Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
AUSSPRACHE
Pemsel und Heß haben zur Strah- lenbehandlung der Gliome des Ge- hirns Stellung genommen. Sie stüt- zen sich auf ein Material von nur 78 Fällen, von denen allerdings 19 ohne histologische Bestätigung blieben, so daß sie aus einer kriti- schen Bewertung ausgeschieden werden müssen. Bedenken sind auch gegen die statistische Bear- beitung auf der Grundlage von
„Absterberaten" vorzubringen.
Darüber hinaus muß aber mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß weder die Oligoden- drogliome noch die Astrozytome des Gehirns als biologisch einheit- liche Tumorgruppe gelten können.
Nur eine Unterteilung in Untergrup- pen nach unterschiedlichen (histo- logisch bestimmbaren) Malignitäts- graden erlaubt eine vergleichende Auswertung klinischer Daten. In Übereinstimmung mit der histologi- schen Graduierung ergeben sich im eigengesetzlichen Krankheits- ablauf jeweils drei Kollektive (Dar- stellung 1).
Hier muß ausdrücklich klargestellt werden, daß die Astrozytome des Kleinhirns in ihrem eigengesetzli- chen Krankheitsablauf sich von den Großhirn-Astrozytomen total unterscheiden: Sie sind — von Ausnahmen abgesehen — tatsäch- lich gutartige Tumoren. Im eigenen größeren Kollektiv besteht für 85 Prozent der Patienten mit Klein- hirn-Astrozytomen eine Überle- benswahrscheinlichkeit von mehr als 20 Jahren! Dagegen sind die Astrozytome des Großhirns grund- sätzlich maligne Tumoren.
Werden alle drei Untergruppen zu- sammengefaßt, hat nur die Hälfte
der Patienten eine Überlebens- wahrscheinlichkeit von 21 Mona- ten; bei nur zehn Prozent ist mit ei- ner Überlebenswahrscheinlichkeit von achteinhalb Jahren zu rech- nen. Nimmt man aus der Gesamt- gruppe die Gruppe I, in der zwei- fellos atypische Fälle sowie auch seltene Fälle von im Großhirn loka- lisierten gutartigen Astrozytomen vom Typ des Kleinhirn-Astrozytoms enthalten sind, heraus, sinkt die Überlebenswahrscheinlichkeit für die Hälfte der Patienten auf zwölf Monate, und nur zehn Prozent ha- ben eine Lebenserwartung von über fünf Jahren. Werden in der Statistik Astrozytome des Klein- hirns und des Großhirns nicht ge- trennt aufgeführt, ergeben sich durchaus falsche Werte hinsicht- lich der Überlebenswahrscheinlich- keit bei Gliomen des Großhirns.
Das gilt insbesondere auch für die Bewertung der Strahlenbehand- lung. Sie ist bei Kleinhirn-Astrozy- tomen überflüssig und daher abzu- lehnen.
Unserer Darstellung liegen die ver- gleichenden Ergebnisse aus einem sehr großen Material zugrunde, das einer Sammlung aus sechs neurochirurgischen Kliniken ent- stammt1 ).
Es handelt sich um die Verlaufsda- ten von 965 Patienten mit Astrozy- tomen des Großhirns und 570 Pa- tienten mit Glioblastomen, aus- nahmslos histologisch bestätigt.
Alle wurden operiert, aber nur teil-
Neurochirurgische Kliniken und Neuro- pathologische Institute der Universitäten Bonn, Düsseldorf, Köln, München und Wien; siehe auch den Beitrag von R.
Wüllenweber im DEUTSCHEN ÄRZTE- BLATT, Heft 37/1973, Seite 2370
Mittelohrerguß
se-Öffnung eingebracht werden.
Sie bleiben über Monate in der Paukenhöhle liegen und dienen so- wohl dem Abfluß des Sekrets als auch der Dauerbelüftung der Pau- kenhöhle. Die Drainage-Röhrchen werden nach einigen Monaten häu- fig abgestoßen; im allgemeinen werden sie von den Patienten ohne weiteres toleriert und lösen keine Beschwerden aus (Abbildungen 3 und 4).
Kennzeichnend für die mitunter hartnäckige Krankheit und die viel- fältigen therapeutischen Schwierig- keiten ist es, daß auch die Pauken- drainage nicht immer zu dem Ziel, nämlich eine lufthaltige, adhäsions- freie Paukenhöhle wiederherzu- stellen, führt. In manchen Fällen kann man beobachten, wie sich al- len Bemühungen zum Trotz ein Ad- häsivprozeß mit allen seinen Aus- wirkungen entwickelt. Zu den Ver- suchen, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, gehört auch die Tu- benbestrahlung, meist mit einem kurzzeitig in die Tube eingebrach- ten Strahlenträger. Der Gedanke dabei ist, Schleimhautschwellun- gen in der Tube, welche die Pau- kenbelüftung beeinträchtigen und lymphatisches Gewebe am Tuben- eingang, welches die Infektion fördert, zu beseitigen. Gelegentlich ist man allerdings auch gezwun- gen, den Warzenfortsatz operativ zu öffnen und das Zellsystem aus- zuräumen, um fortwirkende Entzün- dungseinflüsse durch etwaige dis- krete ostitische Prozesse im War- zenfortsatz sicher auszuschalten.
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. med.
Konrad Fleischer 63 Gießen
Friedrichstraße 22
Die Strahlentherapie der Hirngliome
Zum Beitrag von Dr. med. Heinz-Karl Pemsel und Prof. Dr. med. Friedhelm Heß in Heft 37/1973, Seite 2375
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Astrozytome I---
142 Patienten bestrahlt- 154
Patienten nicht bestrahlt
•
6,0 7,5 Jahre
Astrozytome III
--- 168 Patienten - 167 Patienten
0
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40-30- 20- 10 - 0
0,0 1 : 5 100
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0,0 1,5
Astrozytome II
- -- 199 Patienten - 135 Patienten
3: 1 0 415 6:0 7,5 Jahre
Glioblastome
- -- 218 Patienten - 352 Patienten
6,0 7,5 Jahre
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1
Darstellung 1: Vergleich strahlenbehandelter und nicht strahlenbehandelter Patienten mit Astrozytomen der 3 ver- schiedenen Malignitätsgrade sowie mit Glioblastomen. Die Ordinate zeigt die Überlebenswahrscheinlichkeit (Wahr- scheinlichkeit, länger als ... Jahre zu leben) in Prozent. Unterbrochene Linie: mit postoperativer Strahlenbehandlung
■■1111.11.11■■■
weise einer postoperativen Strah- lenbehandlung unterzogen. Von den 965 Astrozytom-Fällen, die nach der Operation länger als zweieinhalb Monate überlebten, wurden 509 einer postoperativen Strahlenbehandlung unterzogen, während 456 nicht bestrahlt wur- den. Von 570 Patienten mit Gliobla- stomen, die nach operativer Be- handlung länger als zweieinhalb Monate überlebten, wurden 218 be- strahlt und 352 keiner Strahlenbe- handlung unterzogen.
Die Überlebenswahrscheinlichkeit wurde nicht nach Absterbekurven, sondern nach biologisch-statisti- schen Gesichtspunkten berechnet;
dabei wurden sowohl die Absterbe- daten wie die Überlebenszeiten der noch lebenden Probanden berück- sichtigt2). In Darstellung 1 sind die
Ergebnisse mit und ohne postope- rative Strahlenbehandlung gegen- übergestellt. Daraus ist einerseits die entscheidende Bedeutung der Einteilung nach verschiedenen Ma- lignitätsgraden (Astrozytome Grad I - II - III - Glioblastom) zu ersehen.
Gleichzeitig läßt sich der außeror- dentlich geringe Erfolg der Strah- lenbehandlung ablesen.
Bei der vom Neurochirurgen ge- stellten Indikation zur Strahlenbe- handlung spielt offenbar eine Se- lektion der Patienten eine Rolle.
Dies kommt unter anderem auch darin zum Ausdruck, daß das durchschnittliche Lebensalter bei den postoperativ bestrahlten Pa- tienten niedriger liegt: Bei Gliobla- stomen im Mittel drei Jahre, bei Astrozytomen Grad III durch-
schnittlich fünf Jahre (siehe Dar- stellung 2). Besonders ungünstig eingeschätzte Fälle werden im all- gemeinen kaum einer Strahlenbe- handlung zugeführt.
Bei den Patienten mit Astrozytomen betrug die Herddosis im Mittel 5800 R, bei den Patienten mit Gliobla- stomen 4600 R.
Auch die Parallelität der Überle- benswahrscheinlichkeit ohne und mit Strahlenbehandlung bei den unter- schiedlich graduierten Krankheits- fällen der Astrozytome vom Grad I, II und III zeigt, daß der sehr gerin- ge Effekt der Strahlenbehandlung mit hoher Wahrscheinlichkeit auf
2) Vergleiche Chin Long Chiang, Introduc- tion to Stochastic Processes in Biosta- tistics. New York und London 1970
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 32 vom 8. August 1974 2377
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Darstellung 2: Lebensalter-Verteilung in Prozent bei einer Gruppe von 168 postoperativ bestrahlten (unterbrochene Linie) und 167 postoperativ keiner Strahlenbehandlung unterzogenen Patienten mit Großhirn-Astrozytom III
Tabelle 1: Übersicht der mittleren Überlebenszeit und Art der The- rapie von 71 Glioblastom-Patienten aus den Jahren 1967 bis 1971 an der Universitäts-Nerven-Klinik Marburg (nach Solcher und Rühl- mann)
Zahl der Fälle
Mittlere Überlebenszeit in Monaten Therapie
keine Operation Bestrahlung
16 1,3
1,7 5,6 24
15 Operation und
Bestrahlung 16 9,3
Hirngliome
einer Selektion der Patienten be- ruht. Vereinzelte Krankheitsfälle mit unerwarteter oder ungewöhn- lich langer Überlebenszeit kommen mit und ohne Strahlenbehandlung vor.
Professor
Dr. med. Hans Kuhlendahl, Dr. med. Hartwig Miltz Neurochirurgische Universitätsklinik 4 Düsseldorf Moorenstraße 5
Schlußwort
Der Diskussionsbeitrag von Kuh- lendahl und Miltz stellt eine wert- volle Ergänzung unserer Untersu- chungen dar, zumal er aus neuro- chirurgischer Sicht aus einem rei- chen, in dieser Fülle sonst nicht er- faßten Krankengut schöpft. Aller- dings wird die rein neurochirurgi- sche Betrachtung dem Problem ge- nausowenig gerecht wie eine aus- schließlich strahlentherapeutische.
Dies ergibt sich auch aus den dar-
gestellten Absterbekurven, die vor allem bei Glioblastomen den Schluß zulassen, daß durch die operativen Maßnahmen die Le- bensqualität und die Überlebens- wahrscheinlichkeit des Patienten nicht entscheidend beeinflußt wür- den, so daß die wesentlich scho- nendere und weniger belastende Strahlentherapie bei dieser Tumor- form als alleinige Behandlung durchaus zu diskutieren ist.
Kuhlendahl und Miltz befinden sich im Irrtum, wenn sie davon ausge- hen, daß bei der Indikation zur Strahlenbehandlung eine positive Selektion erfolgt. Wir sind diesem Problem noch einmal nachgegan- gen und haben zur Klärung die Er- fahrungen der Neurologen (Profes- sor Solcher, Neurologische und Psychiatrische Klinik der Universi- tät Marburg) mit herangezogen (Tabelle 1), denn die Selektions- zentrale liegt sicherlich beim Neu- rologen, der die Diagnose stellt und die Behandlung vermittelt. Das sich dann ergebende Bild kann etwa wie folgt beschrieben wer- den:
Das Glioblastom ist eine tödliche Krankheit. Ausnahmen mit längerer Überlebenszeit sind extrem sel- ten. Fehldiagnosen sind hierbei immer zu vermuten. Die Le- bensverlängerung, die durch thera- peutische Maßnahmen erreicht werden kann, ist nur gering. Die Ergebnisse der alleinigen Strah- lentherapie sind nur wenig schlech- ter als die der kombinierten opera- tiv-strahlentherapeutischen Be- handlung. Die Letalität und die Ne- benwirkungen der Strahlentherapie sind, auch wenn man moderne Be- handlungsverfahren berücksichtigt, geringer als bei Operationen.
Professor Dr. med. Friedhelm Heß, Dr. med. Heinz-Karl Pemsel Universitätsklinik und Poliklinik für Strahlentherapie
und Röntgendiagnostik 3550 Marburg an der Lahn Robert-Koch-Straße 8 a 2378 Heft 32 vom 8. August 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT