiten im vorbehandelnden Kranken- haus bewirken allerdings, dass die Patien- ten in der medizinischen Rehabilitation in einem weniger stabilen Zustand ein- treffen und einen höheren Aufwand er- fordern. Gleichzeitig sinken Liegezeiten und Tagespflegesätze. Die Exi-

stenz zahlreicher Rehabilitati- onskliniken ist bedroht.

In den nächsten zehn Jahren wird mit einer Schließung von rund 200 der etwa 2 190 Kran- kenhäuser in Deutschland ge- rechnet. Davon dürften auch Geriatrien nicht verschont bleiben. Mit einem Ausbau der Versorgungsstrukturen kann demnach kaum gerechnet wer- den, auch wenn es Tatsache ist, dass durch eine gezielte Förde- rung alter Menschen Kosten gespart werden. Bundesärzte- kammerpräsident Hoppe be- tonte gegenüber dem Deut- schen Ärzteblatt die Wichtig-

keit der Altersmedizin: „Es wäre ein Jammer, wenn die Geriatrie durch eine verfehlte Finanzierungspolitik in Gefahr gerät.“ Alte Menschen bedürften einer speziell auf sie ausgerichteten Therapie, die andere Abteilungen in der Regel nicht bieten könnten.

Die Spitzenverbände der Krankenkas- sen haben bereits 1995 eine „Rahmen- konzeption zur Entwicklung der geriatri-

schen Rehabilitation in der Gesetzlichen Krankenversicherung“ entworfen. Sie sprechen sich für wohnortnahe und früh- zeitige Rehabilitationsmaßnahmen aus.

Auch bei bereits manifestierter Pflegebe- dürftigkeit sei die Rehabilitationsfähig- keit zu prüfen. 2004 legten die Spitzen- verbände die Rahmenempfehlungen zur ambulanten geriatrischen

Rehabilitation vor. „Der alte Mensch hat einen Anspruch auf ein eigen- ständiges, selbstbestimm- tes Leben“, heißt es in der Präambel. Peter Schnelle aus der Abteilung Reha- bilitation und Pflegeversi- cherung des BKK-Bundes- verbandes erwartet auf-

grund der Rahmenempfehlungen einen Zuwachs ambulanter Angebote.Aktuelle Zahlen dazu gibt es nicht.

Eine Neuerung im ambulanten ärzt- lichen Bereich ergibt sich durch die Einführung des EBM 2000plus. Das

„hausärztlich-geriatrische Basisassess- ment“ wird als Nummer 03341 mit 350 Punkten bewertet. Der Wuppertaler All- gemeinmediziner und Geriater Bernd

Zimmer wertet diese Entwicklung als

„gewaltigen Erfolg“, da es zuvor im am- bulanten Bereich gar keine Möglichkeit gegeben habe, solche geriatrischen Maß- nahmen abzurechnen. Im Rahmen einer zertifizierten Fortbildung des Deutschen Hausärzteverbandes haben Zimmer und 30 weitere Geriater bundesweit etwa 2 500 Hausärzte im Umgang mit dem Assessment unterwiesen.

Trotz einzelner guter Ansätze ist ei- nes klar: Die Geriatrie benötigt eine einheitliche Strategie und eine Verzah- nung ambulanter und stationärer Ange- bote. Ein Geriatriekonzept fehlt aber nicht nur in zahlreichen Bundesländern.

Auch auf Bundesebene gibt es keine Empfehlung, wie der alternden Gesell- schaft begegnet werden kann. Bundesgesundheits- ministerin Ulla Schmidt setzt offenbar auf gesun- des Altern, eine lebens- lange Prävention. Die Vorstellung, Krankheit und Pflegebedürftigkeit im hohen Alter durch Prävention merklich ein- zudämmen, erscheint je- doch utopisch. Dadurch, dass gerade die Bevölkerungsgruppe der Hochbetagten wächst, wird sich auch die Anzahl hilfs- bedürftiger Multimorbider spürbar er- höhen. Nicht alle werden bis kurz vor ihrem Tod gesund und aktiv sein. Ein weiteres ungelöstes Problem ist die Ver- sorgung Demenzkranker. Bereits heute leben in Deutschland eine Million De- mente. Im Jahr 2050 werden es voraus- sichtlich doppelt so viele sein. Die Früherkennung und Behandlung seniler Demenz steckt hingegen noch in den Kinderschuhen, und nicht bei allen Menschen wird das Konzept des aktiven Alterns aufgehen. „Man reagiert erst, wenn die Katastrophe schon da ist“, meint dazu Gerald Kolb, denn die Zah- len seien der Politik lange bekannt.

Alfred Hauser konnte unterdessen in die häusliche Umgebung zu seiner Ehe- frau zurückkehren. Längere Strecken kann er inzwischen mit dem Rollator zurücklegen. Kraft und Gangsicherheit haben deutlich zugenommen. Das Ge- hen mit zwei Unterarmgehstützen ist zwar sicherer geworden, aber noch im- mer etwas wackelig. Defizite hat der Pa- tient noch bei den Verrichtungen des täglichen Lebens. Nach wie vor braucht er Hilfe bei der Versorgung des Unter- körpers. Dies wird seine Ehefrau über- nehmen. Auf der Treppe benötigt er kei- ne Hilfe oder Begleitung mehr. So wird Hauser selbstständig seine Wohnung verlassen können und nicht in der ersten Etage „gefangen“ sein, wie er sagt.

Selbstständigkeit bedeutet Selbstbe- stimmung. Dr. med. Birgit Hibbeler T H E M E N D E R Z E I T

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A1728 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 24⏐⏐17. Juni 2005

„Es wäre ein Jammer, wenn die Geriatrie durch eine

verfehlte Finanzie- rungspolitik in Gefahr gerät.“

Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, Bundesärztekammerpräsident

Zurück ins alte Leben: Etwa 80 Prozent der Patienten können nach Behandlung im EGZB in ihre häusliche Um- gebung zurückkehren.

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