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Geteilte Medienrealität? Zur Thematisierungsleistung der Massenmedien im Prozeß der deutschen Vereinigung

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Academic year: 2022

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Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung

FS m 93-209

Geteilte Medienrealität? Zur

Thematisierungsleistung der Massenmedien im Prozeß der deutschen Vereinigung

Barbara Pfetsch/Katrin Voltmer

Berlin, Dezember 1993

W issenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) Reichpietschufer 50, D-10785 Berlin

Telefon (030) 25 49 1-0

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Zusammenfassung

Massenmedien sind nicht nur neutrale Spiegel der politischen Realität, vielmehr strukturieren sie das Vermittelte auf spezifische Weise durch die Regeln, die sie bei der Selektion und Interpretation anwenden. Diese allgemein als Nachrichtenfaktoren bezeichneten Regeln sind einerseits durch die Systemlogik der M assenmedien bestimmt, andererseits aber auch durch das politische System und die normativen Erwartungen an die Funktionsweise der politischen Berichterstattung. Der erste gesamtdeutsche W ahlkam pf im Jahre 1990 bietet die Möglichkeit, der Frage nach der Gültigkeit der Nachrichtenfaktoren nachzugehen, da die Medien in Ost- und Westdeutschland (noch) durch unterschiedliche Systemkontexte bestimmt waren. Gleichzeitig bezog sich die Berichterstattung aber bereits auf denselben Referenzrahmen einer gemeinsamen Wahl in einem geeinten Deutschland. In dem Beitrag werden mittels quantitativer Inhaltsanalyse die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Struktur der politischen Nachrichten von zwei ostdeutschen und zwei westdeutschen Tageszeitungen untersucht.

Abstract

Mass media are not only neutral mirrors o f the political reality. They also structure it by applying specific rules o f selection and interpretation. These rules, which are commonly discussed as newsfactors, are determined by the mass media's internal logic as well as the political system and the normative expectations towards political news. The first all- German election campaign in 1990 offers the opportunity to study the validity o f news factors. On the one hand, the media in Eastern and Western Germany were still shaped by their specific political context; on the other hand, the frame o f reference, i.e. a joint election in a united Germany, was already identical. In this article differences and similarities o f the structure o f news will be analyzed by means o f a quantitative content analysis o f four eastern and western newspapers.

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1. Einleitung

Die ersten gesamtdeutschen Wahlen fanden unter außergewöhnlichen institutionellen Bedingungen statt: Einerseits war die staatliche Einheit formal vollzogen, andererseits wiesen die gesellschaftlichen Teilsysteme auch nach der Vereinigung bei weitem keine einheitlichen Strukturen auf. Dies gilt auch für die Medienordnung, die sich in der ehemaligen DDR im Herbst 1990 in einer Umbruchphase befand: Die alten Strukturen der autoritären Medienordnung hatten sich bereits aufgelöst, ein vollständig neues, liberales Mediensystem war aber noch nicht etabliert* 1. Mitten in dieser Übergangsphase fand der W ahlkampf zum ersten gesamtdeutschen Parlament statt. Da in Wahlkämpfen die Leistungen der Medien in einer Demokratie von zentraler Bedeutung sind, stellt sich die Frage, in welchem Ausmaß der Regimewechsel und damit einhergehend die Bedingungen des Übergangs zwischen zwei unterschiedlich strukturierten Medienordnungen die Wahlkampfkommunikation beeinflußt haben2.

Die institutionellen Bedingungen eines Mediensystems in der Übergangsphase bilden den Ausgangspunkt unserer Analysen der Thematisierungsleistung der M assenmedien in den

* Dieser Beitrag erscheint in: Klingemann, Hans-Dieter/Max Kaase (Hrsg.), Wahlen und Wähler.

Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1990, Opladen: Westdeutscher Verlag (in Vorbereitung).

1 Zur Rolle der Medien als Motoren und Opfer der politischen Entwicklung beim Zusammenbruch der DDR vgl. z.B. Andreas Feige, Gesellschaftliche Reflexivitätsprozesse und Massenkommunikation am Beispiel der DDR. Zur Funktion öffentlicher Kommunikation und besonders der Massenmedien vor und während der Massendemonstrationen im Herbst 1989, in: Publizistik, Heft 4, Bd. 35, 1990, S. 387-397;

Kurt R. Hesse, Fernsehen und Revolution: Zum Einfluß der Westmedien auf die politische Wende in der DDR, in: Rundfunk und Fernsehen, Heft 3, Bd. 38,1990, S. 328-342; Richard L. Merritt, The German Media and German Unification, Paper Prepared for Presentation at the 15th Triennial World Congress o f the IPSA, Buenos Aires/Argentinien, Juli 1991; Monika Lindgens/Susanne Mahle, Vom Medienboom zur Medienbarriere. Massenmedien und Bürgerbewegungen im gesellschaftlichen Umbruch der DDR und im vereinten Deutschland, in: Rainer Bohn/Knut Hickethier/Eggo Müller (Hrsg.), Mauer-Show. Das Ende der DDR, die deutsche Einheit und die Medien, Berlin: Edition Sigma 1992, S. 95-112.

2 Die besondere Relevanz der Medienberichterstattung im Wahlkampf 1990 ergibt sich auch aus der historischen Situation, in der sich die Bürger im Osten Deutschlands befanden: Aufgrund fehlender Erfahrung mit demokratischen Institutionen mußten sie sich weitgehend auf die Informationen aus den Massenmedien stützen. Die Mediennutzungsdaten zeigen im Jahre 1990 im Osten eine höhere Reichweite der tagesaktuellen Informationsmedien und eine stärkere Politik- und Informationsorientierung als im Westen. Vgl. Marie-Luise Kiefer, Massenkommunikation 1990, in:

Media Perspektiven, 4/1991, S. 244-261. Für die Informationssuche der Bürger waren Ost- und Westmedien gleichermaßen bedeutend - vgl. dazu Beiträge in Rundfunk und Fernsehen, Heft 3, Bd. 38, 1990.

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alten und neuen Bundesländern. W ir fragen, wie sich die politische Medienrealität angesichts der Umwälzung des Mediensystems im Osten Deutschlands während des Wahlkampfes darstellte. M it Bezug auf Konzepte zur Realitätskonstruktion der Massenmedien, der Nachrichtenfaktorenforschung3 sowie der Agenda-Forschung4 konzeptualisieren wir die Thematisierungsleistung, indem w ir zwischen dem Auswahlverhalten der Medien (Selektion) einerseits und der Kontextualisierung (Interpretation) andererseits unterscheiden. Diese Dimensionen beziehen wir auf die zentralen Objekte der Wahlkampfkommunikation, nämlich politische Sachfragen und politische Akteure. Im Mittelpunkt der empirischen Untersuchung steht ein Vergleich der Selektions- und der Interpretationskriterien in ausgewählten Printmedien Ost- und Westdeutschlands. M it Blick auf die Umbruchphase der Medienordnung erwarten wir Unterschiede zwischen Ostmedien und Westmedien sowohl hinsichtlich der Auswahl von Themen und Akteuren als auch hinsichtlich deren Problematisierung und Bewertung.

Umgekehrt würde der Befund weitgehender Übereinstimmung der W ahlkampf­

berichterstattung dafür sprechen, daß sich innerhalb kurzer Zeit in den Ostmedien eine enorme Anpassungsleistung an eine in liberalen M ediensystemen vorherrschende M edienlogik vollzogen hätte, die nicht durch externe politische, sondern durch medieninterne Produktionsbedingungen und professionelle Auswahlkriterien zu erklären wäre.

2. Zur Konzeption der Untersuchung

2.1. In stitu tio n e lle Stru ktu rb ed in g u n g en d e r T h em a tisieru n g sleistu n g d er M a ssen m ed ien : M ed ien o rd n u n g im W andel

In der Diskussion um die Logik der Medienrealität wird häufig ausgeklammert, daß die Thematisierungsleistung nicht unwesentlich von dem Handlungsspielraum abhängt, den das politische System den Medien einräumt. Der Grad an Autonomie bzw. staatlicher Kontrolle der Medien findet in der Institutionalisierungsform von Mediensystemen sowie deren politischen Funktionen seinen Niederschlag5. Dieser Aspekt ist gerade in

3 Vgl. Winfried Schulz, Die Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien, Freiburg/München:

Alber 1976.

4 Vgl. John W. Kingdon, Agendas, Alternatives, and Public Policies, Boston/Toronto: Little, Brown and Company 1984; Roger W. Cobb/Charles D. Elder, Participation in American Politics. The Dynamics o f Agenda-Building, 2. Ausgabe, Baltimore/London: The John Hopkins University Press 1983.

5 Vgl. Ulrich Saxer, Der gesellschaftliche Ort der Massenkommunikation, in: Hannes Haas (Hrsg.), Mediensysteme. Struktur und Organisation der Massenmedien in den deutschsprachigen Demokratien, Wien: Braunmüller 1987, S. 8-21.

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vergleichender Perspektive von Bedeutung: Während in der alten Bundesrepublik eine liberale Presseordnung und ein duales Rundfunksystem gegeben sind, läßt sich die ehemalige DDR dem Typus eines autoritären Mediensystems zuordnen.

Die Struktur autoritärer Medienordnungen ist durch die an sie herangetragenen Ansprüche des politischen Systems geprägt6. So wurden die Medien der DDR von der SED zur Mobilisierung und Erziehung der Bevölkerung eingesetzt; sie galten damit als Instrument der Herrschaftssicherung und -legitimierung. Institutionell war der Zugriff auf die Medien dadurch abgesichert, daß sie fast ausschließlich im Besitz der SED, der Blockparteien oder der Massenorganisationen waren und ständiger staatlicher Überwachung unterlagen.

Die Funktionen der Massenmedien im DDR-Sozialismus implizierten bestimmte normative Erwartungen hinsichtlich ihrer Thematisierungsleistung: Die Berichterstattung sollte parteilich für die herrschende Staatsdoktrin Stellung beziehen und alternative Problemsichten und Interpretationen weitgehend ausschließen. Kritik war auf marginale Defizite begrenzt. Infolgedessen herrschte praktisch eine politische Themenkontrolle, z.B.

in Form von Listen, die Tabu-Themen und Hinweise auf Argumentationspräferenzen der Partei enthielten7. Das Selections- und Interpretationsverhalten der Journalisten orientierte sich primär an diesen externen Kommunikationsinteressen, d.h. den Vorgaben der Partei, politischer W ünschbarkeit und möglichen politischen Konsequenzen einer M eldung8.

Typisch für die autoritäre Medienordnung der DDR war, daß die Medien darauf abzielten, die Entfaltung einer öffentlichen Artikulationskultur zu verhindern9. Statt dessen wurde eine offizielle, nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche politisierende Öffentlichkeit etabliert, die sich wegen ihrer Instrumentalisierung als Schein-Öffentlichkeit charakterisieren läßt. Eine besondere Situation ergab sich freilich daraus, daß durch die Erreichbarkeit des Westfernsehens eine alternative Informationsmöglichkeit gegeben war10.

M edienordnungen liberaler oder gesellschaftlich-kontrollierter Natur sind im Gegensatz zu autoritären Systemen gerade durch das Postulat der Unabhängigkeit von staatlichen

6 Vgl. Gunter Holzweißig, Massenmedien unter Parteiaufsicht - Lenkungsmechanismen vor der Wende in der DDR, in: Rundfunk und Fernsehen, Heft 3, Bd. 38,1990, S. 365-376.

7 Vgl. ebd.

8 Vgl. Peter Hoff, "Vertrauensmann des Volkes". Das Berufsbild des "sozialistischen Journalisten" und die "Kaderanforderungen" des Fernsehens in der DDR - Anmerkungen zum politischen und professionellen Selbstverständnis von "Medienarbeitem" während der Honecker-Zeit, in: Rundfunk und Fernsehen, Heft 3, Bd. 38,1990, S. 385-399; Holzweißig, Massenmedien unter Parteiaufsicht (Anm. 6).

9 Um die immanenten Informationsdefizite zu kompensieren, mußte das Publikum die Fähigkeit entwickeln, in bestimmten Variationen der offiziellen Sprachrituale Hinweise auf Konflikte und Problemlagen zu erkennen. Ein Teil der Bürger bildete Gegenöffentlichkeiten, was allerdings mit erheblichen Risiken verbunden war.

10 Die Konsequenzen dieser "doppelten Medienlandschaft" in der ehemaligen DDR werden hier nicht weiterverfolgt, weil wir uns im wesentlichen auf die Printmedien konzentrieren. Zur Rolle der Westmedien im Umbruch vgl. Hesse, Fernsehen und Revolution (Anm. 1).

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Einflußversuchen gekennzeichnet. Die Institutionen dieser M edienordnungen sind idealtypisch sowohl durch ihre Verfaßtheit als auch durch diversifizierte Eigentumsverhältnisse darauf ausgerichtet, die Dominanz partikularer, externer Kommunikationsinteressen abzuwehren. Im Gegensatz zum autoritären Modell besteht eine der wesentlichen Prämissen liberaler Mediensysteme gerade darin, Öffentlichkeit herzustellen und nicht, Öffentlichkeit zu verhindern11. Den M edien wird dabei eine objektive Darstellung der Sachverhalte, in der die Vielfalt unterschiedlicher, auch konfligierender Problemsichten und Interpretationen wiedergegeben wird, abverlangt.

Dieses Vielfaltspostulat soll durch die Vielzahl unterschiedlicher M edien mit unterschiedlichen Standpunkten gewährleistet werden. Darüber hinaus ist die politische Medienberichterstattung aufgrund weitaus geringerer externer Sanktionsmechanismen in hohem Maße von internen Regeln und Selektionskriterien wie M edienformaten12 oder Nachrichtenfaktoren13 geprägt.

Lassen sich die idealtypischen Formen von Medienordnungen noch vergleichsweise leicht auf die beiden ehemaligen deutschen Staaten übertragen, so stellen sich für die Übergangsphase nach dem Fall der Mauer erhebliche Probleme der Zuordnung der Ostmedien in dieses Schema ein: Einerseits ist es im Jahre 1990 nicht mehr angebracht, die Medien der damals noch existierenden DDR pauschal als autoritär zu etikettieren. Die externen Kontrollinstanzen waren zusammengebrochen, und die Staatsideologie hatte damit rasch ihren absoluten Geltungsanspruch verloren. Die internen organisatorischen und personellen Veränderungen waren aber noch unklar oder erst in Ansätzen vollzogen:

Um ihre ökonomische Existenz zu sichern, hatten die Printmedien der DDR begonnen, sich aus SED-Bindungen zu lösen und Kooperationen m it westdeutschen Verlagen einzugehen. Doch trotz der sich verändernden Eigentumsstruktur kam es, insbesondere auf der Leitungsebene, nicht zu einem umfassenden personellen Austausch. Obwohl die Journalisten (insbesondere des Fernsehens) nach Wegfall des äußeren Drucks schnell zu einer offenen und kritischen Berichterstattung übergegangen w aren14, bleibt offen, inwieweit gleichzeitig alte Normen fortbestanden und das Selektions- und Interpretationsverhalten der Medien bestimmten.

11 Vgl. Jürgen Gerhards/Friedhelm Neidhardt, Strukturen und Funktionen moderner Öffentlichkeit, in:

Stefan Müller-Doohm/Klaus Neumann-Braun (Hrsg.), Öffentlichkeit, Kultur, Massenkommunikation, Oldenburg 1991, S. 31-90.

12 David L. Altheide/Robert P. Snow, Toward a Theory o f Mediation, in: James A. Anderson (Hrsg.), Communication Yearbook, Bd. 11, Newbury Park/Beverly Hills: Sage 1988, S. 194-223; Barbara Pfetsch, Politische Folgen der Dualisierung des Rundfunksystems in der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden: Nomos 1991.

13 Vgl. Schulz, Konstruktion von Realität (Anm. 3); Joachim Friedrich Staab, Nachrichtenwert-Theorie.

Formale Struktur und empirischer Gehalt, München: Alber 1990.

14 Vgl. Hannes Bahrmann, Wende und journalistisches Selbstverständnis in der DDR, in: Rundfunk und Fernsehen, Heft 3, Bd. 38,1990, S. 409-416.

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Jedenfalls ist für das Jahr 1990 in keiner Weise von einer einheitlichen gesamtdeutschen Medienordnung liberaler oder öffentlich-rechtlicher Natur auszugehen. Diese Situation wirft die Frage auf, ob die institutioneilen Bedingungen der sich rasch verändernden Medienordnung mit unterschiedlichem Medienhandeln und infolgedessen mit einer unterschiedlichen Thematisierungsleistung in Ost und West in Verbindung zu bringen sind.

In welcher Form und Intensität sich die politische Medienrealität unterschied, ist eine empirische Frage, der wir im weiteren für den Bundestagswahlkampf 1990 nachgehen.

2.2. M ed ien h a n d eln u n d p o litisc h e M e d ie n re a litä t im W ahlkam pf: Z u r S elektio n u n d In terp reta tio n von Them en u n d A k te u re n

Die wesentlichen inhaltlichen Objekte der Wahlkampfkommunikation, auf die sich sowohl die Mobilisierung der Parteien als auch das Auswahlverhalten und die Interpretation der Medien konzentrieren, sind Themen und politische Akteure. Der Zusammenhang von Themen und Akteuren ist durch den Versuch der Parteien gegeben, bestimmte Themen auf die Agenda zu setzen und sie mit ihren Kandidaten in Verbindung zu bringen15. Die W ahl­

kampfkommunikation ist also einerseits durch das Handeln der Parteien gekennzeichnet, für ihre Politikangebote Öffentlichkeit herzustellen. Andererseits konstituieren die Medien durch ihre Thematisierungsleistung eine Realität eigener Qualität, die m ehr ist als eine bloße Widerspiegelung der Agenda der am W ahlkampf beteiligten A kteure16. Hinter der Frage nach der Thematisierungsleistung der Massenmedien stehen in der Regel Konzepte, die die Rolle der Medien als Realitätskonstrukteure beleuchten. Das Medienhandeln zur Herstellung dieser medialen Wirklichkeit läßt sich mit Hilfe von Kriterien, die deren Selektion und die Interpretation erfassen, konzeptualisieren.

Ein Ansatz, das Auswahlverhalten, also die Dimension Selektion, zu erfassen, ist die Nachrichtenwerttheorie: Die Medien wählen diejenigen Objekte aus, die den durch die journalistischen Professionskriterien determinierten Hypothesen von Wirklichkeit

15 Rainer Mathes/Uwe Freisens, Kommunikationsstrategien der Parteien und ihr Erfolg. Eine Analyse der aktuellen Berichterstattung in den Nachrichtenmagazinen der öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkanstalten im Bundestagswahlkampf 1987, in: Max Kaase/Hans-Dieter Klingemann, Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1987, Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, S.

531-568.

16 Je nach wissenschaftstheoretischem Standpunkt werden in der Literatur entweder eine mehr oder weniger bewußte Manipulation, etwa durch Methoden der instrumenteilen Aktualisierung (z.B. Hans Mathias Kepplinger, unter Mitarbeit von Hans-Bernd Brosius/Joachim Friedrich Staab/Günter Linke, Instrumentelle Aktualisierung. Grundlagen einer Theorie publizistischer Konflikte, in: Max Kaase/Winfried Schulz [Hrsg.], Massenkommunikation. Theorien, Methoden, Befunde, Opladen:

Westdeutscher Verlag 1989, S. 199-220), oder immanente Prozesse des publizistischen Produktions­

und Selektionsprozesses (z.B. Winfried Schulz, Massenmedien und Realität. Das ptolemäische und das kopemikanische Weltbild, in: ebd., S. 135-149) als Begründungsmuster herangezogen.

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(Nachrichtenfaktoren) am ehesten entsprechen. D.h. die Selektionsleistung der Medien läßt sich mit Hilfe der im Medienoutput repräsentierten Merkmale beschreiben, die den Nachrichtenwert konstituieren. Dabei kann ein weitgehend verbindlicher Kanon von Regeln unterstellt werden. Gleichwohl sind die Intensität und die Ausprägung der meisten Nachrichtenfaktoren auch kontext- und zeitabhängig insofern, als sie durch die institutionellen Bedingungen des Mediensystems mit der darin geltenden historischen und politischen Nachrichtenideologie17 und den entprechenden Sozialisationseffekten journalistischer Produktion innerhalb einer bestimmten Kultur geprägt sind18.

Die zweite Dimension der Thematisierungsleistung der Medien, die Interpretation, beinhaltet die Kontextualisierung der ausgewählten Objekte. Sieht man davon ab, daß jede Selektionsentscheidung bereits in gewissem Maße eine Interpretation von Wirklichkeit darstellt, bezieht sich der hier verwendete engere Begriff der Interpretation auf die Leistung der Medien, die ausgewählten Objekte in einen sinnhaften Bezug der Relevanz und normativen Richtigkeit zu stellen. Demnach kann ein Sachverhalt als Erfolg oder Defizit, können die Eigenschaften und Handlungen politischer Akteure als gut oder schlecht interpretiert w erden19. Die Bedeutung der so verstandenen Interpretation politischer Objekte besteht in ihren Auswirkungen auf den Prozeß der Policyformulierung:

Folgt man z.B. Kingdons20 Konzept des Agenda-Building, so müssen politische Sachverhalte nicht nur ausgewählt, sondern auch als Probleme identifiziert werden, um politisch relevant zu werden. Die Kontextualisierung im Sinne der Problematisierung der ausgewählten Themenbereiche lenkt die öffentliche Aufmerksamkeit und signalisiert damit politischen Handlungsbedarf; die normative Bewertung von Akteuren wirft die Frage ihrer Problemlösungskompetenz auf. Gerade durch ihre Interpretationsleistung tragen die Medien somit zur Adaptivität des politischen Systems bei21.

Faßt m an die Überlegungen zur Thematisierungsleistung der Medien zusammen, so ergibt sich ein Analysemodell, das die inhaltlichen Objekte der W ahl­

kampfkommunikation, d.h. Themen und Akteure, in Abhängigkeit des Medienhandelns konzeptualisiert. Ausgangspunkt ist, daß das Medienhandeln in der Selektion und Interpretation dieser Objekte besteht. In Anlehnung an das Konzept der politischen Kultur22 kann angenommen werden, daß ein Wandel der strukturellen Bedingungen eines 17 Vgl. Jörgen Westerstahl/Folke Johannson, News Ideologies as Moulders of Domestic News, in:

European Journal o f Communication, 1/1986, S. 133-149; John L. Martin/Anju Grover Chaudhary, Comparative Mass Media Systems, New York: Longman 1983.

18 Vgl. Johan Galtung/Mari H. Ruge, The Structure of Foreign News, in: Jeremy Tunstall (Hrsg.), Media Sociology, London/Chicago: University of Illinois Press 1970.

19 Vgl. Hans-Dieter Klingemann/Katrin Voltmer, Political Issues and the Media Agenda, Paper Prepared for the Annual Meeting of the American Political Science Association, Washington, D.C., September 1991.

20 Vgl. Kingdon, Agendas (Anm. 4).

21 Vgl. Niklas Luhmann, Öffentliche Meinung, in: Politische Vierteljahresschrift, 11/1970, S. 2-28.

22 Vgl. Gabriel Almond/Sidney Verba, The Civic Culture, Princeton: Princeton University Press 1963.

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sozialen Systems mit einer Veränderung der Orientierungsmuster einhergeht. Im Fall des Mediensystems dürfte sich ein Wandel auf die Ausprägung und Intensität der Selektions­

kriterien und Interpretationsmodi niederschlagen. Bei einem Ost/West-Vergleich wäre daher ein unterschiedlich ausgeprägtes Medienhandeln in bezug auf die Selektions- und Interpretationsmuster politischer Sachverhalte und Akteure möglich und wahrscheinlich.

2.3. M e d ie n o rd n u n g u n d M ed ien h a n d eln im O stfW est-V ergleich: A n a ly s e ­ dim ensionen, O p era tio n a lisieru n g u n d H yp o th esen

Für die Analyse der Thematisierungsleistung der Medien konzentrieren wir uns hinsichtlich der Selektionsdimension auf die drei Nachrichtenfaktoren Nähe, Valenz und Status, die sich in den meisten empirischen Studien zur Nachrichtenberichterstattung als zentral herausgestellt haben23. Die Interpretationsdimension der Wahlkampfkommunikation untersuchen wir mit Blick auf die Problematisierung von Themen und die Bewertung politischer Akteure.

Der das Selektionsverhalten der Medien organisierende Faktor Nähe bezieht sich sowohl auf politische Themen als auch auf Akteure und drückt eine geographische und kulturelle Unmittelbarkeit des Objektes der Berichterstattung aus. Die Bedeutung dieses Auswahlkriteriums ist im Kontext der politischen Situation im Untersuchungszeitraum eine doppelte: Sie kann auf eine parochiale Orientierung hinweisen, wobei die eigene unmittelbare Betroffenheit der dominante Bezugspunkt ist, bzw. auf eine kosmopolitische Orientierung, wobei der Bezugsrahmen auf die Gesamtgesellschaft ausgedehnt wird24. Das Kriterium Nähe kann sich aber auch auf die Relevanz politischer Themen und Akteure für den jeweiligen Einzugsbereich beziehen. Unterstellt wird für den Ost/West-Vergleich, daß jeweils solche Objekte deutlicher repräsentiert sind, die einen Bezug zum räumlichen und kulturellen Einzugsbereich des Mediums und seines Publikums haben. Angesichts der sich verändernden institutioneilen Bedingungen läßt sich geographische und kulturelle Nähe mit der Öffnung der Perspektive innerhalb und außerhalb der Medien in Verbindung bringen. Im konkreten Fall der Vereinigung Deutschlands ist damit zu fragen, wie stark die Ost- bzw. die W estmedien jeweils auf den anderen Teil Deutschlands Bezug nehmen.

Den Faktor Valenz erfassen wir im Sinne des Ausmaßes und der Intensität von Konflikt bzw. Konsens politischer Themen in der Berichterstattung. Die Konflikthaltigkeit von Politik in den Medien repräsentiert das für die Nachrichtenmedien in liberalen Systemen typische Muster, daß von der Norm abweichende, umstrittene und in diesem Sinne 23 Vgl. Staab, Nachrichtenwert-Theorie (Anm. 13).

24 Zu dieser begrifflichen Dichotomie s. Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 2.

Ausgabe, New York: The Free Press 1968.

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dramatische Ereignisse einen höheren Nachrichtenwert haben als konsensuelle Sachverhalte. Dagegen bedingt die eher instrumentelle Funktion der Medien in autoritären Systemen, daß sich die Nachrichtenauswahl am Muster der Normerfüllung orientiert. Ost- und W estmedien dürften sich im Prozeß der Vereinigung vor allem dadurch unterscheiden, daß die Westmedien stärker im Sinne ihrer Selektionsregeln auf die Konfliktdimension von Themen abheben. Umgekehrt wäre bei den Ostmedien, folgt man deren "alter Medienlogik", eher eine Betonung der konsensuellen Elemente zu unterstellen.

D er Faktor Status, der sich in Studien zur Nachrichtenberichterstattung als wichtiges Kriterium für den Nachrichtenwert erwiesen hat, berücksichtigt die Eliteposition politischer Akteure25. Danach haben statushohe Akteure eine größere Chance, Zugang zur M edienagenda zu erhalten, als statusniedrige.

Schaubild 1:

Analysedim ensionendes Ost/West-Vergleiches

Medienhandeln

Inhaltliche Objekte

Themen Akteure

Selektion - Nähe - Nähe

(räumliche Nähe/ (kulturelle Nähe/

Relevanz) Relevanz)

- Valenz - Status

(Konflikt) (Eliteposition) Interpretation - Problematisierung - Bewertung

Die Interpretationsleistung der Medien im W ahlkampf kann mit Bezug auf die in der Berichterstattung erkennbare Problemintensität von Themen sowie die Bewertung der Performanz der politischen Akteure konzeptualisiert werden. Liberale Systeme bieten die strukturelle Voraussetzung für eine Vielfalt konkurrierender Interpretationsmuster. Für die Medien im Westen ist die Berichterstattung auf diesen Dimensionen immer wieder mit der politischen Grundhaltung des einzelnen Mediums in Verbindung gebracht worden;

insofern ist hier eine Heterogenität von Problemsichten und Bewertungen zu erwarten. In autoritären Systemen haben die Medien dagegen die Funktion, eine Homogenität der Inter­

25 Vgl. Schulz, Konstruktion von Realität (Anm. 3).

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pretationen herzustellen; insofern sind Problemsichten und Bewertungen dem Prinzip Einheitlichkeit verpflichtet. In der Übergangsphase des Mediensystems nach der Vereinigung Deutschlands stellt sich für die Ostmedien daher die Frage, ob sie bereits neue und eigene Orientierungsmuster für die Interpretation von Politik gefunden haben.

Die Dimensionen der Analyse im Ost/West-Vergleich lassen sich in Schaubild 1 noch einmal zusammenfassen.

3. Zur Anlage der empirischen Untersuchung: Medienauswahl, Unter­

suchungszeitraum und Stichprobe

Der vorliegende Beitrag entstand im Kontext der Medienanalyse des Projektes

"Vergleichende Wahlstudie - Bundestagswahl 1990 in West- und Ostdeutschland (Comparative National Election Project [CNEP])"26. Die quantitative Inhaltsanalyse umfaßt die Berichterstattung des Fernsehens und der Printmedien in bezug auf die Struktur der Themenagenda und die Präsenz und Bewertung politischer Akteure in der zweiten Hälfte des Jahres 1990.

Die hier im M ittelpunkt der Untersuchung stehende Analysedimension ist der Ost/West- Vergleich. W ir betrachten deswegen nur Printmedien, um Variationen, die auf spezifischen Präsentationsformen und der Verfaßtheit des Fernsehens beruhen, auszuschließen. Für den Westen basieren die Auswertungen auf Artikelstichproben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) und der Süddeutschen Zeitung (SZ), für den Osten der Berliner Zeitung (BZ) und der Leipziger Volkszeitung (LVZ)27. Untersucht werden die ersten drei Seiten 26 Das Projekt wird gemeinsam geleitet von Max Kaase (Mannheim), Hans-Dieter Klingemann (Berlin),

Manfred Küchler (New York) und Franz Urban Pappi (Mannheim). An dem Vorhaben sind wissenschaftlich beteiligt: Rolf Hackenbroch (Berlin), Rainer Mathes (Frankfurt a.M.), Barbara Pfetsch (Mannheim), Rüdiger Schmitt-Beck (Mannheim), Peter R. Schrott (Mannheim), Katrin Voltmer (Berlin) und Bernhard Weßels (Berlin). Neben der Medienanalyse (vgl. zu den eisten Ergebnissen dieses Teils Max Kaase/Peter R. Schrott, Political Information in the 1990 German General Election: Comparing West German and East German Media, Paper Prepared for the Annual Meeting of the American Political Science Association, Washington, D.C., September 1991; Rüdiger Schmitt-Beck/Peter R.

Schrott, Dimensionen der Mediennutzung in West- und Ostdeutschland. Eine vergleichende Untersuchung zu Rezeptionsmustem von Tageszeitung und Fernsehen, in: Media Perspektiven, 6/1992, S. 376-392) umfaßt die Studie eine Befragung der Bevölkerung West- und Ostdeutschlands (vgl. Franz Urban Pappi, Wahrgenommenes Parteiensystem und Wahlentscheidung in Ost- und Westdeutschland.

Zur Interpretation der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B44, 1991, S. 15-26; Manfred Küchler, "Anschluß über alles?" - What did the voters decide in the 1990 German elections?, Paper Prepared for the Annual Meeting of the Midwest Political Science Association, Chicago: April 1991).

27 Ausgangspunkt der Auswahl sind die überregionalen Qualitätszeitungen der alten Bundesrepublik, also Die Welt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau und Die Tageszeitung. Eine analoge Auswahl für Ostdeutschland zu treffen, war nur mit Einschränkungen möglich, da sich die Struktur der Medienlandschaft in wesentlichen Aspekten unterschied. Zwar gab es

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und die Kommentare. Nicht-politische Artikel sowie Artikel, die die internationale Politik betreffen, bleiben ausgeklammert.

Unsere Stichprobe beginnt mit dem 1. Juli 1990, also m it dem Datum der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Von diesem Zeitpunkt an kann man von einem W ahlkampf sprechen, der sich eindeutig auf Ost- und Westdeutschland als einer Einheit bezog. Der Untersuchungszeitraum endet eine Woche nach der Bundestagswahl am 8. Dezember 1990. Um einerseits die längsschnittliche Qualität des Materials zu bewahren, andererseits die zu bearbeitende Menge zu begrenzen, umfaßt die Stichprobe lediglich jede dritte Ausgabe. Dieser Auswahlrhythmus gewährleistet, daß jeder Wochentag mit gleicher Häufigkeit vertreten ist. Insgesamt umfaßt das Untersuchungssample also 23 W ochen mit 54 Stichprobentagen (Ausgaben) für jedes Medium.

Bei der Definition der Analyseeinheit wurde ein Zwei-Ebenen-Ansatz gewählt. Die generelle Ebene, auf die sich der überwiegende Teil unserer Auswertungen bezieht, stellt der Artikel dar. Die nächst kleinere Analyseeinheit, der Absatz, ermöglicht zusätzliche Detailanalysen. Nach diesen Kriterien besteht die Stichprobe der FAZ aus 600 Artikeln (3054 Absätze), die der SZ aus 865 Artikeln (3809 Absätze), die der BZ aus 1042 Artikeln (3716 Absätze) und die der LVZ aus 1369 Artikeln (5880 A bsätze)* 28.

Das Codeschema umfaßt sowohl Variablen zu Art, Umfang und Struktur politischer Themen im W ahlkampf als auch Variablen zu den individuellen und kollektiven politischen Akteuren. Durch seinen Aufbau ist es möglich, die Verknüpfung von Themen und Akteuren in den Medien abzubilden29.

in der DDR eine Reihe überregionaler Tageszeitungen, diese waren aber Publikationsorgane von Par­

teien oder Massenorganisationen. Aus diesem Grund wählten wir auflagenstarke Regionalzeitungen aus:

Die Ostsee-Zeitung für den nördlichen Raum, die Berliner Zeitung für das Ballungsgebiet Berlin und den mittleren Raum und die Leipziger Volkszeitung für den südlichen Raum. Zum Zeitpunkt unserer Analysen lagen die Daten der oben genannten vier Zeitungen in der erforderlichen datentechnischen Form vor.

28 Die unterschiedliche Anzahl der Artikel in den vier Zeitungen ergibt sich aus dem jeweiligen Anteil, den nicht-politische Artikel und Meldungen der internationalen Politik auf den ersten Seiten einnehmen. Je höher dieser Anteil ist, desto niedriger ist die Gesamtzahl der verschlüsselten Artikel. Zum Verhältnis von Absätzen pro Artikel liegen keine west-/ostspeziflschen Unterschiede vor, hier nimmt lediglich die FAZ eine Sonderstellung ein (5,1 Absätze pro Artikel; SZ: 4,4; BZ: 4,6; LVZ: 4,3).

29 Die Einzelindikatoren werden im j eweiligen Ergebnisteil erörtert.

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4. Ergebnisse

4.1. Them en u n d A k te u re in d e r B e rich tersta ttu n g

Eine unterschiedliche Medienrealität in Ost- und Westdeutschland kann sich zunächst dadurch konstituieren, daß die Themenstruktur und die Repräsentanz politischer Akteure variieren. Als Indikator der Struktur der Medienagenda im W ahlkam pf analysieren wir das zentrale Thema des Nachrichtenartikels. Das Kategorienschema umfaßt hier eine umfangreiche, hierarchisch gegliederte Liste von Themenaspekten, die w ir zu acht übergeordneten Themenbereichen zusammengefaßt haben. Kriterium der Systematisierung war die Zuordnung zu (1) der institutionellen Struktur des politischen Systems, (2) Prozessen der Willensbildung (Wahlkampf) und der Erreichung der staatlichen Einheit sowie (3) verschiedenen Policies30.

In bezug auf die Themen der Medienagenda (siehe Tabelle 1) insgesamt fällt auf, daß der Bereich "Politische Institutionen" mit zwischen 20 und 28 Prozent der Beiträge in allen betrachteten Printmedien die häufigste Kategorie darstellt. Hinter diesem Themenbereich verbergen sich der Aufbau des Föderalismus in Ostdeutschland, die Hauptstadtfrage, die Diskussion um den Zusammenschluß der Parteien und die Verfügung über die Parteivermögen; ferner die Auseinandersetzung um die Stasi-Vergangenheit, einschließlich der Überprüfung von politischen M andatsträgern und des Verbleibs der Akten und der Regelung der Zugriffsrechte. Die Diskussion um die institutionellen Aspekte der entstehenden neuen Bundesrepublik wurde im Osten und Westen gleichermaßen intensiv geführt. Es zeigt sich, daß in einer Zeit des Regimewandels die politischen Institutionen im Vordergrund stehen, während unter den Bedingungen von Stabilität und Normalität die Struktur des politischen Systems als gegeben vorausgesetzt wird und sich der Schwerpunkt der politischen Agenda auf outputorientierte Policies verlagert31.

A u f politische Prozesse beziehen sich die beiden Themenbereiche "Wahlkampf" und

"Vereinigung". M it der Bundestagswahl befaßten sich ab Juli 1990 zwischen 8 und 11 Prozent der Artikel, wobei sich Ost- und Westmedien zunächst nicht unterscheiden. Dieser

30 Zur Logik der Systematisierung vgl. Edeltraud Roller, Ein analytisches Schema zur Klassifikation von Politikinhalten, Discussion Paper Nr. FS I I I 91-201, Berlin: Wissenschaftszentrum 1991.

31 Dieses Phämomen konnte in ähnlicher Weise im Hinblick auf die Agenda der politischen Parteien, gemessen am Inhalt ihrer Wahlprogramme, beobachtet werden (vgl. Hans-Dieter Klingemann, Die programmatischen Profile der politischen Parteien in der Bundesrepublik Deutschland. Eine quantitative Inhaltsanalyse der Wahlprogramme von SPD, FDP und CDU von 1949 bis 1987, in: Dietrich Herzog/Bemhard Weßels [Hrsg.], Konfliktpotentiale und Konsensstrategien. Beiträge zur politischen Soziologie der Bundesrepublik, Opladen: Westdeutscher Verlag 1989, S. 99-115). In der Konsti­

tuierungsphase der Bundesrepublik standen Probleme, die die politischen Institutionen betrafen, im Vordergrund, die dann mit zunehmender Stabilisierung als gelöst angesehen werden konnten und damit ihre herausragende Bedeutung auf der Parteienagenda verloren.

(14)

to

Tabelle 1: Häufigkeit und Salience der Themen (Artikel; in Prozent)

Themenbereich FAZ

Artikel insgesamt

LVZ

Artikel mit hoher Salience3)

SZ BZ FAZ SZ BZ LVZ»

System-Ebene 28 20 27 22 23 24 30 23

Politische Institutionen 28 20 27 22 23 24 30 23

Prozeß-Ebene 27 21 16 15 33 28 14 23

Vereinigung 16 11 7 7 23 20 11 16

Wahlkampf 11 10 9 8 10 8 3 7

Policy-Ebene (Innenpolitik) 25 33 45 51 21 21 42 39

Wirtschafts- und Haushalts-

politik/Infrastruktur 8 16 23 26 7 11 26 27

Sozialpolitik/Bildungs politik 6 7 9 13 4 3 7 7

Umweltpolitik 3 2 4 4 2 1 2 1

Innen- und Rechtspolitik 8 8 9 8 8 6 7 4

Policy-Ebene (Außenpolitik) 20 26 12 13 23 27 14 15

Außen- und Sicherheitspolitik 20 26 12 13 23 27 14 15

Insgesamt 100 100 100 100 100 100 100 100

(N) (600) (858) (1032) (1363) (199) (155) (216) (277)

Sonstige Themen (0) (7) (10) (6) (0) (0) (0) (0)

a) Folgende Plazierungsmerkmale von Artikeln wurden als hohe Salience eingestuft: Aufmacher und Mehrspalter Titelseite, Seitenaufmacher Innenseiten.

b) Westdeutsche Zeitungen: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Süddeutsche Zeitung (SZ).

Ostdeutsche Zeitungen: Berliner Zeitung (BZ), LeipzigerWolkszeitung (LVZ).

(15)

auf den ersten Blick niedrige Anteil ist darauf zurückzuführen, daß in dieser Kategorie lediglich diejenigen Artikel verschlüsselt wurden, die sich explizit auf den Wettbewerbsaspekt zwischen den Parteien beziehen und in denen Wahlkampfveranstaltungen, Wahlkampfstrategien und die Kandidaten selbst im Mittelpunkt der Darstellung stehen.

Unterschiede zwischen Ost- und Westmedien finden sich in der Thematisierung der Vereinigung: FAZ und SZ betonen diesen Bereich stärker als BZ und LVZ. Die relativ niedrige Häufigkeit des Vereinigungsthemas (7 bis 16 Prozent der Artikel) resultiert aus einer restriktiv gehandhabten Verschlüsselung des Themenbereichs. Hier wurden ausschließlich die hoheitlichen Prozesse zwischen den beiden deutschen Staaten erfaßt, also Themen in Verbindung mit dem Ersten Staatsvertrag (Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion) und dem Zweiten Staatsvertrag (Einigungsvertrag) einschließlich der spezifischen Beitrittsmodalitäten.

Die beiden Themenbereiche "W ahlkam pf und "Vereinigung" sind jedoch häufig auch ein Aspekt der verschiedenen System- und Policy-Themen. Um diese Überschneidungen zu berücksichtigen, wurde in zwei weiteren Variablen festgehalten, ob ein bestimmtes Thema jeweils im Kontext des Wahlkampfes angesprochen und m it dem Einigungsprozeß in Verbindung gebracht wurde. A uf diese Weise ist es möglich, ein Bild davon zu erhalten, in welchem Maße der W ahlkampf und die Vereinigung die Diskussion anderer Themen bestimmten. Untersucht man auf der detaillierteren Ebene des Absatzes (hier tabellarisch nicht ausgewiesen), wie häufig die unterschiedlichen Themen in einen Zusammenhang mit dem W ahlkampf gestellt wurden, findet sich in den W estmedien in etwa 20 Prozent der Absätze ein Wahlkampfbezug, in den Ostmedien lag der Anteil bei 13 Prozent. Der Wettbewerbsaspekt des Wahlkampfes wird zwar im Westen deutlicher betont, er ist aber nicht von außergewöhnlicher Bedeutung für die politische Kommunikation im Spätjahr 1990. Die deutsche Vereinigung ist dagegen der alles überragende Themenzusammenhang:

In den beiden W estmedien und der BZ wird dieser Bezug in fast jedem zweiten Absatz (49 Prozent) hergestellt; die LVZ hebt sogar bei fast drei von vier Absätzen (73 Prozent) auf die Vereinigung ab. Interessant ist aber, daß der Vereinigungsbezug in den Ostmedien ganz überwiegend als Auswirkung auf unterschiedliche Policy-Bereiche wie z.B.

Wirtschaftsentwicklung, Sozialleistungen, Mieten etc. dargestellt wird, während die Westmedien vor allem den Zusammenhang zu den institutioneilen Strukturveränderungen hersteilen.

Gegenüber der Selektion von Struktur- und prozeßbezogenen Themenbereichen ergibt sich in den Themenbereichen verschiedener Policies, insbesondere der Außen- und Sicherheitspolitik und der Wirtschafts- und Haushaltspolitik, ein klares Profil unterschiedlicher Präferenzen von Ost- und Westmedien. FAZ und SZ berichteten

(16)

14

eindeutig häufiger über außen- und sicherheitspolitische Themen. Dazu gehörten die 2+4- Verhandlungen, die Hilfe für die Sowjetunion und die Rolle Deutschlands in der sich verschärfenden Golfkrise. Dagegen konzentrierten sich die beiden Publikationen in der ehemaligen DDR stärker auf die Wirtschafts- und Haushaltpolitik: Hier ging es vor allem um die erheblichen Wirtschaftsprobleme bei der Einführung der M arktwirtschaft in der DDR sowie um die sich abzeichnende Arbeitslosigkeit. Haushaltspolitische Fragen standen in den Ostmedien aber eher im Hintergrund. Die W ahlkampfkommunikation verlief im Osten und Westen also über deutlich unterschiedliche Themenschwerpunkte: Während die W estmedien stärker über die Einbindung des vereinten Deutschlands in das internationale System berichteten, bezogen sich die Ostmedien mehr auf die aktuellen innenpolitischen Transformationsprobleme. In den restlichen Policybereichen wie Sozialpolitik und Bildungspolitik32, Umwelt, Rechtspolitik und Innenpolitik sind dagegen kaum Unterschiede auszumachen. Bemerkenswert ist, daß der Umweltbereich so gut wie keine Rolle in der Berichterstattung gespielt hat.

Noch deutlicher konturiert sind die unterschiedlichen Themenschwerpunkte, wenn man die journalistische Hervorhebung (Salience), gemessen an der Plazierung eines Themas33, als weiteres Kriterium heranzieht. Hier stößt man, insbesondere was die deutsche Vereinigung angeht, auf einen interessanten Unterschied zwischen Ost- und Westmedien:

Die Tendenz einer stärkeren Berücksichtigung dieses Themenbereiches im Westen, die bereits mit Blick auf die Gesamtzahl der Artikel auffiel, ist bei den gut plazierten Artikeln besonders deutlich. D.h. wie und unter welchen prozessualen Umständen die Vereinigung stattfand, wurde stärker in den Westmedien hervorgehoben als in den Ostmedien. Die FAZ rückte den Prozeß der Vereinigung besonders stark ins Bild: Fast jeder zweite der untersuchten Aufmacherartikel ab Juli 1990 befaßte sich mit diesem Thema.

Festzuhalten ist an dieser Stelle, daß die Themenprioritäten und die unterschiedliche Gewichtung von Themen Anhaltspunkte dafür liefern, daß sich die in den Printmedien repräsentierte politische Realität während des Wahlkampfes in Ost- und Westdeutschland in einigen wesentlichen Aspekten unterschied.

Unterschiedliche Schwerpunktsetzungen in der Presseberichterstattung von Ost- und W estmedien beziehen sich nicht nur auf die Themen, sondern auch auf die politischen Handlungsträger, die die Medienbarriere überwinden. Im zweiten Objektbereich der Analyse klassifizierten wir diejenigen politischen Akteure, die im Mittelpunkt des Artikels stehen, nach ihrer politischen Rolle in (1) Bürger, (2) intermediäre Organisationen und (3)

32 Die etwas stärkere Ausprägung von Sozialpolitik und Bildungspolitik in der LVZ mit 13 Prozent kommt dadurch zustande, daß hier das Thema Bildung mit 7 Prozent der Artikel häufiger thematisiert wurde als bei den übrigen Medien mit höchstens 4 Prozent der Beiträge.

33 Indikator für die Salience ist die Plazierung eines Themas als Aufmacher auf der Titelseite, als Mehrspalter auf der ersten Seite oder als Aufmacher auf der Innenseite.

\

(17)

staatliche Institutionen. Die beiden letztgenannten Akteurskategorien umfassen sowohl die kollektiven Akteure als auch ihre individuellen Vertreter, also z.B. im Falle von Parteien die Organisation und einzelne Parteipolitiker. Aufgrund ihrer herausragenden Rolle im W ahlkampf werden die Spitzenkandidaten der Parteien als eigene Kategorie ausgewiesen.

A uf der Basis dieser Einteilung läßt sich zeigen, daß sich Ost- und Westmedien bei der R e­

präsentation der zentralen Akteure tendenziell unterscheiden (siehe Tabelle 2).

Angesichts der politischen Situation überrascht zunächst nicht, daß die Exekutive, d.h.

die Kabinettsmitglieder bzw. deren Ministerien, mit einem guten Drittel am häufigsten im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen. Die intermediären Institutionen, darunter vor allem die Parteien, sind mit einem guten Fünftel der Beiträge die am zweitstärksten besetzte Kategorie politischer Handlungsträger.

Eine tendenziell unterschiedliche Wichtigkeitszuschreibung politischer Rollen in den DDR-Medien wird zunächst in der Kategorie der Bürger deutlich: Jeweils 11 Prozent aller genannten politischen Akteure in den Westmedien sind die Bürger, die beiden Ostmedien heben diese Rolle mit 16 Prozent (BZ) bzw. 24 Prozent (LVZ) stärker hervor.

Zudem zeigt sich, daß die Westmedien innerhalb der intermediären Organisationen vor allem auf die Parteien abheben. Dieser Unterschied wird noch unterstrichen, wenn man die beiden Spitzenkandidaten als Akteure zu den politischen Parteien hinzurechnet: 31 Prozent aller Artikel in der FAZ und 26 Prozent in der SZ rücken die Parteien und deren Spitzenkandidaten als zentrale Akteure in den Mittelpunkt. In den beiden Ostzeitungen ist dies gerade bei 20 Prozent der Artikel der Fall. Bemerkenswert ist darüber hinaus, daß die Spitzenkandidaten der beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD in erstaunlich geringem Ausmaß als eigenständige politische Akteure in den Vordergrund treten. Sie beherrschen die Berichterstattung in weniger als zehn Prozent der Artikel. Zudem fällt bei den W est­

medien ein stärker ausgeprägter Regierungsbonus auf; Kanzler Kohl tritt in FAZ und SZ fast doppelt so häufig als zentraler Akteur auf als in den Ostmedien.

Das tendenziell unterschiedlich ausgeprägte Profil der Ost- und der W estmedien im Hinblick auf die zentralen politischen Rollen in der Berichterstattung in allen Artikeln wird durch die Plazierung noch unterstrichen.

Dieses Ergebnis gewinnt vor dem Hintergrund der politischen Tradition beider Teile Deutschlands Plausibilität: Im Osten war die Bevölkerung, d.h. die Werktätigen, stets eine akklamatorische politische Bezugsgröße der staatlich verordneten Öffentlichkeit. Diese Diktion hat möglicherweise ihren Anknüpfungspunkt in der herausgehobenen Bedeutung des Bürgerprotestes in der Umbruchsphase des Jahres 1989 gefunden. In den Westmedien hingegen treten die Bürger zugunsten der Parteien in den Hintergrund, was deren Dominanz im politischen Prozeß widerspiegelt. Nach diesem Ergebnis haben sich die

(18)

O\

Tabelle 2: Häufigkeit und Salience der Akteure (Artikel; in Prozent)

Akteur

Artikel insgesamt

LVZ

Artikel mit hoher Salience3)

FAZ SZ BZ FAZ SZ BZ LVZb)

Bürger 11 11 16 24 8 12 14 20

Intermediäre Institutionen 26 28 24 26 24 22 16 21

Bürgerinitiativen 1 1 1 1 0 0 2 0

Interessengruppen 3 7 10 2 1 5 7

Parteien 22 20 16 15 22 21 9 14

Kandidaten 9 6 4 4 12 10 5 6

Kohl 6 5 3 3 7 8 3 5

Lafontaine 3 1 1 1 5 2 2 1

Parlament 10 9 7 7 7 6 5 11

Exekutive 35 38 39 31 41 46 42 35

Förderale Institutionen 9 8 10 8 8 4 18 7

Insgesamt 100 100 100 100 100 100 100 100

(N) (547) (798) (959) (1293) (179) (145) (203) (263)

Sonstige Akteure;

kein Akteur (N) (53) (67) (83) (76) (20) (10) (13) (14)

a) Folgende Plazierungsmerkmale von Artikeln wurden als hohe Salience eingestuft: Aufmacher und Mehrspalter Titelseite, Seitenaufmacher Innenseiten.

b) Westdeutsche Zeitungen: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Süddeutsche Zeitung (SZ).

Ostdeutsche Zeitungen: Berliner Zeitung (BZ), LeipzigerWolkszeitung (LVZ).

(19)

institutionalisierten Akteure der politischen Willensbildung im Osten nicht in gleichem Aitsmaß wie im W esten etabliert.

Wichtig ist auch, daß sich bei den parlamentarischen und föderalen Institutionen keine nennenswerten Unterschiede feststellen lassen. In bezug auf die staatlichen Rollen ist eine weitgehende Ost/West-Kongruenz dieser zentralen Akteure in der Berichterstattung festzustellen. Hier weisen die DDR-Zeitungen untereinander Unterschiede auf in dem Sinne, daß die LVZ etwas weniger auf die Exekutive und stärker auf das Parlament abhebt als die BZ, die in diesen Kategorien mit den Westmedien gleichzieht.

4.2. Z u r S elektio n von T h em en u n d A k te u re n

4.2.1. Räumliche und kulturelle Nähe

In bezug au f das Selektionskriterium der räumlichen und kulturellen Nähe haben wir argumentiert, daß sich die Perspektive der Berichterstattung bei einem Wandel der strukturellen Bedingungen des Mediensystems geändert haben könnte. Im konkreten Fall der Berichterstattung im Jahre 1990 ist denkbar, daß eine auf die unmittelbare Umwelt bezogene, eher parochiale Orientierung abgelöst wurde von einer Öffnung der Perspektive auf den jeweils anderen Teil Deutschlands bzw. das ab dem 3. Oktober etablierte Gesamtdeutschland. Als Indikator für die räumliche Nähe ziehen w ir eine Variable heran, die das Gebiet, für das die berichteten Ereignisse und Handlungen relevant sind, erfaßt.

Verschlüsselt wurde, ob das in dem Artikel angesprochene Thema den Ostteil, den Westteil oder Deutschland als Gesamtheit betrifft34. Um zu sehen, ob sich die Perspektive nach der Vereinigung geändert hat, betrachten wir das Kriterium nicht nur für die sechs Monate des Wahlkampfes insgesamt, sondern auch differenziert nach dem Zeitraum vor bzw. nach der Vereinigung.

Wie Tabelle 3 zeigt, unterscheidet sich die Berichterstattung der Medien in Ost und West in bezug auf das Selektionskriterium räumliche Nähe: Für die Zeit zwischen Juli und Dezember 1990 ist festzustellen, daß die Ostmedien politische Themen sehr viel deutlicher auf ihren Einzugsbereich beziehen.

34 In dieser Codierung ist der Handlungsort nicht unbedingt mit dem Ereignisort identisch. Wenn sich z.B.

ein Politiker in Bonn zum Thema Umweltverschmutzung im Braunkohlerevier der ehemaligen DDR äußert, so wurde als Bezugsort nicht der Westteil Deutschlands (Bonn), sondern der Ostteil Deutschlands verschlüsselt.

(20)

18

Tabelle 3: Räumliche Nähe der Themen (Absätze; in Prozent)

FAZ SZ BZ LVZa)

Vor der Vereinigung (1. Juli - 2. Oktober)

West 16 30 6 5

Ost 30 27 59 72

Beides 54 43 35 23

Nach der Vereinigung (3. Oktober - 8. Dezember)

West 9 13 4 3

Ost 26 22 40 36

Beides 65 65 56 61

Gesamtzeit

(1. Juli - 8. Dezember)

West 13 23 5 4

Ost 29 25 52 57

Beides 58 52 43 39

Insgesamt (N)

100 (2793)

100 (3407)

100 (4579)

100 (5670) Sonstiges; kein

räumlicher Bezug (N) (261) (402) (179) (210)

a) Westdeutsche Zeitungen: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Süddeutsche Zeitung (SZ).

Ostdeutsche Zeitungen: Berliner Zeitung (BZ), Leipzigervolkszeitung (LVZ).

Jede zweite Untersuchungsheinheit, die einen räumlichen Bezug aufweist, bezieht sich hier auf Ostdeutschland, Im Vergleich dazu fokussieren die FAZ nur zu 13 Prozent und die SZ zu 23 Prozent auf ihren Einzugsbereich, also den Westteil Deutschlands, Die Ostmedien beziehen demnach die Mehrzahl der Themen auf ihre unmittelbare Umwelt und ignorieren Themen, die sich ausschließlich auf den Westteil Deutschlands konzentrieren. In den Westmedien ist das umgekehrte Muster feststellbar: Hier werden im Gesamtzeitraum etwa gleich viele Artikel auf den Osten wie auf den Westen bezogen. Die Westmedien konzentrieren sich darüber hinaus deutlicher auf Gesamtdeutschland als neue politische Einheit.

Bemerkenswert ist nicht nur die unterschiedliche Gewichtung des eigenen räumlichen

Bezugsbereiches, sondern die Veränderung des Selektionsmusters im Zeitverlauf.

(21)

Tabelle 4: Räumliche Nähe der Akteure insgesamt (Artikel; in Prozent)

FAZ SZ BZ LVZ»)

Vor der Vereinigung (1. Juli - 2. Oktober)

West 72 79 51 50

Ost 28 21 49 50

Nach der Vereinigung (3. Oktober - 8. Dezember)

West 89 89 85 85

Ost 11 11 15 15

Gesamtzeit

(1. Juli - 8. Dezember)

West 79 84 64 66

Ost 21 16 36 34

Insgesamt 100 100 100 100

(N) (497) (683) (771) (888)

Sonstige (N)b) (103) (182) (271) (481)

a) Westdeutsche Zeitungen: Frankfurter Allgemeine Zeitung, (FAZ), Süddeutsche Zeitung (SZ).

Ostdeutsche Zeitungen: Berliner Zeitung (BZ), Leipzigervolkszeitung (LVZ).

b) Akteure ohne West-/Ost-Zuordnung sowie der internationalen Politik.

Nach dem 3. Oktober ist eine deutliche Konvergenz der Orientierung an Gesamtdeutschland in beiden Mediensystemen festzustellen. In den Ostmedien geht der Bezug politischer Themen auf den eigenen Bereich drastisch zurück zugunsten einer Öffnung der Perspektive. Die Westmedien folgen diesem Trend in geringerem Ausmaß.

Dabei bleibt die Berücksichtigung von Themen, die sich nur auf den Osten Deutschlands beziehen, auf hohem Niveau weitgehend konstant.

Für die Analyse der kulturellen Nähe politischer Akteure (siehe Tabelle 4) haben wir diese entsprechend ihrer geographischen Herkunft jeweils dem Osten oder dem Westen zugeordnet. Bei der Interpretation der Ergebnisse zur Auswahl politischer Akteure ist zunächst zu berücksichtigen, daß sich die staatlichen Institutionen in der ehemaligen DDR mit der Vereinigung aufgelöst haben. Deshalb hat das Kriterium kulturelle Nähe in bezug auf Akteure wie Parlament und Exekutive nach dem 3. Oktober seine Aussagekraft verloren. Gleichwohl finden w ir sowohl vor als auch nach der staatlichen Einheit Unter-

(22)

20

schiede zwischen Ost- und Westmedien, die als divergentes Auswahlverhalten in bezug auf die kulturelle Nähe interpretiert werden können. Für die Zeit vor dem 3. Oktober gilt zunächst, daß die BZ und die LVZ politische Akteure aus beiden Teilen Deutschlands zu etwa gleichen Teilen berücksichtigen: 40 bis 50 Prozent der Artikel stellen Westakteure in den Mittelpunkt, 50 bis 60 Prozent haben Ostakteure als zentrale Handlungsträger. In den Westmedien sind die politischen Akteure aus der DDR mit etwa einem Viertel der Beiträge in weitaus geringerem Ausmaß vertreten. Nach der Vereinigung sind die politischen Akteure aus der ehemaligen DDR in allen Medien so gut wie verschwunden.

Hier spiegeln die Ergebnisse also die institutioneilen Konsequenzen wider, d.h. die Auflösung der Volkskammer und des Ministerrates. Eine bemerkenswerte Abweichung von diesem Muster ist aber, daß die politischen Parteien und ihre Vertreter aus dem Ostteil mit 36 Prozent der Artikel in der BZ und 48 Prozent der Artikel in der LVZ auch nach der Vereinigung noch präsent sind. D.h. kulturelle Nähe auf der Ebene politischer Akteure wird nach der Vereinigung ausschließlich durch die Berücksichtigung der politischen Parteien des Ostens und ihrer Vertreter hergestellt. Ansonsten belegen die Analysen eine Konvergenz von Ost- und Westmedien in dem Sinne, daß die publizistische Darstellung des politischen Geschehens von westlichen Handlungsträgern dominiert wurde.

4.2.2. Valenz

In bezug auf den Nachrichtenfaktor Valenz haben wir angenommen, daß sich der Professionalisierungsgrad der Medien in liberalen Systemen gerade im Hinblick auf die stärkere Hervorhebung des Konfliktpotentials in der politischen Kommunikation ausdrückt. Die Berichterstattung ist dadurch stärker von einer medienbedingten Dramatisierung der Ereignisse geprägt. Es ist demnach zu vermuten, daß Themen, die sich als Konflikt darstellen lassen, in Westmedien bevorzugt werden. Inwieweit eine solche Dramatisierung von Politik in den Ostmedien, die sich in einem radikalen Umbruch befanden, erkennbar ist, war indessen eine offene Frage. Um die Handhabung des Selektionskriteriums Valenz zu prüfen, haben wir eine Variable herangezogen, die angibt, ob ein Thema als Konflikt oder als Konsens dargestellt wird (siehe Tabelle 5)35.

35 Die Dimension Valenz bezieht sich auf den Themenbereich und wurde mit Hilfe einer 7er-Skala gemessen, die von -3 bis +3 reicht. Dabei indizieren die negativen Werte das Merkmal Konflikt, die positiven Werte das Merkmal Konsens. Der Wert 0 steht für eine gleichgewichtige Benennung beider Aspekte. In unserer Analyse haben wir die Häufigkeiten für die negativen bzw. positiven Werte jeweils zusammengefaßt, die Verteilungen für den Wert 0 werden in der Kategorie "sowohl als auch"

ausgewiesen.

\

(23)

Tabelle 5:

Valenz der Themen (Artikel; in Prozent)3)

Themenbereich FAZ SZ BZ LVZb)

Politische Institutionen 55 (93) 58(101) 46(128) 52(153)

davon: Konflikt 84 78 85 78

Konsens 15 20 11 20

sowohl als auch 1 2 4 2

Vereinigung 65 (60) 58 (54) 46 (34) 50 (49)

davon: Konflikt 75 79 79 69

Konsens 23 17 21 29

sowohl als auch 2 4 0 2

Wahlkampf 60 (39) 62 (55) 54 (50) 54 (59)

davon: Konflikt 85 74 78 71

Konsens 15 20 22 29

sowohl als auch 0 6 0 0

Wirtschafts- und Haushalts-

politik/Infrastruktur 58 (29) 47 (63) 34 (82) 43(154)

davon: Konflikt 86 76 80 70

Konsens 14 22 16 28

sowohl als auch 0 2 4 2

Sozialpolitik/Bildungspolitik 54 (20) 51 (32) 30 (27) 37 (64)

davon: Konflikt 85 63 70 67

Konsens 15 31 30 30

sowohl als auch 0 6 0 3

Umweltpolitik 63 (12) 33 (5) 31 (13) 33 (17)

davon: Konflikt 67 80 69 53

Konsens 33 20 31 47

sowohl als auch 0 0 0 0

Innen- und Rechtspolitik 72 (36) 66 (47) 47 (41) 56 (58)

davon: Konflikt 97 87 86 88

Konsens 3 13 12 9

sowohl als auch 0 0 2 3

Außen- und Sicherheitspolitik 46 (55) 51(113) 41 (52) 40 (71)

davon: Konflikt 53 60 61 58

Konsens 43 33 37 39

sowohl als auch 4 7 2 3

Gesamt 57(344) 55(470) 41(427) 46(625)

davon: Konflikt 79 73 79 72

Konsens 20 23 19 26

sowohl als auch 1 4 2 2

a) Ausgewiesen ist der Anteil der Artikel, in denen sich das Merkmal "Valenz" findet. Die Differenz zu 100% machen Artikel ohne dieses Merkmal aus (nicht ausgewiesen). Zahlen in Klammem: N.

b) Westdeutsche Zeitungen: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Süddeutsche Zeitung (SZ).

Ostdeutsche Zeitungen: Berliner Zeitung (BZ), Leipzigervolkszeitung (LVZ).

(24)

22

Die Vermutung einer stärkeren Selektivität der Westmedien gegenüber Themen, die den Aspekt der Auseinandersetzung aufweisen, läßt sich mit den vorliegenden Daten tendenziell bestätigen. Betrachtet man den Anteil deqenigen Artikel, die in den einzelnen Medien mit Bezug auf die Dimension Valenz dargestellt werden, so läßt sich für die Westmedien eine stärkere Fokussierung feststellen: Während die beiden Westzeitungen bei 57 Prozent (FAZ) bzw. 53 Prozent (SZ) der Artikel auf Konflikt oder Konsens abheben, ist dies in den Ostzeitungen bei nur 40 Prozent (BZ) bzw. 45 Prozent (LVZ) der Fall. Damit wird deutlich, daß die Westmedien das politische Geschehen insgesamt stärker im Hinblick auf den Aspekt Auseinandersetzung bzw. Wettbewerb thematisieren, während die Ostmedien in dieser Hinsicht zurückhaltender sind.

W enngleich sich das Niveau des Merkmals Valenz in der Berichterstattung un­

terscheidet, ist die Struktur dieser Dimension in West- und Ostmedien weitgehend identisch. Im Hinblick auf das Verhältnis von Konflikt und Konsens zeigt sich für alle untersuchten M edien das gleiche Muster der Konfliktorientierung: Wenn politische Themen auf der Dimension Valenz angesiedelt sind, werden sie in etwa 80 Prozent der Fälle als Konflikt dargestellt, und nur in etwa 20 Prozent wird über Konsens und Übereinstimmung berichtet.

Dieses M uster gilt für alle Themenbereiche in gleicher Weise. Dies ist insofern bemerkenswert, als angesichts unterschiedlicher Themenprioritäten hätte angenommen werden können, daß die Dramatisierung einzelner Bereiche als Konflikt in Ost und West durchaus variiert. Das Ergebnis spricht indessen dafür, daß sich das Ausmaß der Berücksichtigung medienbedingter Selektionskriterien unterscheidet, nicht jedoch das Grundmuster der Konfliktorientierung.

4.2.3. Status

In bezug auf den Status der Handlungsträger zeigt die Nachrichtenwertforschung, daß die Auswahl eines politischen Sachverhaltes um so wahrscheinlicher ist, wenn die an ihm beteiligten Akteure einen hohen Status aufweisen. Die Statusdimension dürfte, was den Ost/West-Vergleich angeht, aufgrund eines stärker medienspezifischen Selektionsverhaltens in den Westmedien ausgeprägter sein. In unserer Analyse wurde der Nachrichtenfaktor Status in bezug auf Politiker und deren Position bzw. formale Entscheidungsbefugnis operationalisiert36.

36 Da sich das Merkmal Status auf individuelle Positionsinhaber bezieht, sind staatliche Institutionen und intermediäre Gruppen, die als kollektive Akteure genannt werden, ausgeschlossen. Als Indikator wurde eine Skala konstruiert, die je nach formaler Position des Akteurs und damit verbundener Entscheidungsbefugnis drei Ausprägungen (niedrig, mittel, hoch) annehmen kann.

(25)

In Tabelle 6 finden w ir Anhaltspunkte für eine stärkere Berücksichtigung des Statuskriteriums im Westen: Die Berichterstattung der beiden Zeitungen im Westen unterscheidet sich von derjenigen im Osten dadurch, daß hier ein deutlich höherer Anteil von statushohen Politikern zu verzeichnen ist. In den Zeitungen der ehemaligen DDR hingegen ist die mittlere Statuskategorie häufiger besetzt. Dies gilt sowohl für die Bericht­

erstattung insgesamt als auch für Artikel, die an hervorgehobener Stelle plaziert sind. Der Statusrang eines politischen Akteurs korreliert darüber hinaus in allen vier Printmedien hochsignifikant (p< .005) mit der Hervorhebung des Artikels. Dieser Zusammenhang ist bei der FAZ (Pearson's r = .30) am stärksten und am geringsten bei der BZ (r = .14) ausgeprägt. Demnach sind Nachrichten, in denen statushöhere Politiker auftreten, in allen Printmedien besser plaziert als Nachrichten mit statusniedrigen Akteuren.

4.3. Z u r In terp reta tio n von Them en u n d A k te u re n

4.3.1. Problematisierung

Durch die Interpretation politischer Themen als Probleme haben die Massenmedien eine zweifache Funktion. Einerseits signalisieren sie damit in Sachfragen politischen Handlungsbedarf. Andererseits bieten sie gerade im W ahlkampf den Parteien ein Forum für den Wettbewerb um die Richtigkeit ihrer Problemlösungen. Unterstellt man, daß die Strukturbedingungen des Mediensystems einen Einfluß auf die Interpretation politischer Streitfragen haben, so ist in einem liberalen Mediensystem ein hohes Niveau der Problematisierung, aber keine Homogenität zwischen den einzelnen Medien in bezug auf die thematisierten Themen zu erwarten. Diese Vermutung liegt in der strukturellen Unabhängigkeit einzelner Medien und dem Postulat der dadurch zu erreichenden inhaltlichen Vielfalt begründet. Im Gegensatz dazu bringen die M edien im Osten eine Vergangenheit mit, die sich durch ein geringes Niveau eigenständiger Problematisierung und durch homogene Interpretationsmuster auszeichnet. Vor diesem Hintergrund haben wir geprüft, wie sich die Interpretationsleistung bei der Problematisierung politischer Themen im W ahlkampf darstellt.

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