A 1686 Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 109|
Heft 33–34|
17. August 2012D
ie Franzosen hängen an ih- rem Gesundheitssystem. In diesen Tagen ist in Frankreich ein Kinofilm angelaufen, der den Kampf der bretonischen Kleinstadt Carhaix für den Erhalt der Entbin- dungsstation im städtischen Kran- kenhaus beschreibt. Er beruht auf wahren Begebenheiten: Die regio- nale Gesundheitsbehörde hatte 2008 die Schließung wegen chroni- scher Defizite angeordnet. Darauf- hin demonstrierten Tausende von Stadtbewohnern und Krankenhaus- beschäftigten. Nach acht Monaten Konfrontation machten ein Verwal- tungsgericht und das Gesundheits- ministerium die Schließung rück- gängig. „Es ist nicht alles eine Fra- ge des Geldes. Wir verteidigen hier unsere Werte“, ruft eine Hauptdar- stellerin des Films. Viele der dama- ligen Demonstranten spielen mit.Bretonisches Lokalkolorit gemischt mit dem heroischen Kampf gegen die kalte Gesundheitsbürokratie aus Paris – der Streifen mit dem franzö- sischen Titel „Bowling“ (die weib- lichen Kontrahenten finden über eine Kegelmannschaft zur Versöh- nung) dürfte sein Publikum finden.
Das System ist chronisch defizitär
Die Franzosen sind lange Zeit sehr stolz auf ihr Gesundheitssystem ge- wesen. Die Weltgesundheitsorga - nisation verlieh ihm das Prädikat
„bestes Gesundheitssystem der Welt“ – allerdings vor zwölf Jah- ren. Heute ist die Bewertung nüchterner: Frankreich liegt zwar bei den meisten Gesundheitsindi- katoren wie Lebenserwartung bei Geburt und Kindersterblichkeit weiter über dem OECD-Durch- schnitt, doch das System ist chro- nisch defizitär. Japan etwa erreicht
reich; der OECD-Schnitt beträgt 9,6 Prozent.
Frankreich doktert seit Jahren an seinem Gesundheitssystem herum – nicht immer ohne Erfolg. Der im Mai abgewählte Präsident Nicolas Sarkozy etwa hat die vergleichswei- se niedrige Eigenbeteiligung der Pa- tienten erhöht, obwohl er sich damit unpopulär machte. Auch die übli- chen Zusatzversicherungen auf Ge- genseitigkeit („mutuelles“), die auf- grund der unvollständigen Absiche- rung durch die staatliche Allgemein- versicherung notwendig sind, hat Sarkozy stärker zur Kasse gebeten.
Seit 2005 sind die französischen Gesundheitsausgaben weniger stark gestiegen als in Deutschland und in Großbritannien. In der OECD lag Frankreich beim Zuwachs der Aus- gaben zuletzt auf dem vorletzten Rang. 2010 und 2011 hat Frankreich seine jährlich vom Parlament verab- schiedeten Ziele für die Ausgaben- steigerung eingehalten. Das kam zuletzt 1997 vor. Das Defizit der staatlichen Krankenversicherung sank 2011 somit um drei auf 8,6 Milliarden Euro. Doch die Unterfi- nanzierung scheint eine dauerhafte Herausforderung zu sein: Im Durch- schnitt der vergangenen zwölf Jahre musste sich das Gesundheitssystem jährlich um durchschnittlich 7,2 Mil- liarden Euro verschulden.
Vor dem Hintergrund leerer Kas- sen zeichnet sich ab, dass Sarkozys Nachfolger François Hollande die Reformen seines Vorgängers zum Großteil nicht rückgängig machen wird. Die Sozialisten wollen durch Neueinstellungen vor allem die Staatsausgaben im Erziehungswesen und im Justizwesen erhöhen. Die an- deren Bereiche, darunter das Gesund-
heitswesen, müssen umso mehr spa- ren, anderenfalls kann Hollande nicht wie geplant die staatliche Neuver- schuldung bis 2013 auf drei Prozent des BIP und 2017 auf null senken.
Premierminister Jean-Marc Ay- rault hat in der Nationalversamm- lung die Grundzüge der künftigen Gesundheitspolitik dargelegt: We- Gesundheitsmi-
nisterin Marisol Touraine will die Eigenbeteiligung der Patienten nicht erhöhen.
FRANKREICH
Gesundheitssystem am Tropf
Früher war das Gesundheitswesen der Stolz der Nation, jetzt ist es ein finanzielles Sorgenkind. Die neue sozialistische Regierung ergeht sich in Einzelmaßnahmen, statt eine klare Linie zu verfolgen. Wo die Einsparungen herkommen sollen, ist noch unklar.
Foto: dpa
Frankreich doktert seit Jahren an seinem Gesundheitssystem herum – nicht immer ohne Erfolg.
ungefähr den gleichen Gesund- heitsstandard, gibt aber rund ein Viertel weniger aus.
Auch in Frankreich altert die Be- völkerung – trotz einer höheren Geburtenrate als in Deutschland.
Zudem blasen Ineffizienzen an vielen Ecken und Enden die Kosten auf. Im vergangenen Jahr gaben die Franzosen circa 225 Milliarden Euro oder 11,8 Prozent des Brut - toinlandsprodukts (BIP) für ihr
Gesundheitssystem aus, wie die OECD meldete. Das ist zwar noch weit entfernt vom Spitzenreiter Ver- einigte Staaten mit seinen 17,4 Pro- zent des BIP, doch sonst übertreffen weltweit nur noch die Niederlande mit zwölf Prozent die Franzosen.
Deutschland liegt mit 11,6 Pro - zent des BIP knapp hinter Frank-
P O L I T I K
Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 109|
Heft 33–34|
17. August 2012 A 1687 niger Ungleichheiten im Zugang zuVersorgungsleistungen, Stopp des Abbaus des öffentlichen Dienstes, Kampf gegen die vor allem im Nor- den und Osten Frankreichs gelege- nen „Versorgungswüsten“, wo im- mer mehr Ärzte wegziehen. Viele konkrete Maßnahmen haben die Sozialisten freilich noch nicht ge- nannt. Neue Härten wollen sie den Patienten ersparen – zumindest vor- erst. Die Eigenbeteiligung der Pa- tienten werde nicht weiter erhöht, versprachen kürzlich der Haus- haltsminister, Jérôme Cahuzac, und die Gesundheits- und Sozialminis- terin, Marisol Touraine. Präsident Hollande hat auch sein Wahlkampf- versprechen eingelöst, den Zugang zu einer medizinischen Versorgung für Obdachlose und Arme wieder kostenfrei zu stellen. Die konserva- tive Vorgängerregierung hatte eine
„Eintrittsgebühr“ von 30 Euro ein- geführt und das Spektrum der medi- zinischen Dienstleistungen einge- grenzt. Vorerst gestoppt hat die Regierung auch die Bemühungen der Vorgänger, die Honorare in den staatlichen Krankenhäusern jenen in den Privatkliniken anzugleichen.
Denn aus Sicht der Sozialisten muss der Staatsdienst besser ent- lohnt werden, weil er beispielswei- se die Notfallversorgung für die breite Bevölkerung gewährleistet.
Ärzte sollen weniger Honorar fordern
Gleichzeitig übt Gesundheitsminis- terin Touraine Druck auf die Ärzte aus, damit diese weniger häufig mit ihren Honorarforderungen die Erstattungsbeträge überschreiten – eine Praxis, die in Frankreich zu- nimmt. Auch sollen die Pharma- konzerne stärker als in der Vergan- genheit zu Preissenkungen gezwun- gen werden. Als möglich gilt ferner, dass sich die Regierung mit der Apothekenlobby anlegt und die Zahl der Apotheken verringern will.
Etliche Einzelmaßnahmen sind somit auf den Weg gebracht, doch eine klare Linie lässt die Regierung bisher vermissen. Vor allem ist un- klar, wo die Einsparungen herkom- men sollen. Der Medikamentenver- brauch der Franzosen ist weiterhin deutlich höher als im OECD-
Durchschnitt. Es werden auch we- niger Generika verkauft als anders- wo. Die Kosten für Krankentrans- porte und das Krankengeld der staatlichen Gesundheitskasse bei Arbeitsausfall sind in den vergan- genen Jahren stark gestiegen.
Die Franzosen könnten indes jähr- lich 7,2 Milliarden Euro sparen, wenn sie ihre Gesundheitsausgaben
je Einwohner auf deutsches Niveau senken würden. Zu diesem Ergebnis kommt die Beratungsgesellschaft In- stitut Thomas More in einer in die- sem Jahr veröffentlichten Studie. Vor allem eine bessere Organisation sei dafür nötig. Ohne Reformen aber gibt Frankreich weiter viel Geld für Verwaltungskosten aus und hat weni- ger Mittel für patientennahe Dienst- leistungen übrig. Auch die Ärzte ver- dienen relativ wenig: Nach Angaben von Thomas More liegt das durch- schnittliche Jahreseinkommen eines Allgemeinmediziners in Frankreich bei 46 824 Euro, das sind 37 Prozent weniger als in Deutschland. In Frankreich praktizieren dafür aber auch circa 103 000 Hausärzte, fast doppelt so viele wie in Deutschland.
Ein besonderer Krisenherd sind die Krankenhäuser. Kürzlich hat die Ratingagentur Moody’s die Be - wertung der finanziellen Solidität der städtischen Universitätskran- kenhäuser gesenkt. Sie haben ihre Verschuldung in den vergangenen zehn Jahren deutlich nach oben ge- trieben und sich die Mittel teilweise durch Anleiheemissionen an den Finanzmärkten besorgt. Die Regie-
rung denkt jetzt darüber nach, den Krankenhäusern zusätzliche Fonds zur Verfügung zu stellen.
Die 2 750 Krankenhäuser sind der größte Ausgabenblock des franzö - sischen Gesundheitswesens. Unter ihnen gibt es viele kleinere Häuser, die nicht optimal genutzt werden.
Zum Vergleich: In Deutschland le- ben 17 Millionen Menschen mehr
als in Frankreich, es gibt dort aber More zufolge nur etwa 2 100 Kran- kenhäuser. Die deutschen Häuser kommen durchschnittlich auf dop- pelt so viele Betten wie jene in Frankreich. „Die ehemalige Gesund- heitsministerin Roselyne Bachelot hatte 2009 angekündigt, 150 kleine- re chirurgische Krankenhäuser oder Abteilungen zu schließen. Bis heute kam es zu keiner einzigen Schlie- ßung“, kritisiert deshalb Jean-Tho- mas Lesueur, Direktor des Institut Thomas More. Das Personal und die Lokalpolitiker hätten das jedes Mal erfolgreich verhindert.
So ist es auch im Fall der breto- nischen Kleinstadt Carhaix mit ih- ren 8 000 Einwohnern gekommen.
Nach den erfolgreichen Protesten wurde die bedrohte Kinderklinik mit dem großen städtischen Kran- kenhaus im eine Autostunde ent- fernten Brest „fusioniert“, also or- ganistorisch unter eine Leitung ge- stellt. Die Auslastung lässt nach Angaben der örtlichen Ärzte aber noch immer zu wünschen übrig.
▄
Erfolgreicher Wi- derstand gegen die Schließung der Entbindungsstation:
Der Fall des Städt- chens Carhaix dien- te dem Kinofilm
„Bowling“ (hier ein Szenenfoto) als Vor- lage.
Foto: Pathé Distribution
Christian Schubert Der Autor ist Korrespondent der „Frankfurter
Allgemeinen Zeitung“ in Paris.