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WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER ETHISCHE HERAUSFORDERUNGEN IN DER PFLEGE UND BETREUUNG VON MENSCHEN IM ALTER

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WÜRDE UND AUTONOMIE IM ALTER

ETHISCHE HERAUSFORDERUNGEN IN DER PFLEGE UND BETREUUNG VON MENSCHEN IM ALTER

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AUTOR

Dr. Heinz Rüegger MAE ist Theologe, Ethiker und zerti- fizierter Gerontologe INAG. Er ist freier Mitarbeiter am Institut Neumünster, Zollikerberg, und assoziiertes Mitglied des Zentrums für Gerontologie der Universi- tät Zürich.

Anschrift

E-Mail: h.rueegger@outlook.com

IMPRESSUM Herausgeber

CURAVIVA Schweiz – Fachbereich Menschen im Alter Zieglerstrasse 53

Postfach 1003 3000 Bern 14 Zitierweise

CURAVIVA Schweiz (2021)

Themenheft: Würde und Autonomie im Alter

Hrsg. CURAVIVA Schweiz, Fachbereich Menschen im Alter Online: curaviva.ch.

Auskünfte/Informationen

Anna Jörger, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachbereich Menschen im Alter

E-Mail: a.joerger@curaviva.ch

© CURAVIVA Schweiz, 2021

Copyright Titelbild: iStockphoto, © Tamara Murray Layout: !Frappant, Bern

Ausgabe: Mai 2021

Aus Gründen der Verständlichkeit wird im Text bei genderspezifischen Begriffen abwechselnd die männliche und die weibliche Form verwendet. Es sind dabei aber immer beide Geschlechter gemeint.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort 4

1 Zur Bedeutung des Thema6 6

2. Alter und Würde 10

2.1 Die schleichende Entwürdigung des Alters 11

2.2 Der doppelte Würdebegriff 12

2.3 Lebensqualität und Menschenwürde 18

2.4 Nichtdiskriminierung des Alters 19

2.5 Zum Wunsch nach einem Sterben in Würde 20

3 Autonomie im Alter 22

3.1 Der heutige Stellenwert von Autonomie 23 3.2 Differenzierungen des Autonomiebegriffs 24 3.3 Autonomie fördernde Gestaltung des Heimalltags 25 3.4 Autonomie als medizinethisches Grundprinzip 31 3.5 Das Instrument der Patientenverfügung 35

3.6 Stellvertretendes Entscheiden 37

3.7 Grenzen der Selbstbestimmung 38

3.8 Selbstbestimmtes Sterben 41

4 Anhang 44

4.1 Literaturhinweise 45

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Vorwort

ERSTE AUFLAGE Liebe Leserin, lieber Leser

Würde und Autonomie sind zwei grundlegende ethi- sche Begriffe zur Charakterisierung eines humanen Le- bens. Sie gelten für jedes Leben, auch für das Leben im Alter. Dieses Anliegen verfolgt auch die Strategie für eine schweizerische Alterspolitik. Sie verlangt als Stand- bein der strategischen Ausrichtung für die älteren Men- schen die «Förderung ihrer Autonomie, ihrer Selbstver- sorgung und ihrer Selbstbestimmung» (Bericht des Bundesrates 2007: 45).

Autonomie und Selbstbestimmung sind verankert in der unverlierbaren Menschenwürde. Weil diese beiden Orientierungsgrössen unabdingbar zusammengehö- ren, werden sie in diesem Themenheft gemeinsam be- handelt.

Würde und Selbstbestimmung müssen besonders ge- schützt werden, wenn Menschen durch gesundheit liche Einschränkungen ihre Autonomiefähigkeit ganz oder teilweise verlieren. Dies betrifft in besonderer Weise die Situation von Bewohnerinnen und Bewohnern in Pfle- geheimen.

In diesem Themenheft werden die beiden grundlegen- den ethischen Begriffe erklärt und verständlich ge- macht. Zudem wird aufgezeigt, wie sie in der alltägli- chen Praxis von Pflegeeinrichtungen konkret umgesetzt werden können. Angesprochen sind einerseits die Ver- antwortlichen dieser Institutionen, die durch ihre Inter- ventionen und Massnahmen die Kultur ihrer Institution massgebend beeinflussen. Zu den einzelnen Anliegen und Themen finden sich darum verschiedene Reflexi- onsfragen. Sie können in betriebsinternen Entwick-

lungsprozessen und zur Reflexion der alltäglichen Ar- beit in Teambesprechungen eingesetzt werden. Als Leserinnen und Leser wünschen wir uns aber anderseits auch Lehrende, die die hier angesprochenen Inhalte wei- tervermitteln, sowie die Pflegenden selbst. Sie sind es vornehmlich, die dazu beitragen, dass ältere, pflegebe- dürftige Menschen sich in ihrer Würde respektiert und in ihrer Selbstbestimmung unterstützt erfahren kön- nen. Die Publikation vertieft und konkretisiert die Postu- late, welche in der «Charta der Zivilgesellschaft: Zum würdigen Umgang mit älteren Menschen» (CURAVIVA Schweiz 2010) festgelegt wurden.

Erarbeitet wurde das vorliegende Themenheft vom Theologen, Ethiker und Gerontologen Heinz Rüegger. In einer Resonanzgruppe von leitenden Personen aus der Branche der Alters- und Pflegeheime wurden die zentra- len Fragestellungen gemeinsam festgelegt. Zudem wur- den zum Text in zwei Stufen Rückmeldungen gemacht.

So entstand ein Werk, das die theoretischen Grundlagen und die konkrete Praxis miteinander verbindet.

Ich danke sowohl Heinz Rüegger wie auch den Mitglie- dern der Resonanzgruppe ganz herzlich für ihr grosses Engagement und den spannenden Erarbeitungspro- zess. Mit diesem Dank verbinde ich den Wunsch, dass die erarbeiteten Anregungen und Anstösse jetzt im konkre- ten Alltag der Alters- und Pflegeinstitutionen breit zum Tragen kommen.

Herbst 2012

Christoph Schmid, CURAVIVA Schweiz

(5)

ZWEITE AUFLAGE

Der Autor Heinz Rüegger hat im Jahr 2021 im Auftrag von CURAVIVA Schweiz die bald 10-jährige Ausgabe der ersten Auflage überarbeitet und aktualisiert.

Würde und Selbstbestimmung im hohen und vor al- lem multimorbiden Alter sind wesentliche Inhalte, welche die Lebensqualität bis zum Tode auf höchste Weise beeinflussen. Sie sind jedoch keine starren Be- griffe, sondern wandeln sich einerseits im Laufe der Zeit und müssen andererseits immer wieder auf dem Hintergrund der alltäglichen Arbeit mit älteren Men- schen reflektiert werden.

Die zweite Auflage greift den Wandel und die Diskus- sion auf und sorgt für eine weitere Differenzierung der Thematik. Wir danken Heinz Rüegger für seinen wert- vollen Beitrag und wünschen allen eine angenehme und auch anregende Lektüre der vorliegenden Doku- mentation. Mögen die Inhalte zum Nachdenken und Reflektieren für das eigene Älterwerden, aber auch für die Arbeit mit Menschen im Alter dienen.

Frühjahr 2021

Dr. Markus Leser, CURAVIVA Schweiz

(6)

Einleitung

1 Zur Bedeutung des Themas

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HERAUSFORDERUNG LANGLEBIGKEIT

Eine der grössten Errungenschaften unserer moder- nen Zivilisation besteht in der enormen Zunahme der durchschnittlichen Lebenserwartung (zum Folgenden vgl. HUBER/RÜEGGER 2013: 3f.). Lag diese bei Men- schen, die im Jahr 1900 geboren wurden, noch bei 46,2 Jahren für Männer und 48,9 Jahren für Frauen, betrug sie 2019 bereits 81,9 bzw. 85,6 Jahre (BFS). Das bedeu- tet eine Steigerung der durchschnittlichen Lebenser- wartung in gut einem Jahrhundert um über 30 Jahre!

Langlebigkeit wird zu einem markanten Phänomen unserer Zeit. Sie wird zu einer zentralen biografischen Herausforderung für das Individuum und zur vielleicht grössten sozialpolitischen Herausforderung für die Gesellschaft als Ganzes. Durch den gleichzeitigen Rückgang der Anzahl Geburten kommt es zu einer demografischen Alterung der Bevölkerung: Immer weniger Junge stehen immer mehr Alten gegenüber.

Verdankte sich die markante Steigerung der durch- schnittlichen Lebenserwartung anfänglich primär dem Rückgang der Kindersterblichkeit, ist sie heute vor allem Folge der Verlängerung der Lebenserwartung der Hochaltrigen. Die Zukunft des Alters ist darum vor allem eine Zukunft der Hochaltrigen (BALTES 2001:

345). Sie stellen diejenige Bevölkerungsgruppe dar, die verhältnismässig am stärksten wächst.

Bei dieser Entwicklung hin zu einer Gesellschaft des langen Lebens kann erfreulicherweise festgehalten werden, dass die erfolgte Zunahme an Lebensjahren mehrheitlich eine Zunahme relativ gesunder, be- hinderungsfreier Jahre bedeutet (HÖPFLINGER/BAYER/

ZUMBRUNN 2011: 33–37). Nach der These des Stanfor- der Mediziners JAMES F. FRIES zeichnet sich eine «Kom- pression der Morbidität» ab, das heisst eine Auswei- tung der gesunden, behinderungsfreien Lebensjahre im Alter, auf die dann eine letzte, kürzere Phase der Multimorbidität folgt, in der jemand an mehreren Krankheiten gleichzeitig leidet, die schliesslich zum Tode führen (FRIES 1980).

ZUNAHME ALTERSBEDINGTER MORBIDITÄT UND PFLEGEBEDÜRFTIGKEIT

Mit der Zunahme der Zahl hochaltriger Menschen und damit der Zunahme der Multimorbidität steigt aller- dings der Bedarf an Hilfe bei der praktischen Bewälti- gung des Alltags und die Abhängigkeit von medizi- nisch-pflegerischer Betreuung nimmt zu. Wenn die Unterstützung durch das soziale Umfeld und durch ambulante Dienste nicht mehr ausreicht, um selbst- ständig zu wohnen, wird der – häufig unfreiwillige – Umzug in eine Wohn- und Pflegeeinrichtung für alte Menschen meist unumgänglich. Für die Schweiz gilt, dass «die Betreuungsrate (Anteil an Bewohnern von Alters- und Pflegeheimen an der gesamten Wohnbe- völkerung) erst ab dem Alter von 80 Jahren einen deut- lichen Anstieg zeigt. Von den 80- bis 84-Jährigen leben noch gut 90 % zuhause, aber anschliessend steigt eine stationäre Versorgung rasch an, und wer ein hohes Al- ter von 95 Jahren und mehr erreicht, lebt zu gut 45% in einer Alters- und Pflegeeinrichtung» (HÖPFLINGER/

BAYER-OGLESBY/ZUMBRUNN 2011: 97).

Die Zunahme der Pflegebedürftigkeit und der sich auf- drängende Schritt in eine kollektive, betreute Lebens- form wird von den meisten Betroffenen als gravieren- der Einschnitt erlebt, oft verbunden mit mancherlei Ängsten, dadurch einen beträchtlichen Verlust an Frei- heit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung hinneh- men zu müssen. Vor allem wenn sich zu den körper- lichen Einschränkungen noch eine demenzielle Entwicklung einstellt, sind alte Menschen immer mehr auf die respektvolle Fürsorge und Unterstützung durch andere angewiesen. Dies bedeutet nicht selten, dass schwerwiegende Behandlungsentscheide mit weitreichenden Konsequenzen im Blick auf Leben und Tod stellvertretend für einen nicht mehr urteilsfähi- gen alten Menschen gefällt werden müssen. Ange- sichts solcher Situationen, in denen Menschen in hohem Masse verletzlich, manipulierbar und der Be- handlung durch ihr Umfeld ausgeliefert sind, stellt sich besonders dringlich die Frage, wie sichergestellt werden kann, dass die unantastbare Würde jedes Men- schen und sein bleibender Anspruch auf Autonomie respektiert werden (SCHMITT-MANNHART 2009: 253–

255).

(8)

LATENTE UND MANIFESTE FORMEN VON ABWERTUNG DES ALTERS

Diese Frage ist umso wichtiger, weil in weiten Kreisen der Bevölkerung und selbst bei Fachexperten die Ten- denz festzustellen ist, ein Leben im hohen Alter, das gezeichnet ist von Multimorbidität, Demenz und star- ker Pflegeabhängigkeit, als sinn- und würdelos und da- mit letztlich als unerwünscht anzusehen. Die sich da- rin abzeichnende Tendenz einer latenten, zuweilen auch manifesten Abwertung und Entwürdigung des Alters erfährt dadurch noch eine Verstärkung, dass sich parallel zur Entwicklung moderner Langlebigkeit eine breite Anti-Aging-Strömung entwickelt hat. Mit ihrem Slogan «forever young» huldigt sie einem Ju- gendlichkeitskult und erklärt den Prozess des Alterns mit seinen vielfältigen Erscheinungsformen als patho- logisch, als zu bekämpfende und wenn möglich zu überwindende Krankheit (DE GREY/RAE 2010; PFALLER 2016). Das heisst: Die heutige Gesellschaft unterliegt einer ausgeprägten demografischen Alterung, wäh- rend man gleichzeitig im Blick auf die Würdigung des Alters durch die Gesellschaft mit dem amerikanischen Psychoanalytiker JAMES HILLMAN feststellen muss:

«Je länger wir leben, desto weniger sind wir wert»

(HILLMAN 2001: 52). Oder anders gesagt: «Langlebig- keit und Gesundheit bis ins hohe Alter werden zwar von der Gesellschaft und der Medizin gefördert, der Prozess des Alterns aber eher verdrängt, bekämpft oder verleugnet als gestaltet und begleitet» (SCHMITT- MANNHART 2009: 254).

Auf diesem Hintergrund wendet sich die vorliegende Schrift den beiden ethischen Grundkonzepten der Würde und der Autonomie zu, die entscheidend sind für eine humane Behandlung und Betreuung von al- ten Menschen. Diese beiden Konzepte werden in ihrer Bedeutung erklärt und es wird aufgezeigt, wie sie in der alltäglichen Praxis von Alters- und Pflegeeinrich- tungen als Kriterien verantwortlichen Handelns ange- wandt werden können. Ziel ist, Anregungen zu geben, wie die Praxis im Heimalltag so gestaltet werden kann, dass Menschen sich – entgegen manchen Klischees vom Leben in einem Pflegeheim – in ihrer Würde res- pektiert und in ihrer Selbstbestimmung unterstützt erfahren können.

Insofern greifen die nachfolgenden Überlegungen zwei der drei grossen Zielsetzungen einer Sozialpolitik des Alterns auf, die der eidgenössische Altersbericht von 1995 formuliert hat:

Die drei grossen Zielsetzungen einer Sozialpolitik des Alterns

1) Die Menschen von jung auf ermuntern, ihre Auto- nomie zu leben und dabei Freiheit und Ver- antwortung in einer Form zu gebrauchen, die den Menschen als Mit-Menschen auszeichnet.

2) Mit dem Altern den Respekt vor der Autonomie fördern, sie erhalten und stärken.

3) Das Individuum unter allen Umständen (insbe- sondere beim Verlust der Autonomie) auf- grund seiner ontologischen Menschenwürde als Mit-Mensch anerkennen und respektieren.

(Altern 1995: 13)

Zugleich versteht sich die vorliegende Schrift als Ver- tiefung und Konkretisierung dessen, was im Jahr 2010 von acht nationalen, in der Altersarbeit tätigen Dach- verbänden in der «Charta der Zivilgesellschaft: Zum würdigen Umgang mit älteren Menschen» postuliert worden ist (CURAVIVA SCHWEIZ 2010).

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Alter und Würde

2

(10)

Es ist eigenartig, dass alt werden (der Prozess des Al- terns) und alt sein (die Lebensphase des Alters) ausge- rechnet heute vielen unattraktiv erscheint, wo doch ein Grossteil der Bevölkerung zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die reale Möglichkeit hat, alt, ja hochaltrig zu werden! Die Schriftstellerin MO- NIKA MARON spricht wohl vielen aus dem Herzen, wenn sie bekennt: «Natürlich will ich, was alle wollen:

Ich will lange leben; und natürlich will ich nicht, was alle nicht wollen: Ich will nicht alt werden. (…) Ich würde … auf das Alter lieber verzichten. Einmal bis fünfundvierzig und ab dann pendeln zwischen Mitte dreissig … und Mitte vierzig, bis die Jahre abgelaufen sind; so hätte ich die mir zustehende Zeit gerne in An- spruch genommen» (MARON 2002: 22, 26).

ANTI-AGING

Diese populäre, ablehnende Einstellung gegenüber dem Alter findet in der sich rasch ausbreitenden Anti- Aging-Bewegung Unterstützung (RÜEGGER 2011). In ihren radikalen Vertretern führt sie einen leidenschaft- lichen «Krieg gegen das Altern» (DE GREY 2010: 325).

Ihr berühmtester Exponent, AUBREY DE GREY, hat er- klärt, Altern sei barbarisch und sollte deshalb seiner Meinung nach nicht erlaubt sein (zit. STUCKELBERGER 2008: 233). Moderater tritt demgegenüber die Anti- Aging-Medizin auf, die sich neuerdings auch in der klassischen europäischen Schulmedizin etabliert hat (JACOBI 2005). In ihren seriösen Vertretern lehnt Anti- Aging-Medizin nicht eigentlich das Altern als solches ab, sondern will bloss vorbeugend oder therapeutisch altersbedingte Krankheiten abwehren, also ein «Good Aging» oder «Healthy Aging» oder «Better Aging» er- möglichen (STUCKELBERGER 2008: 45–78). Dass sie dies aber irritierenderweise unter der Fahne des «Anti- Agings» tut, also in einer Haltung, die sich explizit «ge- gen das Altern» richtet, wird seine Wirkung in der Öf- fentlichkeit nicht verfehlen und einem latenten gesellschaftlichen Ageismus, also einer Altersdiskrimi- nierung, Vorschub leisten.

MENSCHENUNWÜRDIGES ALTERN BEI DEMENZ?

Zur schleichenden Entwürdigung des Alters trägt noch eine weitere Entwicklung bei. Es gibt heute namhafte

Stimmen auf gerontologischer wie auf ethischer Seite, die davon ausgehen, dass alte Menschen, die an einer Demenz erkranken, im Verlauf dieser Erkrankung auch ihre Würde verlieren. So war PAUL B. BALTES, der grosse Gerontopsychologe des letzten Jahrhunderts, der Mei- nung, dass Demenzerkrankungen einen «schleichen- den Verlust vieler Grundeigenschaften des Homo sapiens wie etwa Intentionalität, Selbstständigkeit, Identität und soziale Eingebundenheit bedeuten – Ei- genschaften, die wesentlich die menschliche Würde bestimmen. (…) Angesichts dieser Tatsache stellt sich eine neue, beängstigende Herausforderung: die Erhal- tung der menschlichen Würde in den späten Jahren des Lebens. (Denn) gesundes und menschenwürdiges Altern hat seine Grenzen» (BALTES 2003: 17) –, wenn nicht pharmakologische Fortschritte und medizini- sche Interventionen bald etwas Wirksames gegen De- menz unternehmen können! Hier wird ein Würde- verständnis propagiert, demzufolge die Würde eines Menschen empirisch bedingt ist; das heisst, sie hängt davon ab, ob die entsprechende Person über gewisse Eigenschaften oder Fähigkeiten verfügt, die ihr zualler- erst Würde vermitteln. Kann sie nicht mehr klar den- ken, selber für sich sorgen und sich sozial kompetent verhalten, verliert sie ihre Würde und gerät in die Situ- ation eines menschenunwürdigen Alterns.

RELATIVIERUNG DER PERSONWÜRDE

Ähnliche Konsequenzen ergeben sich aus den Überle- gungen des australischen Ethikers PETER SINGER. Er unterscheidet zwischen Menschen und Personen.

Mensch ist, wer zur Gattung Homo sapiens gehört.

Personen hingegen sind Lebewesen (ob Menschen oder höher entwickelte Tiere!), die über gewisse geis- tige Fähigkeiten verfügen wie: «Selbstbewusstsein, Selbstkontrolle, Sinn für Zukunft, Sinn für Vergangen- heit, die Fähigkeit, mit anderen Beziehungen zu knüp- fen, sich um andere zu kümmern, Kommunikation und Neugier» (SINGER 1994: 118). Nur ihnen kommt eine Personwürde (im Sinne der Menschenwürde) und ein entsprechendes Recht auf absoluten Lebensschutz zu.

Das heisst: «Die Tatsache, dass ein Wesen ein mensch- liches Wesen … ist, (ist) für die Unrechtmässigkeit sei- ner Tötung ohne Bedeutung; entscheidend sind viel- mehr Eigenschaften wie Rationalität, Autonomie und

2.1 Die schleichende Entwürdigung des Alters

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Will man angemessen von der Würde des Menschen sprechen, ist es nötig, zwei Arten von Würde zu unter- scheiden (RÜEGGER 2004, WERREN 2019).

NORMATIVE MENSCHENWÜRDE

Im klassischen, seit Immanuel Kant ausformulierten und seit Mitte des letzten Jahrhunderts auch völker- rechtlich anerkannten Sinn bezeichnet Menschen- würde einen absoluten Wert, der jedem menschlichen Wesen eigen ist und allen Menschen gleichermassen zukommt – völlig unabhängig von irgendwelchen em- pirisch gegebenen Faktoren wie sozialem Status oder Geschlecht, Rasse oder Religion, Gesundheit oder Krankheit, Reichtum oder Armut, Fähigkeiten, äusse- ren Lebensumständen oder vollbrachten Taten. Ein- fach weil sie Menschen sind, haben alle Mitglieder der

menschlichen Gemeinschaft eine unverlierbare Würde und einen sich daraus ergebenden Anspruch auf Ach- tung. «Menschenwürde ist das mit dem Dasein als Mensch gegebene Anrecht auf Achtung als Mensch»

(HÄRLE, Würde 2010: 14). Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 for- muliert: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.» Das ist die egalisierende Funk- tion des normativen Menschenwürdebegriffs.

Es handelt sich also um eine «angeborene», vorgege- bene und deshalb unantastbare Würde, die an keine Bedingungen geknüpft ist, sondern unbedingt gilt.

Man braucht sie sich nicht erst zu erringen. «Würde kommt Personen … zu, ohne dass sie dafür etwas ge- tan haben» (SCHABER 2012, 27). Man kann sie auch nie Selbstbewusstsein. Säuglinge haben diese Eigenschaf-

ten nicht. Sie zu töten, kann daher nicht gleichgesetzt werden mit der Tötung normaler menschlicher We- sen.» Diese Überlegungen gelten nach Singer auch für Erwachsene, die sich auf der Reifestufe eines Säuglings befinden (ebd.: 232f.). Demenzkranke Menschen in fortgeschrittenem Stadium dürften also ihren morali- schen Status als Person und ihre menschliche Würde verlieren, weshalb sie nach SINGER grundsätzlich auch ohne ihre zuvor erfolgte Einwilligung getötet werden dürften (ebd.: 244–246).

Durch solche Entwicklungen findet in unserer Gesell- schaft eine schleichende Entwürdigung des Alters, vor allem des kranken, stark pflegeabhängigen und von Demenz betroffenen hohen Alters, statt, die nachdenk- lich stimmt (RÜEGGER 2009). Während rechtsstaatli- che Verfassungen die Menschenwürde als oberstes, absolutes ethisches Grundprinzip proklamieren, voll-

zieht sich in unserer Einstellung zu Fragen rund um Al- ter, Multimorbidität, Pflegebedürftigkeit, Behinderung und Sterben eine Relativierung des Würdeverständnis- ses und des daraus sich ergebenden Lebensschutzes (PICKER 2002). Es wundert nicht, wenn in einem sol- chen gesellschaftlichen Klima Fälle von Tötungen be- kannt werden, die Pflegende in Altersinstitutionen an Bewohnerinnen und Bewohnern begangen haben, oder Fälle von entwürdigender Behandlung, die sie sich Patientinnen und Patienten gegenüber erlaubt haben. Und es erstaunt nicht, dass immer mehr ältere Leute mit einem begleiteten Suizid ihr Leben beenden wollen, um so die Phase des kranken, pflegeabhängi- gen Alters zu verkürzen. Deshalb ist es wichtig, sich die zentrale Bedeutung klar zu machen, die die im Recht und in den Berufsethiken des Sozial- und Gesundheits- wesens enthaltenen Konzepte von Würde und Autono- mie für den Umgang mit Menschen in Alters- und Pfle- geeinrichtungen besitzen.

2.2 Der doppelte Würdebegriff

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verlieren. Sie kann zwar von anderen Menschen miss- achtet oder verletzt werden: in der Pflege etwa durch Missachtung der Intimsphäre, durch gewalttätige Übergriffe, durch Nichtrespektierung des Patienten- willens oder durch Respektlosigkeit im Umgang mit Pflegebedürftigen. Aber auch verletzte Würde bleibt Würde, die ihrem Träger und ihrer Trägerin ein bleiben- des Anrecht auf Achtung als Mensch verleiht.

Bezeichnend für dieses Verständnis von menschlicher Würde ist,

–dass sie menschlichem Leben inhärent, also wesens- mässig eigen ist;

–dass sie einen normativen Anspruch darstellt, der unabhängig ist von allen empirischen Lebensum- ständen;

–dass sie an keine Bedingungen oder Voraussetzun- gen geknüpft ist und darum unbedingt gilt;

–dass sie allen Menschen gleich zukommt und –dass sie unverlierbar ist.

Inhaltlich beinhaltet die Menschenwürde – auf eine einfache Formel gebracht – einen vierfachen An- spruch:

Dem Konzept der Menschenwürde ist gelegentlich vorgeworfen worden, es sei inhaltlich diffus, «eine nichts sagende Leerformel» (NORBERT HOERSTER) und deswegen ethisch wenig brauchbar. Dem ist entge- genzuhalten, dass das Konzept Menschenwürde zwar gewiss nicht alle ethischen Begründungsprobleme

löst, aber doch weltweit über unterschiedliche Kultu- ren und ethische Ansätze hinweg eine zentrale Be- deutung gewonnen hat und «einen übergreifenden Konsens … darstellt. (...) Es ist ein fundamental men- schendienliches Prinzip, ... sodass auch in pluralisti- schen Gesellschaften davon ausgegangen werden kann, dass das Prinzip der Menschenwürde ein Prinzip darstellt, dem praktisch alle zustimmen können»

(KNOEPFFLER 2004: 10, 90). In welchem Sinne sich aus diesem normativen Würdeverständnis durchaus pra- xisrelevante Perspektiven ergeben, können die Fragen auf den Seiten 17 bis 18 verdeutlichen.

Versteht man Würde im oben beschriebenen normati- ven Sinne dieses vierfachen Anspruchs, ergibt sich da- raus durchaus eine hilfreiche und praktisch relevante ethische Grundorientierung für soziales Handeln.

Zwar können aus ihr nicht immer eindeutige, direkte Handlungsanweisungen abgeleitet werden; aber es ist doch ein Kriterium, vor dem sich alles moralische Handeln und jede ethische Argumentation rechtferti- gen müssen. In diesem Sinne erweist sich das Konzept der Menschenwürde im Umgang mit alten, zumal hochaltrigen, pflegebedürftigen Menschen als wirksa- mes Schutzprinzip und als Fundament für eine hu- mane Kultur des würdigen Umgangs mit älteren Men- schen (CURAVIVA SCHWEIZ 2010). «Würde wird zu einem Grundbegriff einer Moral der Achtung» (SCHA- BER 2012: 39).

Das beschriebene normative Verständnis von Men- schenwürde ist nicht zuletzt deshalb so zentral, weil sich von ihm die Menschenrechte herleiten. Aus der Menschenwürde ergibt sich der Anspruch auf die Menschenrechte. Darin liegt auch die zentrale Schutz- funktion der Menschenwürde. Umgekehrt gilt: Wer je- mandem die volle Menschenwürde abspricht, entzieht dieser Person damit zugleich die Grundlage ihres An- spruchs auf die Menschenrechte.

Auf dem Hintergrund dieses rechtlich und berufs- ethisch weithin anerkannten normativen Würdever- ständnisses dürfte auch deutlich werden, wie fatal die Auswirkungen für alte, insbesondere hochaltrige, pfle- gebedürftige Menschen wären, wenn das bereits in Menschenwürde umfasst einen Anspruch

–auf Schutz von Leib und Leben, also den Schutz der persönlichen Integrität (gegen Zufügung von Schmerzen, gegen Tötung)

–auf Selbstbestimmung bzw. Autonomie (gegen Fremdbestimmung in persönlichen An- gelegenheiten)

–auf grundlegende Rechte, insbesondere die Men- schenrechte (gegen Diskriminierung) und –auf einen elementaren Respekt vor der eigenen

Person (gegen Beschämung, Demütigung oder Blossstellung).

(13)

weiten Kreisen als «politically correct» geltende Kon- zept einer an empirische Bedingungen geknüpften und darum nur bedingt anzuerkennenden Würde sich durchsetzen sollte. Wenn der Verlust von Eigenschaf- ten wie kognitiver Orientierung, Selbstständigkeit und Leistungsfähigkeit mit einem Verlust an Würde gleich- gesetzt wird, fallen gerade diejenigen Personen aus dem Schutzbereich der Menschenwürde und der auf ihnen basierenden Menschenrechte heraus, die ihrer in besonders hohem Masse bedürfen: hochaltrige, multimorbide, an Demenz erkrankte Pflegebedürftige!

Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass «auch alte, sieche, sterbende Menschen (noch) Menschenwürde haben, und das ist zu verteidigen, dafür ist einzutreten, dafür muss sogar notfalls gekämpft werden» (HÄRLE, Menschenbild 2010: 15).

EMPIRISCHE HANDLUNGS- UND SITUATIONSWÜRDE

Von dem eben beschriebenen normativen Verständnis von Würde zu unterscheiden ist eine andere, uns im Alltag geläufigere Verwendung des Würdebegriffs.

Wenn ein Sportler, der einen Wettkampf verliert, sei- nem überlegenen Gegner nach der Niederlage zum Sieg gratuliert, sagen wir, er habe sich als «würdiger»

Verlierer erwiesen. Wenn eine berühmte Persönlich- keit gestorben ist, bemühen sich die Hinterbliebenen, eine «würdige» Gedenkfeier zu veranstalten, das heisst eine Feier, die schön und eindrücklich ist und die Verdienste des Verstorbenen gebührend «würdigt».

Von einem Magistraten erwarten wir, dass er sich

«würdig» verhält, so, wie es seinem hohen Amt ent- spricht. Und wenn Menschen in den Favelas Latein- amerikas in Hütten aus Blech und Pappkarton hausen

und sich von Verwertbarem aus dem städtischen Müll ernähren müssen, empfinden wir dies zu Recht als eine

«menschenunwürdige» Situation. In all diesen Fällen geht es um eine Qualität des Handelns oder der Situa- tion, aus der sich ein Gestaltungsauftrag ergibt (RÜEG- GER 2004: 29f.). Je nachdem, wie die Magistratin han- delt, benimmt sie sich mehr oder weniger würdig. Je nachdem, unter welchen äusseren Bedingungen je- mand leben muss, empfinden wir dies als mehr oder weniger menschenwürdig. Eine Gedenkfeier kann mehr oder weniger würdig gestaltet werden. Dieses

«mehr oder weniger» hängt immer von äusseren, em- pirischen Faktoren ab, weshalb diese Art von Würde – im Unterschied zur inhärenten Menschenwürde – als kontingente, von irgendwelchen Bedingungen abhän- gige Handlungs- oder Situationswürde bezeichnet werden kann (RÜEGGER 2004: 32–36). Dieser empi- risch-kontingente Würdebegriff hat eine differenzie- rende Funktion: Nicht alle Personen, Handlungen oder Situationen sind gleichermassen würdig – als würdig gilt nur, wer oder was gewissen (kulturell variablen) Vorstellungen des guten Lebens, des Schönen oder des angemessenen Verhaltens entspricht (MEIREIS 2013:

32f.). In diesem Sinne kann man zum Beispiel dann von einem «würdigen Alter» reden, wenn ein alter Mensch sich als reife Persönlichkeit erweist, die über eine ge- wisse Lebensweisheit verfügt und gelernt hat, einiger- massen geduldig und gelassen mit den Beschwernis- sen des Alters umzugehen. Solche Würde hängt in der Tat von bestimmten Voraussetzungen ab und kommt nicht allen gleichermassen zu, ist vielmehr im Sinne ei- ner sozialen Ehre zu verstehen (BARANZKE 2015: 96, 102).

Der kanadische Psychoonkologe HARVEY MAX CHO- CHINOV hat aus der Beobachtung heraus, dass es für das subjektive, empirische Würde- und Sinnempfin- den Sterbender wichtig ist, Nahestehenden so etwas wie ein ideelles Vermächtnis zu hinterlassen, eine eigene «dignity therapy» (Würdezentrierte Therapie, 2017) entwickelt. Dabei geht es nicht um die Men- schenwürde, sondern um die soziale Würde des Ster- benden in seinem sozialen Umfeld.

Es geht darum, die auch im Alter grundsätzlich in- takte und unverlierbare Würde jedes Menschen anzuerkennen und zu respektieren, und zwar durch die Art,

–wie wir vom Alter und von alten Menschen reden, –wie wir ihnen als Mitmenschen begegnen

und wie wir sie fachkompetent helfend begleiten.

(14)

Es ist wichtig, die beiden Formen von Würde – die nor- mative/vorgegebene und die kontingente/empfun- dene – klar voneinander zu unterscheiden (SCHABER 2012: 19; vgl. Schema auf S. 19).

Es gibt Situationen im hohen Alter und in Sterbepro- zessen, die Betroffene angesichts von Hilflosigkeit, Pflegeabhängigkeit, Übelkeit, Inkontinenz oder De- menz subjektiv als «entwürdigend» empfinden und sich dafür schämen. Das ist gut nachvollziehbar. Ge- rade dann ist es aber entscheidend, dass Pflegende und Betreuende nicht nur Verständnis haben für eine sol- che empfundene (empirische) Unwürdigkeit, sondern ihr mit einem klaren Bewusstsein begegnen können, dass die betroffene Patientin trotz ihrem subjektiven Empfinden eine unverlierbare, jenseits aller Erfahrung begründete Würde als Mensch hat und dass sich Pflege und Betreuung ganz an dieser unerschütterlichen nor- mativen Würde des Betroffenen orientieren.

Alters- und Pflegeinstitutionen sind gefordert, einen würdigen, das heisst die Menschenwürde respektie- renden, Umgang mit ihren Bewohnerinnen und Be- wohnern zu pflegen. Wie kann sich das konkret aus- drücken? Es empfiehlt sich, als Institution oder als Team die eigene Praxis immer wieder einmal mit Fra- gen zu den vier grundlegenden inhaltlichen Ansprü- chen der Menschenwürde zu durchleuchten:

Fragen zum Schutz von Leib und Leben

–Nehmen wir Schmerzen und andere Symptome von Patientinnen genug sensibel wahr und verfügen wir über ein angemessenes Symptommanage- ment nach heutigen Standards von Palliative Care?

–Ist unsere Pflege gut genug, um allfällige Schädi- gungen (z. B. Dekubitus, Mangelernährung, Verlust motorischer Fähigkeiten) zu vermeiden?

–Werden rehabilitative Möglichkeiten zur Verbesse- rung der Situation des Bewohners ausgeschöpft?

–Werden psychische Erkrankungen wahrgenommen, angemessen diagnostiziert und therapeutisch be- handelt?

–Ist die räumliche/bauliche Infrastruktur so, dass sich alte Menschen darin wohlfühlen können und dass möglichst wenig Gefährdungen bestehen?

–Sind genügend Massnahmen getroffen worden, um die Sicherheit der Bewohnerinnen zu gewährleis- ten? Wo bestehen allenfalls noch Sicherheitsrisiken?

Fragen zum Respekt vor der Autonomie bzw. Selbstbe- stimmung

–Wo lassen wir den Bewohner entscheiden und wo entscheiden wir aus welchen Gründen für ihn?

–Nehmen wir uns Zeit, Bewohnerinnen auf dem Weg zu einer für sie stimmigen Entscheidung im Ge- spräch zu begleiten?

–Wird der Bewohner in die Pflegeplanung einbezo- gen?

–Wird er angemessen informiert und wird seine Zu- stimmung eingeholt bei Änderungen der Therapie oder der Pflege?

–Kann er dabei zwischen verschiedenen Optionen auswählen?

–Wie weit kann die Bewohnerin ihre Vorstellungen von Normalität im Blick auf den Tagesablauf ausle- –ben?Werden die Bewohner explizit ermutigt, ihren Willen

kundzutun? Spüren sie, dass ihre Selbstbestimmung dem Personal ein Anliegen ist?

–Wird eine Ablehnung vonseiten der Bewohnerin vom Personal ernst genommen?

–Ist der Behandlungswille der Bewohner für den Fall einer plötzlichen Verschlechterung ihres Zustandes und einer eintretenden Urteilsunfähigkeit bekannt?

Die Würde des Menschen bleibt auch im hohen Alter unverlierbar

Die Würde jedes Menschen ist in jeder Situation unverlierbar und damit unantastbar. Sie ist an keine Bedingungen geknüpft und gilt unabhängig von Gesundheit oder Krankheit, von vorhandenen Fähigkeiten oder erlittenen Verlusten, unabhängig auch von der finanziellen Situation. Menschen mit Demenz etwa oder stark pflegeabhängigen Be- tagten kommt diese Menschenwürde genauso zu wie allen anderen Menschen.

CURAVIVA Schweiz, Charta der Zivilgesellschaft zum würdigen Umgang mit älteren Menschen, aus These 6

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–Gibt es eine Kultur des gemeinsamen, interdiszipli- nären Fragens nach dem mutmasslichen Willen ei- nes urteilsunfähigen Patienten?

–Werden Patientenverfügungen ernst genommen und werden sie kompetent interpretiert?

–Können wir es akzeptieren und aushalten, wenn eine Bewohnerin für sich anders entscheidet, als wir es für sinnvoll halten?

–Gibt es ein institutionelles Gefäss für die Mitsprache der Bewohner (z. B. Heimrat)? Wird es ernsthaft ge- nutzt?

–Ist das Vorgehen im Blick auf freiheitsbeschrän- kende Massnahmen geregelt? Sind weniger ein- schneidende Massnahmen, die Freiheitsbeschrän- kungen eventuell unnötig machen, bekannt?

Fragen zur Wahrung grundlegender Rechte

–Sind die Bewohner über ihre Rechte und Pflichten informiert?

–Werden Reklamationen ernst genommen?

–Ist den Bewohnerinnen die Möglichkeit der Anru- fung einer unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter bekannt?

–Können die Bewohnerinnen ihren Glauben in der Pflegeinstitution frei ausüben?

–Haben Bewohner das Recht und die Möglichkeit, ihre Sexualität zu leben und Beziehungen einzugehen?

–Erhalten alle Bewohnerinnen den ihnen fairerweise zustehenden Anteil an den vorhandenen (personel- len, zeitlichen, materiellen) Ressourcen?

–Wird ihnen das Recht auf risikoreiches Verhalten zu- gestanden?

Fragen zum Respekt vor der Person

–Ist der Umgangston mit den Bewohnerinnen ge- prägt von Respekt, Anstand und Höflichkeit?

–Werden die Privat- und die Intimsphäre der Bewoh- ner gewahrt?

–Wird vor dem Eintritt in ein Zimmer angeklopft und um Zutritt gebeten?

–Haben die Bewohnerinnen die Möglichkeit, ihr Zim- mer abzuschliessen?

–Stimmen Nähe und Distanz im Umgang mit den Be- wohnern?

–Gibt es eine klare Regelung, wie das «Duzen» und

«Siezen» gehandhabt wird?

–Sind die Mitarbeitenden fähig, auch unangeneh- men Bewohnern mit dem nötigen Respekt zu be- gegnen?

–Werden Verschwiegenheit und Diskretion von den Mitarbeitenden ernst genommen?

–Bekommen die Bewohnerinnen genügend Zuwen- dung?

Solche konkreten, selbstkritischen Nachfragen können sicherstellen, dass der Verweis auf die Menschenwürde nicht zu einer Leerformel verkommt und dass der Um- gang mit den in der eigenen Institution lebenden alten Menschen wirklich «würdig» bzw. «würdigend» ist und von ihnen auch tatsächlich so empfunden wird. Ach- tung der Menschenwürde ist «eine kostbare, weil schwer zu erreichende und schwer zu erhaltende Er- rungenschaft» (HÄRLE, Würde 2010: 48). Es ist darum wichtig, sich bewusst dafür einzusetzen.

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Kontingent «unwürdige Pflege» heisst nicht, dass der Patient seine normative Menschenwürde durch die schlechte Pflege verliert, sondern nur, dass die Pflege den nötigen Respekt vor der immer intakt bleibenden Menschenwürde der Patientin vermissen lässt.

Auch wenn das Personal eines Pflegeheims die Würde des Patienten missachtet/verletzt, bleibt dessen Men- schenwürde und der sich daraus ergebende Anspruch auf Achtung und Respekt unverlierbar und erfordert ein radikales Verändern des die Würde verachtenden Verhaltens des Personals.

Menschenwürde Handlungswürde/Situationswürde

Fachbegriff: «inhärente Würde»

(= jedem Menschen innewohnende Würde) oder: «Seinswürde»

(= mit dem Menschsein gegebene Würde) oder: «Wesenswürde» (= zum Wesen des Mensch- seins gehörige Würde) > jeder Mensch hat eine grundsätzliche Würde, einen grundsätzlichen, abso- luten Wert

Fachbegriff: «kontingente Würde»

(= von gewissen Faktoren abhängige Würde)

«Handlungswürde» meint in der Pflege: eine Hand- lung respektiert die Menschenwürde des Patienten (= menschenwürdige Behandlung von Patientinnen)

«Situationswürde» meint: dem Patienten wird eine Lebens- und Pflegesituation geschaffen, die durch Respekt vor seiner Menschenwürde geprägt ist Die Menschenwürde ist

–eine Seinsbestimmung (seinsmässig vorgegeben) –bei allen Menschen gleich

–unverlierbar –unantastbar

Die Würdigkeit unseres Handelns (z. B. Pflege und Betreuung) ist

–ein Gestaltungsauftrag

(sie ist uns zur Verwirklichung aufgetragen) –je nach Situation besser oder schlechter –kann fehlen oder mangelhaft sein –abhängig von unserem Tun

beinhaltet einen Anspruch auf:

–Schutz des eigenen Lebens –Autonomie/Selbstbestimmung –Recht auf die Menschenrechte

–elementaren Respekt vonseiten anderer –menschenwürdige Behandlung durch andere

beinhaltet eine Verpflichtung gegenüber anderen zu:

–Schutz ihres Lebens

–Anerkennung ihrer Autonomie/Selbstbestimmung –Gewährung der Menschenrechte

–elementarem Respekt vor ihrer Person

menschenwürdigem Verhalten ihnen gegenüber

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Für ein solches Verständnis von Menschenwürde ist grundlegend, dass zwischen der empirisch vorhande- nen Lebensqualität eines Menschen und seiner nor- mativ gegebenen Würde unterschieden wird (zum Konzept vgl. das zugrunde liegende Papier von CURA- VIVA 2011 zur Lebensqualitätskonzeption, das auch ein Instrument zur Bestimmung und Förderung der indivi- duellen Lebensqualität von Heimbewohnerinnen ent- hält). Es ist entscheidend, dass nicht von einer wie auch immer bestimmten Lebensqualität auf die Men- schenwürde oder den Lebenswert geschlossen wird.

Bei Urteilen über die Lebensqualität im Alter ist ohne- hin Vorsicht geboten. Entgegen traditionellen negati- ven Altersstereotypen ist wichtig festzuhalten, dass Altern nicht einfach ein defizitärer Prozess ist, in des- sen Verlauf Ressourcen, subjektive Lebensqualität und Lebenszufriedenheit kontinuierlich abnehmen. Geron- tologische Forschung hat gezeigt, dass viele körperli- che, seelische und geistige Ressourcen bis ins hohe Al- ter erhalten bleiben, zum Teil sogar noch zunehmen können. Vor allem hat die Forschung bewusst ge- macht, dass alte Menschen – trotz aller nicht zu leug- nenden Erfahrungen von Verlusten und Grenzen im hohen Alter – im Durchschnitt eine sehr hohe Lebens- zufriedenheit aufweisen, eine Lebenszufriedenheit, die diejenige der jüngeren Erwachsenen sogar über- steigt (HÖPFLINGER 2003)! Man spricht hier vom sog.

«Zufriedenheitsparadox» des Alters, einem erstaunli- chen Phänomen, das uns lehrt, einseitig negative Al- tersbilder kritisch zu hinterfragen. Ähnliches gilt auch für demenzkranke Menschen. ALBERT WETTSTEIN weist darauf hin, dass nach vorliegenden Studien «das allgemeine Wohlbefinden von Demenzkranken sich nicht signifikant von dem gleichaltriger kognitiv Ge- sunder unterscheidet», ja, dass es Demenzkranke gibt,

«deren Wohlbefinden sich durch die Demenz positiv verändert hat» (WETTSTEIN 2005: 108).

Daraus ergibt sich, dass auf der subjektiven, empiri- schen Ebene das Leben im Alter ein durchaus hohes Mass an Lebensqualität besitzen kann, selbst bei de- menzkranken Menschen und bei Personen, die so schwer pflegebedürftig sind, dass sie auf die Unter- stützung einer Pflegeeinrichtung angewiesen sind.

Aussenstehende tendieren zuweilen zu schnell dazu, dem Leben multimorbider Hochaltriger Lebensquali- tät abzusprechen. Solche Urteile aus der Fremdpers- pektive sind unangemessen und tragen ihrerseits zur Entwürdigung des Alters in unserer Gesellschaft bei.

Es steht niemandem zu, im Blick auf das Leben eines anderen Menschen ein Urteil darüber zu fällen, ob diese Leben «lebenswert» oder «lebensunwert» sei.

Wenn schon, steht es höchstens dem Betroffenen sel- ber zu, darüber zu urteilen, ob er sein Leben subjektiv noch als lebenswert oder als nicht mehr lebenswert ansieht.

So oder so sind solche subjektiven, auf empirischen Faktoren beruhenden Urteile streng vom normativen Gesichtspunkt der Menschenwürde zu unterscheiden.

Jedem menschlichen Leben – auch dem einer schwer kranken oder schwerbehinderten Person, auch dem von Menschen, die ihre Lebensqualität persönlich ganz niedrig einschätzen – kommt grundsätzlich die gleiche menschliche Würde zu wie allen anderen Men- schen. Und diese Menschenwürde beinhaltet den An- spruch auf Lebensschutz und schliesst damit ein Urteil von vornherein aus, wonach irgendein Leben objektiv nicht lebenswert sei (es gibt also kein «unwertes Le- ben»!). Menschenwürde als normatives Konzept trägt den Anspruch in sich, das Leben jedes Menschen zu schützen, es zu achten und zu respektieren und in die- sem Sinne «würdig», das heisst der Menschenwürde entsprechend, mit ihm umzugehen.

«Ob ein Mensch nach einem erfüllten Leben, körper- lich noch rüstig und geistig klar zu Hause friedlich für immer einschläft oder ob er, inkontinent geworden, geistig verwirrt und seiner Fähigkeit zur Selbstbestim- mung verlustig gegangen, nach mehrjährigem Pflege- heimaufenthalt in einem langen Todeskampf stirbt, macht zwar auf der Ebene der Lebensqualität einen grossen Unterschied; mit Blick auf die Menschen- würde des jeweils Sterbenden besteht allerdings zwi- schen beiden Sterbesituationen kein Unterschied. So verstanden gibt es keine Krankheiten, welche mit fort- schreitender Entwicklung die Würde des Menschen beeinträchtigen» (BETHESDA/DIALOG ETHIK 2011: 45).

2.3 Lebensqualität und Menschenwürde

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Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen geht davon aus, dass «alle Men- schen gleich an Würde und Rechten geboren» sind.

Das bezieht sich sowohl auf unterschiedliche Men- schen – alle haben die gleiche Würde – als auch auf un- terschiedliche Lebensphasen ein und desselben Men- schen: Der Mensch in seiner Jugend und der Mensch in seinem Alter haben die gleiche Würde. Daraus ergibt sich das Verbot der Diskriminierung, das die Bundes- verfassung der Eidgenossenschaft in Art. 8 Abs. 2 expli- zit auch auf das Alter bezieht: «Niemand darf diskrimi- niert werden, namentlich nicht … wegen des Alters.»

Das gilt im Blick auf den einzelnen alten Menschen, nicht weniger aber auch mit Bezug auf die Gruppe der alten Menschen in der Gesellschaft insgesamt. Des- halb impliziert das Ernstnehmen der Würde des Men- schen auch, dass eine Gesellschaft das Jungsein der Jungen und das Altsein der Alten gleichermassen wür- digt.

Angesichts der oben beschriebenen schleichenden Entwürdigung des Alters ergibt sich daraus die Forde- rung nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Jugendlichkeitswahn der Anti-Aging-Bewegung, der alles am Massstab dessen misst, war für die jun- gen Erwachsenen gilt; eine kritische Auseinanderset- zung auch mit dem latenten gesellschaftlichen Ageis- mus, der das Alter durch negative Stereotypisierung als minderwertig darstellt, stigmatisiert und entwür- digt. Demgegenüber ist auch unter ethischem Ge- sichtspunkt mit einer in der Gerontologie weithin gän- gig gewordenen Lebenszyklusperspektive ernst zu machen, die das Leben eines Menschen als Abfolge verschiedener Lebensphasen versteht, die alle ihre je eigenen Möglichkeiten und Grenzen, Aufgaben und Herausforderungen haben, alle aber in sich gleich wertvoll und bedeutsam sind. Dementsprechend hängt die soziale und kulturelle Qualität einer Gesell- schaft in ihrem intergenerationellen Miteinander da- von ab, dass jede Altersgruppe ihre spezifischen Auf- gaben und Möglichkeiten wahrnimmt, ihre besondere Lebenshaltung ausprägt und diese – komplementär! – zum Wohl des Ganzen in die Gesellschaft einbringt, ohne sie zum Massstab für die Beurteilung anderer Al- tersgruppen zu machen. Zum Ernstnehmen der Würde

des Alters gehört deshalb wesentlich auch dies, den gesellschaftlichen Beitrag einer Alterskultur anzuer- kennen und zur Entfaltung zu bringen (RÜEGGER 2009).

Eine neue Alterskultur entwickeln

Jede Lebensphase hat ihre eigene Bedeutung, ihre eigenen Möglichkeiten und Herausforderungen … Keine Lebensphase kann aber zum Massstab werden für andere Lebensphasen … Alte Menschen sind deshalb zu ermutigen, selbstbewusst zu ihrem Alt- sein zu stehen, eine ihrer Lebensphase entspre- chende Alterskultur mit eigenen Werten und Priori- täten zu entwickeln und diese aktiv in die

Gesellschaft einzubringen. In der Gesellschaft ist einer solchen Alterskultur Raum und Anerken- nung zu verschaffen.

CURAVIVA Schweiz, Charta der Zivilgesellschaft zum würdigen Umgang mit älteren Menschen, aus These 3

2.4 Nichtdiskriminierung des Alters

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Das Konzept «Würde» kommt heute oft in Zusammen- hang mit dem Prozess des Sterbens zur Sprache. Der Ruf nach einem «würdigen Tod» oder «würdigen Ster- ben» ist weit verbreitet (RÜEGGER 2004). Gemeint ist mit dieser Forderung meistens ein Sterben

–ohne allzu grosse Schmerzen,

–ohne lange vorausgehende Zeit der Pflegebedürftig- keit,

–ohne demenziell bedingten Verlust der geistigen Klarheit,

–ohne das Sterben verlängernde oder hinausschie- bende medizinische Interventionen,

–ein Sterben, bei dem der Sterbende selbst bestimmt, wann, wo und wie er sein Leben beenden möchte.

Für einige gehört dazu auch die Möglichkeit der ak- tiven Sterbehilfe, also des Rechtes, verlangen zu können, dass man auf eigenen Wunsch hin mit einer entsprechenden Injektion getötet wird, sowie die Möglichkeit eines begleiteten Suizids, um auf die- sem Wege unerträglich oder «unwürdig» empfun- denen Leidenssituationen zu entgehen.

Der Ruf nach einem «würdigen» Sterben zielt eigent- lich auf ein «friedliches» Sterben, wie es im internatio- nal breit abgestützten Hastings-Report «Die Ziele der Medizin» von 1996 als eines der wesentlichen Ziele heutiger Medizin benannt wird (STAUFFACHER/BIR- CHER 2002: 327). Dank enormen medizinischen und pharmazeutischen Fortschritten, in neuster Zeit auch dank neusten Entwicklungen von Palliative Care, kann in der Tat viel getan werden, um den Prozess des Ster- bens zu erleichtern und ihn möglichst friedlich, also erträglich, zu gestalten. Aber das lässt sich nicht ga- rantieren! Die Würde des Sterbens an einem friedli- chen Prozess des Sterbens festmachen zu wollen, dürfte jedenfalls problematisch sein und leicht zu ei- ner Überforderung für alle daran Beteiligten werden.

Der amerikanische Mediziner SHERWIN B. NULAND hat in einem Buch beschrieben, wie man an den ver- schiedensten Krankheiten stirbt. Für ihn ist das viel be- schworene Ideal eines «würdigen Todes» ein Mythos.

Er konstatiert: «Ich habe nur selten Würde beim Ster- ben erlebt. Das Bemühen um Würde scheitert, wenn der Körper uns im Stich lässt» (NULAND 1994: 17f.). Und

die Geriaterin REGULA SCHMITT-MANNHART stimmt ihm zu: «Sterben ist nicht schön … Wir müssen lernen, uns einzugestehen, … dass wir unser vorgefertigtes Bild vom ‹würdigen Sterben› nicht verwirklichen kön- nen. Es ist eine Illusion zu meinen, dass wir ein Sterben ohne Belastung, ein ‹stressfreies› Sterben … erzwingen können» (2000: 264–266). So gesehen setzt die Forde- rung nach einem «würdigen Sterben» die Sterbenden nur unter einen Leistungsdruck, der das Sterben noch schwieriger machen dürfte, als es ohnehin schon ist.

MENSCHENWÜRDE IST IM STERBEN NICHT VERLIERBAR

Das Anliegen, in Würde zu sterben, kann darum sinn- vollerweise nur zweierlei beinhalten. Zum einen ein ra- dikales Ernstnehmen, dass menschliche Würde im nor- mativen Sinn etwas Unverlierbares ist, das man nicht durch ein besonders tapferes oder friedliches Sterben an den Tag legen und sichern muss; kein Sterbeprozess, und sei er noch so lang und zermürbend, kann die Würde des Sterbenden beeinträchtigen. Auch das Aus- halten von Leiden gehört zu einem Sterben, das men- schenwürdig ist. Deshalb spricht die Psychothera- peutin und Sterbebegleiterin MONIKA RENZ von der

«Würde des Aushaltens» im Sterben (RENZ 2008) und kritisiert eine Gesellschaft, die Leiden und Sterben nur noch als sinnlos ansieht, weil sie damit Kranken und Sterbenden das Gefühl vermittelt, würdelos zu sein (RENZ 2012: 83). Sterben in Würde kann also nicht heis- sen, dass die sterbende Person Gefahr läuft, ihre Würde durch den fortschreitenden Krankheitsverlauf zu ver- lieren und deswegen selbst dafür Verantwortung tra- gen muss, zu einem Zeitpunkt oder auf eine Art zu sterben, die ihre Würde sicherstellt. Pointiert gesagt:

Die Menschenwürde ist unverlierbar, man muss nichts für sie tun und kann auch im Sterben nicht aus ihr he- rausfallen. Insofern steht jedes Sterben eines Men- schen unter dem Zeichen einer unantastbaren Würde, die menschlichem Leben auch im Sterben Wert ver- leiht und – zum andern – eine respektvolle, das heisst die Menschenwürde des Sterbenden achtende Sterbe- begleitung fordert.

2.5 Zum Wunsch nach einem Sterben in Würde

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HUMANE STERBEKULTUR

Sinnvoll erscheint mir die Rede von einem Sterben in Würde vor allem dann, wenn damit ein Anspruch an die professionellen und freiwilligen Betreuerinnen und Begleiter eines Sterbenden gemeint ist, diesen menschenwürdig, das heisst bis zuletzt mit Respekt vor seiner unverlierbaren Menschenwürde, zu behan- deln, auch wenn die Umstände seines Sterbens viel- leicht mühsam, beelendend und mit Gefühlen der Scham und des Ekels belastet sind. Zu einem solchen Respekt vor der Würde eines Sterbenden gehört eine humane Sterbekultur, wie sie zahlreiche Initiativen der Hospizarbeit und der Palliative Care in den letzten Jahr- zehnten entwickelt haben (WILKENING/KUNZ 2003).

Diese Liste (rechte Seite) kann durchaus noch ergänzt werden. Sie kann auch dazu dienen, im Rahmen eines Teamgesprächs selbstkritisch zu prüfen, wie es um die Sterbekultur in der eigenen Institution steht und wo sie allenfalls noch weiterzuentwickeln wäre.

Elemente einer menschenwürdigen Sterbekultur – eine Haltung, die die Bedeutung des Todes als

wichtige Dimension des Lebens anerkennt;

–das offene Thematisieren des Sterbens mit allen Beteiligten;

–eine fachlich hochstehende palliative Symptom- kontrolle, insbesondere ein kompetentes Schmerz- management unter Einschluss der Möglichkeit, wenn gewünscht auch hohe Dosen von Schmerz- mitteln oder Sedativa abzugeben, selbst wenn da- durch der Tod etwas früher eintreten sollte (= indi- rekte Sterbehilfe);

– Verzicht auf lebensverlängernde medizinische Mass nahmen (= passive Sterbehilfe), sofern der Sterbende es nicht anders wünscht;

–konsequentes Respektieren des aktuellen, des vor- aus verfügten oder des mutmasslichen Willens der Patientin;

–Verzicht auf künstliche Ernährung, wenn der Ster- bende Nahrung und Flüssigkeit verweigert;

–Räumlichkeiten, die im Sterbeprozess Ruhe und Privatsphäre sichern;

–Möglichkeit für Angehörige, den Sterbenden zu besuchen und bei ihm zu bleiben;

–Phasen, in denen man der Sterbenden ermöglicht, allein zu sein;

–seelsorgliche Begleitung des Sterbenden im Sinne von Spiritual Care gemäss seinem Wunsch;

– je nach Wunsch der Sterbenden Beizug von Sitz- wachen oder sonstigen freiwilligen Begleitern, wenn sie lieber nicht allein sein möchte;

–gute interdisziplinäre Absprache und Beratung;

–angemessene Begleitung und Unterstützung der Angehörigen;

–eine Haltung des tiefen Respekts vor der unverlier- baren Würde des Sterbenden und vor dem Ge- heimnis des Lebens und Sterbens.

(21)

Autonomie im Alter

3

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Der Anspruch auf Autonomie oder auf Selbstbestim- mung (wir verwenden die beiden Begriffe synonym) ist eng mit der Menschenwürde verknüpft und hat in der gegenwärtigen ethischen Diskussion einen hohen Stellenwert. Für viele stellt er den zentralen Inhalt der Menschenwürde schlechthin dar. Nach PETER SCHA- BER ist Würde «der Anspruch darauf, sein eigenes Le- ben in einer (selbst- [H.R.])bestimmten Weise leben zu können» (2012: 36). Eingriffe in die Freiheit der Selbst- bestimmung gelten dementsprechend als Verletzung der menschlichen Würde. Vor allem in der Medizi- nethik ist das Prinzip der Patientenautonomie seit der Mitte des letzten Jahrhunderts ins Zentrum ethischer Überlegungen gerückt und zu einer neuen Basis für das Verhältnis von Ärzteschaft bzw. Pflegenden zu Pa- tienten geworden.

Aber auch weit über den Bereich von Medizin und Pflege hinaus steht Autonomie in unserer Gesellschaft hoch oben auf der Werteskala. Ja, wir leben in einer Zeit und Kultur, für die das Pochen auf Autonomie

«fast die Qualität einer Besessenheit angenommen hat» (CALLAHAN 1998: 18) und in der Selbstbestim- mung und Unabhängigkeit geradezu vergöttert wer- den (MOODY 1998: 121).

Nach dem deutschen Nationalen Ethikrat ist unsere moderne Lebenseinstellung in einem doppelten Sinn vom Konzept der Autonomie geprägt: einerseits von Selbstbestimmung als einem Anspruch, den jedes In- dividuum geltend machen kann, andrerseits aber auch von Selbstbestimmung als einer Forderung und Zu- mutung der Gesellschaft an jeden Einzelnen. «Men- schen können und müssen selbst entscheiden, wie sie leben wollen» (NATIONALER ETHIKRAT 2006: 18). Darin

liegt ein grosses Stück Freiheit, aber ebenso eine Ver- antwortung, die manchmal zu einer Überforderung werden kann. MARKUS ZIMMERMANN-ACKLIN spricht bereits von einem «Zwang zur Freiheit und zur Selbst- bestimmung» (ZIMMERMANN-ACKLIN 2003: 66). Es wird deshalb gerade im Bereich der Langzeitpflege we- sentlich darum gehen, Menschen zu helfen, mit dieser Situation so umzugehen, dass sie Autonomie mehr als Freiheit denn als Zwang erfahren und in der Wahrneh- mung von Selbstbestimmung und Selbstverantwor- tung einen Ausdruck ihrer Würde sehen können.

Autonomie ist zweifellos nicht schon alles, worauf es ethisch beim würdigen Umgang mit alten Menschen ankommt. Aber es ist umgekehrt keine würdige Be- handlung und Pflege alter Menschen denkbar, bei der der Respekt vor ihrem Anspruch auf Selbstbestim- mung nicht von zentraler Bedeutung wäre. Ganz abge- sehen von rein ethischen Überlegungen haben Unter- suchungen gezeigt, dass die Erfahrung, selbst über sein Leben bestimmen und das, was mit einem ge- schieht, kontrollieren und beeinflussen zu können, von weitreichender Bedeutung ist für die Lebensqualität und das persönliche Wohlbefinden alter Menschen (DIEHL 2012: 84, 86). Für viele Menschen im Alter scheint die Möglichkeit, autonom zu entscheiden und ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten, so etwas wie ein «Wohlfühlfaktor» von nicht zu unterschätzender Bedeutung zu sein (HUBER/SIEGEL/WÄCHTER/BRAN- DENBURG 2005: 41).

Soll die Relevanz des Autonomiekonzeptes insbeson- dere für die Behandlung, Pflege und Betreuung alter Menschen in Institutionen der Langzeitpflege deutlich werden, drängen sich folgende Differenzierungen auf.

3.1 Der heutige Stellenwert von Autonomie

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AUTONOMIE ALS SELBSTBESTIMMUNG

In der gerontologischen Diskussion wird der Begriff der Autonomie auf verschiedene Weise verwendet (DIEHL 2012: 84). Zu unterscheiden sind vor allem:

1. Konzeptionen, die Autonomie – handlungsorientiert – als funktionale Selbstständigkeit verstehen, zum Beispiel als Unabhängigkeit von der Hilfe anderer bei der Bewältigung der Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL), und

2. Konzeptionen, die Autonomie primär als Selbstbe- stimmung definieren, also als Kontrolle der eigenen Lebenssituation. Dabei geht es darum, dass Fragen, die unser eigenes Leben betreffen, von uns selber eigenverantwortlich entschieden werden können.

Unter ethischem (wie auch juristischem) Gesichts- punkt ist das zweite Verständnis wichtiger. Wir spre- chen im Folgenden darum immer von Autonomie als Selbstbestimmung im Sinne von Selbstverantwor- tung. Nach diesem Verständnis kann auch eine un- selbstständige Person, die schwer pflegebedürftig ist und im alltäglichen Leben auf die Hilfe und Unterstüt- zung anderer angewiesen ist, durchaus noch selbstbe- stimmt leben und für sich entscheiden, was sie will und was nicht (HUBER/SIEGEL/WÄCHTER/BRANDEN- BURG 2005: 33).

AUTONOMIE IN ABHÄNGIGKEIT

Gerade im Blick auf alte Menschen, die in Pflegeein- richtungen leben, ist es wichtig, zu betonen, dass äus- serliche Abhängigkeit von der Unterstützung anderer kein Gegensatz zu Selbstbestimmung ist und keines- falls als entwürdigend angesehen werden darf (HOL- STEIN/PARKS/WAYMACK 2011: 12). Ja, völlige Unabhän- gigkeit von anderen und absolute Selbstbestimmung ohne Prägung durch Einflüsse von Dritten ist eine Illu- sion. BARBARA PICHLER ist zuzustimmen: «Wenn für das Alter Autonomie propagiert wird, so darf dies nicht im Gegensatz zu Abhängigkeit geschehen … Völlige Begriffsklärung

Selbstständigkeit (= Unabhängigkeit): Sie meint die Fähigkeit, im eigenen Handeln nicht auf die Hilfe und Unterstützung anderer angewiesen zu sein.

Selbstbestimmung (= Autonomie = Selbstverant- wortung): Sie meint den Anspruch oder die Möglich- keit, in persönlichen Angelegenheiten selber über sein Leben bestimmen und eigenverantwortlich ent- scheiden zu können, ohne dass einem andere vorschreiben, wie man zu handeln hat.

Man kann auch bei eingeschränkter Selbststän- digkeit trotzdem selbstbestimmt leben, zum Beispiel indem man in eigener Verantwortung bestimmt, welche Unterstützung man von anderen bekommen möchte und wie man mit eigener Abhängigkeit umgeht.

Beispiel: Herr M., 89-jährig, ist schwer pflegebe- dürftig und wohnt seit zwei Jahren in einem Pflege- heim. Seine Mobilität ist stark eingeschränkt, auch seine Feinmotorik nimmt kontinuierlich ab. Zum Auf stehen und Zubettgehen, zum Waschen, zum An- und Auskleiden sowie zum Toilettengang braucht er Hilfe. Dazu kommen permanente starke

Schmerzen aufgrund einer schon lange anhaltenden Polyneuropathie im linken Bein. Herr M. kann klar ausdrücken, was er will: Das Frühstück nimmt er erst um 9.30 Uhr ein, das Mittagessen zu- sammen mit den anderen Bewohnern im Speisesaal, das Nachtessen alleine im Zimmer. An gemein- samen Veranstaltungen nimmt er selten teil; er liest lieber alte Kriminalgeschichten von Agatha Christie oder sieht fern. Im Blick auf die Polyneuro- pathie lehnt er höhere Dosen Schmerzmittel ab;

er habe schon immer etwas dagegen gehabt, «mit Chemie vollgepumpt zu werden». Herr M. fühlt sich im Pflegeheim einigermassen wohl, hat mit der Heimärztin aber abgemacht, dass er bei einer nächsten Lungenentzündung keine Antibiotikathe- rapie mehr wolle, sondern palliativ gut versorgt sein Leben beenden möchte. Die Ärztin und die Pfle- genden haben ihm zugesichert, seinen Willen zu respektieren.

Herr M. ist in hohem Masse pflegeabhängig, also nicht mehr selbstständig; er lebt im Pflegeheim aber zugleich sehr selbstbestimmt.

3.2 Differenzierungen des Autonomiebegriffs

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Autonomie ist dem menschlichen Wesen nach gar nicht möglich» (2007: 78). Wirkliche Autonomie ist im- mer nur graduell erreichbar (BOBBERT 2002: 346). Sie besteht immer in einer Mischung von Unabhängigkeit und Abhängigkeit in einem sozialen Beziehungsfeld gegenseitiger Abhängigkeit (AGICH 2003: 96). Inso- fern gibt es Selbstbestimmung immer nur als «relatio- nale Autonomie», eingebettet in ein soziales Gefüge gegenseitiger Bezogenheit und Abhängigkeit (Inter- dependenz), das zutiefst zur menschlichen Natur ge- hört (HOLSTEIN/PARKS/WAYMACK 2011: 23, 282).

Selbstbestimmung, schon gar im hohen Alter und am Lebensende, kann darum nicht bedeuten, «über das Selbst und sein Leben vollständig verfügen zu wol- len … Ein souveränes Selbst ist keineswegs dasjenige, das überall und jederzeit vollkommen frei über sich selbst bestimmen kann … Selbstbestimmung ist ein aktiver ebenso wie ein passiver Prozess, ein Tun ebenso wie ein Hinnehmen und Lassen, ein eigenes Gestalten wie auch ein Sich-Gestaltenlassen von anderen, von Umständen und Situationen» (SCHMID 2004: 119).

ABGESTUFTE SELBSTBESTIMMUNGS- UND MIT- WIRKUNGSMÖGLICHKEITEN AUCH BEI DEMENZ Gerade bei demenzkranken Menschen wird das Res- pektieren ihrer Selbstbestimmung zu einer besonde- ren Herausforderung, denn im Verlauf ihrer Erkran- kung nimmt die Fähigkeit zu selbstbestimmtem Entscheiden und Handeln eindeutig ab. Allerdings ist auch hier zu berücksichtigen, was der DEUTSCHE ETHIKRAT in einer Stellungnahme unterstreicht, «dass

Demenzerkrankte unabhängig vom Stadium ihrer Er- krankung Alltagssituationen emotional differenziert wahrnehmen und ihre emotionale Befindlichkeit non- verbal zum Ausdruck bringen können. Danach sind auch im späten Stadium der Demenz auf der Ebene der emotionalen Wahrnehmung und Differenzierung Reaktionen möglich, die Elemente von Verstehen, Be- werten und Wollen enthalten, die auch in einer situa- tiv authentischen Mitwirkung zum Ausdruck kommen können» (2012: 26).

Es ist darum wichtig, von abgestuften Selbstbestim- mungsmöglichkeiten von Menschen mit einer De- menz auszugehen und sie darin zu unterstützen, je nach Stufe der demenziellen Entwicklung noch ein möglichst hohes Mass an aktiver Ausübung von Selbstbestimmung wahrzunehmen. Die «Graduierun- gen der Selbstbestimmungs- und Mitwirkungsmög- lichkeiten der Betroffenen (…) reichen von

–einer uneingeschränkten Selbstbestimmungsfähig- keit bei voller Entscheidungs- und Einwilligungsfä- higkeit im Frühstadium der Demenz

–über eine eingeschränkte Selbstbestimmungsfähig- keit, bei der die Entscheidungs- und Einwilligungsfä- higkeit auf bestimmte erlebnisnahe Handlungsfel- der begrenzt ist und bei Entscheidungen ausserhalb der Erlebnisnähe noch eine gewisse Mitbestim- mungsmöglichkeit besteht,

–bis zu einer auf den Erlebnisnahraum eingeschränk- ten blossen Mitwirkungsmöglichkeit im Spätsta- dium der Erkrankung» (ebd.: 63f.).

3.3 Autonomie fördernde Gestaltung des Heimalltags

Wenn über Autonomie im Alter gesprochen wird, ge- schieht dies häufig im Blick auf grundsätzliche Ent- scheidungen über medizinische Behandlungen, insbesondere über den Einsatz oder Verzicht auf le- bensverlängernde medizinische Massnahmen am

Ende des Lebens. Und es besteht kein Zweifel: Hier stellen sich bei der Betreuung älterer Menschen in Spitälern und in Institutionen der Langzeitpflege im- mer wieder wichtige, mitunter folgenschwere Ent- scheidungen, bei denen sich zeigen muss, wie ernst

(25)

die Würde und Autonomie der betroffenen pflegebe- dürftigen Personen genommen wird. Wir kommen da- rum später noch darauf zu sprechen.

GEORGE J. AGICH hat in seiner grundlegenden Arbeit über Abhängigkeit und Autonomie im Alter aber zu Recht darauf hingewiesen, dass andere, alltäglichere Fragen für pflegebedürftige alte Menschen viel rele- vanter sind, wenn es darum geht, unter den realen Be- dingungen vielfältiger Abhängigkeit von Pflege und Betreuung ein selbstbestimmtes Leben führen zu kön- nen (2003). Zentral ist zum Beispiel die Frage, wie das Leben in einem Pflegeheim so gestaltet werden kann, dass es für die dort Wohnenden zu einem sinnvollen Lebensort wird, mit dessen Betriebskultur und Lebens- stil sie sich identifizieren können. Denn nach AGICH ist die Möglichkeit, sich zu identifizieren, so etwas wie ein Daheim-Sein- oder Zugehörigkeitsgefühl zu entwi- ckeln, eine Voraussetzung für die Erfahrung von Auto- nomie (ebd.: 123; vgl. OSTERWALDER 2010).

Die Ausführungen dieses Kapitels konzentrieren sich bewusst auf die Situation von pflegebedürftigen alten Menschen in Pflegeheimen, weil dort besondere Rah- menbedingungen gegeben sind, die spezielle Schwie- rigkeiten, aber auch entsprechende Herausforderungen mit sich bringen. Die Situation in heutigen Altershei- men mit noch weitgehend selbstständigen Bewohne- rinnen und Bewohnern ist demgegenüber in mancher- lei Hinsicht eine etwas andere, sodass die folgenden Überlegungen nur begrenzt auf solche Altersheime zu beziehen sind.

HEIME ALS «TOTALE INSTITUTIONEN»

(E. GOFFMAN)?

Es ist festgestellt worden, dass «Institutionen – und damit auch Einrichtungen der Langzeitpflege – im Grunde per Definition Eingriffe in die personale Auto- nomie» darstellen und daher problematisch sind (HU- BER et al. 2005: 41). Die Grundlage dazu hat der ameri- kanische Soziologe ERVING GOFFMAN mit seiner Studie über Asyle als «Totale Institutionen» geliefert (GOFFMAN 2010; vgl. OSTERWALDER 2010: 23–31). Ihm zufolge sind «Totale Institutionen» (wie Kasernen, Ge- fängnisse, Pflegeheime, Klöster, Internate) dadurch

charakterisiert, dass sie kollektive Wohn- und Arbeits- stätten unter einem Dach und unter einer Autorität sind, in denen es zur – unfreiwilligen – Gleichstellung aller Insassen kommt, die in der Institution relativ ab- geschnitten von Kontakten nach aussen ein formal streng durchorganisiertes Leben führen, durch das sie jede Privatsphäre verlieren und keinen grossen Ein- fluss geltend machen können; denn die Macht liegt bei den professionellen Angestellten, die wissen, wie die Institution funktioniert und wie man sich ihrer Macht- mittel bedienen kann. Ihnen sind die «Insassen» von Heimen relativ ohnmächtig ausgeliefert.

GOFFMAN schrieb seine Arbeit vor einem guten hal- ben Jahrhundert (1961). Seither hat sich in der Welt der Institutionen viel getan. Was GOFFMAN idealtypisch als «Totale Institution» beschrieben hat, entspricht dem, was er damals durch die Methodik der teilneh- menden Beobachtung über das Binnenleben einer psychiatrischen Klinik erheben konnte. Seine Darstel- lung kann natürlich nicht mehr beanspruchen, ein sachgemässes Abbild heutiger Heime und ähnlicher Organisationen zu sein. Aber auch wenn sich heutige Pflegeheime in manchem von den «Totalen Institutio- nen» GOFFMANS unterscheiden, kann die Auseinan- dersetzung mit seinem Konzept dennoch für Gefahren sensibilisieren, die Heimen als professionellen, zweck- rationalen Organisationen immer innewohnen.

Hier ist insbesondere die Gefahr zu nennen, dass Indi- viduen den institutionellen Strukturen untergeordnet und angepasst werden und so ihre Autonomiefähig- keit einbüssen. In einer ethnologischen Studie schreibt URSULA KOCH-STRAUBE: «Mit wachsender Defini- tions- und Entscheidungsfülle der MitarbeiterInnen wächst die Ohnmacht der BewohnerInnen, das Gefühl von Hilflosigkeit und die Überzeugung, keine Kontrolle mehr über die eigenen Belange zu haben.» Und weiter:

«Im nicht unterbrochenen Prozess der geforderten und akzeptierten Anpassung verinnerlichen die alten Menschen … ein Selbstbild, das zunehmend der Eigen- ständigkeit und Durchsetzungskraft entbehrt. Sich schwach, abhängig und schutzbedürftig zu empfin- den, wird unwiderruflich und selbstverständlich»

(2003: 300f.). Das ist jedenfalls ein zentraler Aspekt der

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