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Archiv "Vom therapeutischen Nihilismus zur Polypragmasie" (02.08.1985)

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Vom therapeutischen Nihilismus zur Polypragmasie

wiß liegt dies mehr an den für eine so gründliche Untersu- chung ganz unterschiedlich motivierten Kranken, nur zum Teil an der Ärzteschaft, aber eben auch an dieser.

1. Therapeutischer Nihilismus

Eine genaue Analyse der me- dizinischen Entwicklung in den letzten 200 Jahren zeigt, daß mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften die Dia- gnostik viel früher und viel er- folgreicher einsetzte als die Therapie. Dies wird beispiel- haft repräsentiert durch die im 19. Jahrhundert führenden Medizinschulen von Paris und Wien. Die Wiener Medizinhi- storikerin Lessky (9) und der

Baseler Medizinhistoriker Buess (2) haben diesem Phä- nomen eingehende Untersu- chungen gewidmet. Lesens- wertes findet sich auch in Mo- nographien von Ackerknecht (1), von Lichtenthaeler (8), von Rothschuh (10).

Noch nach dem bis in unsere Zeit hinein wirkenden Fried- rich von Müller (7) bestand der Ehrgeiz führender Kliniker bis in die erste Hälfte unseres Jahrhunderts hinein darin, den Sektionsbefund möglichst ge- nau vorauszusagen. In der Therapie verließ man sich (notgedrungenermaßen) auf die „vis naturae medicatrix".

Statt einer wenig wirksamen medikamentösen Therapie richteten sich die Bemühun- gen auf eine die ganze Le- bensführung umfassende

„Diätetik" (zitiert nach 1).

Noch unsere Generation hat erlebt, wie es ein ganzes Spektrum von zum Beispiel

„Magen- oder Gallenschonko- sten" gab. „Heilen oder we- nigstens nicht schaden" laute- te allenfalls die Devise, und:

„Solange wir keine spezielle Nosologie oder vollständige Theorie der Krankheit ha- ben ..., solange haben wir auch keine genügende oder

vollständige rationelle und di- rekte Therapie". Diese Aus- führungen von Hildenbrand (1807) hätten — mit einigen Einschränkungen — auch 1907 gesagt werden können.

2. Wandel in der Therapie

Zwar hat die Diagnostik ihren Triumphzug durch Übernahme naturwissenschaftlicher Me- thoden fortgesetzt und ausge- baut. Beispielhaft erwähnt sei- en nur die bildgebenden Ver- fahren. In der (medikamentö- sen) Therapie ist der Nihilis- mus der Jahrhundertwende ei- ner emsigen Aktivität, zum Teil einer Überaktivität gewi- chen. Die sich dabei über- schneidenden Phänomene sollen im folgenden wenig- stens in ihren Grundrissen be- leuchtet werden.

3. Symptomatische Therapie

Es wird sie immer geben und geben müsssen, etwa in der Ausschaltung von Schmerzen, in der Beseitigung von Angst oder Schlaflosigkeit, in der schonenden Senkung über- höhter Temperaturen und so weiter. Jeder erfahrene Klini- ker weiß aber aus seinen Ana- mnesen, daß manche Kolle- gen in Klinik und Praxis vor- dergründige Symptome be- handeln anstelle der Ursachen und des natürlichen Ablaufs der Krankheit als solcher. Im- mer noch verhindern immer neue Versuche mit zum Bei- spiel Hustenmitteln, Magen- mitteln, Psychopharmaka und so weiter, daß die lebensret- tende Frühdiagnose eines noch operablen Karzinoms rechtzeitig gestellt wird. Ge-

Wir haben dagegen schon vor Jahren (4) empfohlen, daß man den — durchaus erlaubten

— Versuch der symptomati- schen Behandlung einer Krankheit mit vermuteter Ten- denz zur Selbstheilung vorher auf zwei bis drei Wochen be- schränken und diese Frist bei Erfolglosigkeit nicht immer wieder verlängern sollte. Fehlt es hier nicht manchmal an der selbstkritischen Frage: „Weiß ich das sicher und aus wel- chen Gründen?" Ganz anders sind naturgemäß symptomati- sche Maßnahmen bei bekann- ten Grundleiden zu beurteilen.

Hier liegt eine „adjuvante"

Therapie im besten Sinne des Wortes vor, die die kausale unterstützt oder sie ersetzt, wenn eine solche nicht mehr möglich ist.

4. Wiederherstellung der Homoiostase

Gerade in Notfällen, auf Inten- sivstationen, aber auch in der Praxis (z. B. bei [3]) muß die Diagnostik — etwa im Schock — häufig zurückgestellt werden oder zum Teil parallel laufen.

Alles kommt darauf an, den akut bedrohlichen Zustand als solchen zu erkennen und ab- zuwenden. Diese Maßnahmen betreffen alle Fächer der Me- dizin, in ihrem Ansatz aber vorzugsweise kardiovaskuläre, respiratorische, metabolische, neurologische Störungen. Ge- rade die heute oft interdiszi- plinär betriebene Intensivme- dizin zeigt, wie weit wir uns erfreulicherweise vom thera- peutischen Nihilismus der Vergangenheit entfernt haben, ja: wie das pathophysiologi- sche und pathobiochemische Verständnis eine spezielle No-

2254 (42) Heft 31/32 vom 2. August 1985 82. Jahrgang Ausgabe A

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sologie im oben genannten Sinne Hildenbrands, die heute an fast jedem Krankenhaus geübte Intensivtherapie erst möglich gemacht haben.

5. Polypragmasie

Paradoxerweise hat mit dieser Entwicklung auch unverkenn- bar ein neuer Trend zur Po- lypragmasie eingesetzt. Er be- ruht nicht mehr oder nicht mehr nur auf der inzwischen oft erwiesenen Wirkungslosig- keit tradierter Heilmittel, son- dern auf medizinisch und kul- turgeschichtlich höchst inter- essanten Phänomenen:

Zunächst darauf, daß der Kranke, statt etwa von einem Arzt (zum Beispiel dem Haus- arzt) abwägend und zusam- menfassend die Verordnun- gen gemeinsam zu bekom- men, eine ganze Anzahl Spe- zialisten aufsucht, von denen jeder das für „sein Organ"

und dessen Störung Tunliche verordnet, selbst auch ohne nach anderen Medikationen zu fragen. Dürfen wir uns wundern, wenn besonders äl- tere Menschen mit ihrer Multi- morbidität oft über 4 bis 6 Re- zepte mit 10 bis 15 Präparaten (darunter auch Kombinatio- nen!) verfügen und diese mit mehr oder minder großer

„Compliance" (wie es so schön auf neudeutsch heißt) zu sich nehmen — bis die Mas- senmedien zufällig einen Warnschrei des Bundesge- sundheitsamtes oder der Arz- neimittelkommission gegen bestimmte Präparate aussto- ßen? Nicht umsonst hat die Deutsche Gesellschaft für In- nere Medizin (siehe Deutsch.

Ärztebl., Heft 19 [1985] 1437) empfohlen, gerade bei älteren Menschen sich auf drei oder vier wirklich wichtige Präpara- te zu beschränken.

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Mir hat eine jahrzehntelan- ge Sprechstunde gezeigt, daß

es nicht nur Kranke gibt, die

„den modernen Giften"

gründlich mißtrauen und sie nachweisbar nicht oder nur sporadisch einnehmen. Dane- ben gibt es — auch als Zeichen unserer Zeit — ganz allgemein den Tablettensüchtigen. Er sucht gewöhnlich mehrere Ärzte auf. Er behält einmal wegen eines Durchfalls oder wegen eines „Herzstolperns"

gegebene Medikamente bei.

Die Kranken (und leider auch ein Teil ihrer Ärzte) bemerken gar nicht, daß gleichzeitig zwei, ja drei Schlafmittel oder Betablocker eingenommen werden. Wer kennt bei dieser Form von Multimedikation die wechselseitige Interferenz: Als Wirkungsverstärkung bis zur Intoxikation einerseits, als kompetitive Abschwächung bis zur Wirkungslosigkeit an- dererseits? Gewiß die wenig- sten Ärzte, die von solchen Kranken konsultiert werden!

Auch hier ist eine scharfe Trennung zwischen Sinnvol- lem und Sinnlosem nötig, an- erkannterweise schwierig, aber (leider) unabdingbar. So ist die Polychemotherapie in der Onkologie heute weltweit im Gebrauch: Durch sinnvolle Kombinationen (mit entspre- chend niedrigeren Einzeldo- sen) sollen die unerwünschten Wirkungen wegen der ver- schiedenen Angriffspunkte re- duziert, die erwünschten am Tumor addiert oder gar poten- ziert werden. Ähnliches gilt für die Kombinationen von Tri- methoprim und Sulfonamiden bei gewissen bakteriellen In- fektionen, für Kombinationen in der Parasitologie und viele andere mehr.

C) Zu den großartigsten Ent- wicklungen gegenüber dem therapeutischen Nihilismus des 19. Jahrhunderts gehören die Entdeckung, Synthese und klinische Anwendung der vie- len Hormone und Mediatoren sowie ihrer Antagonisten. Anti-

biotika decken ein immer breiteres Spektrum von Kei- men ab. Für fast alle alpha-, beta- und andere Mediatoren ist nicht nur die Zahl und Art ihrer Rezeptoren auf der Zelt- oberfläche inzwischen be- kannt. Es gibt auch meist schon eine ganze Anzahl von Agonisten und Antagonisten.

Kortisol-Derivate unterdrücken fast jede Form von entzünd- lichen Reaktionen und ihre Folgen, unabhängig von der Ursache. Der boshafte Spruch: „Wollen Sie nicht lie- ber gleich eine Familienpak- kung von Kortison?" kommt nicht von ungefähr.

Die Gefahr liegt darin, daß diese breit wirkenden Sub- stanzen einen Eingriff in den Ablauf des Krankheitsprozes- ses ermöglichen, ohne daß seine Ursachen geklärt sind.

Auch der Eingriff über die breitwirkenden Mediatoren, ohne Kenntnis der Ursachen ihrer veränderten Stellgrößen im Organismus, sind in meiner Sicht eine Form von Polyprag- masie. Nicht zufällig haben gerade jetzt (neben durchaus positiven Aspekten!) als Grundlage der Therapie die

„Problemorientierung" (5, 11, 12) und ähnliche neue Kon- zepte sich geschoben. So hat sich in den letzten 100 Jahren ein Kreis geschlossen vom therapeutischen Nihilismus zur therapeutischen Überakti- vität, zum Schrotschuß ins Dunkle.

Literatur im Sonderdruck, zu beziehen über den Verfasser.

(Dem Vorsitzenden der Arznei- mittelkommission, Herrn Pro- fessor Dr. med. Fritz Scheler, zum 60. Geburtstag am 5. Au- gust 1985 gewidmet.)

Professor

Dr. med. Rudolf Gross Haedenkampstraße 5 5000 Köln 41

Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 31/32 vom 2. August 1985 (43) 2255

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