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Archiv "Medien: Das ist ja gar nicht lustig!" (12.03.2004)

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enn ein Künstler oder Autor sich entscheidet, sein Thema als Comic umzusetzen, muss er sich darauf einstellen, nach dem Grund hierfür befragt zu werden. Die Verfasse- rin dieses Artikels war als Herausgebe- rin von Comics für anspruchsvolle, er- wachsene Leser mehr als einmal mit dem in der Überschrift zitierten entsetz- ten Ausruf konfrontiert.

Ein Comic über ein ernsthaftes The- ma widerspricht einer Erwartungshal- tung, die auf kultureller Erfahrung be- ruht. In Deutschland, einem Land ohne Comictradition, ist die Vielfalt des Co- mics, der ohnehin ein junges Medium ist, noch weitgehend unbekannt.

Kunstvolle Verschränkung von Text und Bild

Irreführend ist schon die Bezeichnung der Gattung, die sich herleitet vom „Co- mic Strip“, dem klassischen amerikani- schen Zeitungsstrip, der Anfang des 20.

Jahrhunderts auftaucht. Dieser soll gar keine andere Funktion erfüllen, als die Leser zu erheitern, eine amüsante Zu- gabe zur trockenen Lektüre sein und den Leser ans Blatt zu binden. Aller- dings gibt es auch unter den Comic Strips besonders hintersinnige und ästhetisch-formal wagemutige Arbei- ten, beispielsweise „Krazy Kat“ von George Herriman. Wenig später, in den Zwanzigerjahren, erscheinen die ersten so genannten Comic Books, Comic-Hef- te, in denen überwiegend triviale Aben- teuer- und Superheldengeschichten dargeboten werden; industrielle Mas- senware, die für eine jugendliche Ziel- gruppe konzipiert und produziert wird.

In den Sechzigerjahren beginnen dann erste Autoren den Comic als Medium für individuellen Ausdruck zu nutzen, um eigene Geschichten zu erzählen.

Robert Crumb ist einer der bekannte-

sten Zeichner dieser Underground Co- mics, der mit seinen Figuren „Fritz the Cat“ und „Mr. Natural“ Weltruhm er- langte. Seitdem haben Autoren den Co- mic als Medium für ein breites Themen- spektrum erschlossen. Und warum auch nicht? Die kunstvolle Verschränkung

von Text und Bild kann ja kaum zu ei- nem weniger komplexen und befriedi- genden Resultat führen, als es Text oder Bild für sich vermögen.

Sind die Underground-Zeichner gra- fisch noch wenig ambitioniert, beginnen in den Siebzigerjahren Künstler auch T H E M E N D E R Z E I T

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A696 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 1112. März 2004

Medien

Das ist ja gar nicht lustig!

Comic als Medium für anspruchsvolle Themen?

Art Spiegelman: Maus I thematisiert den Holocaust

© Rowohlt Verlag

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mit der Form zu experimentieren, eine neue Ästhetik zu entwickeln und in eige- nen Magazinen künstlerisch wie inhalt- lich innovative Comics zu veröffentli- chen. Einer der Protagonisten dieser Szene ist Art Spiegelman, dessen Maga- zin „RAW“ (1980 bis 1991) eine Platt- form für Zeichner war, die das Medium stilbildend geprägt haben. Art Spiegel- man selbst hat mit seinem Comic

„Maus“, erschienen in zwei Bänden 1986 und 1991, weltweit Aufsehen erregt. Dar- in befasst er sich sowohl mit der Ge- schichte seines Vaters, der den Holocaust überlebt hat, als auch mit seiner eigenen komplexen Beziehung zu seinem Vater.

Spiegelman setzt das Thema um, indem er es verfremdet, seine Charaktere als Tiere auftreten lässt. Die Juden stellt er als Mäuse dar, die Deutschen als Katzen, die Familiengeschichte wird in zwei Zeit- ebenen erzählt. „Maus“ wird 1991 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. In die- ser beeindruckenden Arbeit sind Form und Inhalt so stimmig, dass sich die Frage

„Warum als Comic?“ nach der Lektüre erübrigt hat.

Das Gleiche trifft auf „Daddy’s Girl“

von Debbie Drechsler zu, erschienen in den USA und in Kanada, in der deut-

schen Ausgabe 1998 unter dem Titel

„Konstellationen“ bei Reprodukt. Deb- bie Drechsler erzählt von sexueller Ge- walt in der Familie, zur selben Zeit ein wichtiges Thema in der gesellschaftli- chen Diskussion, mit dem sich zahlrei- che Sachbücher, Romane, Filme, Essays und andere Medien befassen. „Daddy’s

Girl“ beschreibt die Situation des Miss- brauchsopfers in der Familie auf inten- sive und einfühlsame Weise. Die Ent- scheidung der Zeichnerin, ihre Ge- schichten in Comicform zu erzählen, macht diese nicht unseriöser. Für die Il- lustratorin und Grafikerin lag es nahe, sich der Ausdrucksmittel zu bedienen, die sie beherrschte. Die Subjektivität der Perspektive wird in keinem Mo- ment geleugnet, aber gerade diese sub- jektive Sicht auf die familiären Struktu- ren zeigt, wie fortgesetzter Inzest über- haupt möglich ist und mit welchen Stra- tegien die Opfer überleben. Dieser Co- mic ist so authentisch und gleichzeitig genau, dass er zum Beispiel durchaus geeignet ist, bei der Arbeit in Bera- tungsstellen, die sich mit sexueller Ge- walt befassen, eingesetzt zu werden.

In Belgien und Frankreich heißen Comics Bandes Dessinées („gezeichne- te Streifen“) und werden als fester Be- standteil der Kultur respektiert und ge- liebt. In Belgien erscheinen Ende der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts die T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 1112. März 2004 AA697

„Konstellationen“

von Debbie Drechs- ler schildert Gewalt in einer Familie.

Marjane Satrapi beschreibt in

„Persepolis“ eine Kindheit und Jugend im Iran.

© Edition Moderne © Reprodukt

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ersten europäischen Comics in lustig- pädagogischen Magazinen für Jugendli- che. Die franko-belgischen Bandes Des- sinées entwickeln unabhängig vom ame- rikanischen Comic eigene Erzählweisen und Themen.

Besondere Beachtung verdienen heute die Comics des Autorenverlages L’Association, zu dem sich 1990 eini- ge der interessantesten französischen Zeichner zusammenschließen, um ihre eigenen Comics zu verlegen. Der Verlag ist trotz seines unkommerziellen Pro- gramms überaus erfolgreich.

Bei L’Association ist „Persepolis“

von der iranischen Zeichnerin Marjane Satrapi erschienen, das in Frankreich

Rekordauflagen erreicht hat und gerade auf Deutsch bei der Edition Moderne er- schienen ist. Marjane Satrapi schildert ihre Kindheit und Jugend im Iran. Sie be- schreibt die islamische Revolution, den Irak-Krieg, das Wüten sowohl des Schah-Regimes als auch der religiösen Führer. Auf die häufig gestellte Frage, warum sie einen Comic daraus gemacht habe (wird je eine Filmemacherin etwas Vergleichbares gefragt?), antwortet sie, dass sie es nur in diesem Medium habe vermeiden können, dramatisch und pa- thetisch zu werden. Tatsächlich ist es ihr gelungen, ihre teilweise erschütternden Erlebnisse eindringlich, aber ohne Pa- thos zu erzählen, allerdings auch ohne zu bagatellisieren. Manchmal sagt sie auch, sie habe einen Comic gemacht, weil sie die Geschichte nicht tanzen könne.

Nicht unerwähnt bleiben darf hier

„Rendsburg Prinzessinstraße“ von Elke

Steiner, erschienen 2001 bei Edition Panel. Steiner hat ein Stipendium der Jüdischen Gemeinde zu Rendsburg ge- nutzt, um nach ausgiebiger Recherche im Archiv und mit Unterstützung einer Historikerin die Geschichte der Jüdi- schen Gemeinde zu Rendsburg zu er- zählen. Dieser historisch genaue, über- aus interessante Comic wäre auch als begleitendes Material im Geschichtsun- terricht bestens geeignet.Vieles wird an- schaulicher im Comic als durch reines Zahlen-Faktenlernen.

Comiclesen müsse man lernen, heißt es häufig. Der ungeübte Leser sei kaum imstande, Text und Bild zusammenzu- bringen, es entstünde kein Lesevergnü- gen. Aber es lohnt sich, und ganz so mühevoll ist es auch wieder nicht. Es gibt erheiternde, philosophische, poetische, spannende und einfach wunderschöne Comics. Noch sind sie im Buchhandel schwer zu finden, auch deswegen sind sie so wenig bekannt. Comics in Zeitungen und Zeitschriften und die Diskussionen, die sie anregen, können das ändern. Des- halb an dieser Stelle ein Dank dem Deutschen Ärzteblatt und den geneig- ten Lesern viel Freude beim Entdecken und Comiclesen! Jutta Harms,Berlin T H E M E N D E R Z E I T

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A698 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 1112. März 2004

Literaturliste

Krazy Kat, George Herriman, Carlsen Comics (vergriffen) Fritz the Cat, Robert Crumb, Reprodukt

Maus, Art Spiegelman, Rowohlt

Konstellationen, Debbie Drechsler, Reprodukt Persepolis, Marjane Satrapi, Edition Moderne Rendsburg Prinzessinstraße, Elke Steiner, Edition Panel

Weitere Empfehlungen

Die Macht des Volkes 1 und 2, Vautrin/Tardi, Edition Mo- derne

Salut Deleuze!, Jens Balzer, Martin tom Dieck, Arrache Cœur

L´Ascension du Haut Mal, David B., L´Association Schreibheft, Zeitschrift für Literatur 51, Sprechende Bil- der. Blickstörung – vom Eigensinn der Comics, Rigodon Verlag

Comics richtig lesen, Scott McCloud, Carlsen Comics Elke Steiner erzählt

die Geschichte der Juden der Gemeinde in Rendsburg.

Die Biografie von Herbert Lewin,erzählt in einem Comic und in zweiwöchentlicher Folge seit Heft 40/2003 im Deutschen Ärzteblatt er- scheinend, bewegt viele Leser – positiv wie nega- tiv. Kritiker bemängeln, dass ein so ernstes Thema nicht als Comic behandelt werden könne, Comics seien doch Witzzeichnungen. Gewiss, das waren sie ursprünglich, doch sie haben sich weiterent- wickelt, wie Jutta Harms, eine Expertin auf diesem

Gebiet, darlegt. NJ

© Edition Panel

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