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APRIORISMUS UND EVOLUTIONISMUS.
Von Wilh elm Jerusalem (Wien).
„Was ist das mit der Philosophie und besonders mit der neuen für eine wunderliche Sache? In sich selbst hineinzu
gehen, seinen eigenen Geist über seinen Operationen zu er
tappen, sich ganz in sich zu verschließen, um die Gegenstände desto besser kennen zu lernen — ist das wohl der rechte W eg?“
Diese Frage Goethes („Der Sammler und die Seinigen, 2. Brief, 33, 141, Jubiläumsausgabe) beleuchtet noch heute die in der Philosophie herrschenden Gegensätze. Der in der Frage charak
terisierte und zugleich abgelehnte Apriorismus steht noch heute mächtig da und weiß sich gegenüber dem aufkommenden Evo
lutionismus namentlich in Deutschland kräftig zu behaupten.
Diese beiden Denkrichtungen, der Apriorismus und der Evo
lutionismus, scheinen mir eben den in der Philosophie der Gegenwart bestehenden Gegensatz am schärfsten auszuprägen.
Ich will nun den Versuch machen, den Apriorismus sowohl als den Evolutionismus zu charakterisieren und beide Methoden gegeneinander abzuwägen.
Der Apriorismus glaubt für die Erkenntnistheorie und für die Ethik sichere Grundlagen zu besitzen. In den letzten Jahren ist auch versucht worden, die Geschichte der Philosophie aprio- ristisch zu deuten, und sogar die Soziologie, die bisher nur evolutionistisch behandelt wurde, auf apriorische Grundlagen zu stellen. Der Aprioriker nimmt für seine Sätze unbedingte und allgemeine Gültigkeit sowie Denknotwendigkeit in An
spruch, und blickt oft hochmütig herab auf den im Staube kriechenden Empiriker, der sich immer nur mit Wahrschein
lichkeiten begnügen muß. Wer die Denknotwendigkeit der aprio
rischen Sätze leugnet, der wird vom Aprioriker philosophisch nicht für voll genommen, es fehle ihm, so läßt er deutlich merken, das spezielle philosophische Organ.
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Der Evolutionist fühlt sich wiederum durch den Apriorismus überall gehemmt. Er sieht Schranken auf gerichtet, die er durch
brechen möchte, er sieht Probleme abgelehnt, die ihm keine Ruhe lassen. Er hat die Überzeugung, daß er hinter die Voraus
setzungen der Aprioriker zurückgehe, daß er tiefer grabe, daß er auf den Grund der Dinge zu gelangen trachte, und doch wird er von den Inhabern der reinen Vernunft der Oberfläch
lichkeit geziehen. Was wunder, wenn der Evolutionist es end
lich müde wird, immer wieder seine philosophische Existenz
berechtigung zu erweisen, wenn er die Dekrete der „reinen“
Logiker einfach links liegen läßt und unbekümmert weiter ar
beitet an der Aufsuchung der Quellen, aus denen mensch
liches Erkennen und menschliches Handeln fließt.
Eine solche Nichtbeachtung des gegensätzlichen Stand
punktes ist aber durchaus unphilosophisch. Wir schreiten entsetzlich viel aneinander vorbei in der Philosophie. Wir brauchten etwas von der Unermüdlichkeit des Sokrates, der immer bereit ist, eine Untersuchung von neuem zu beginnen.
Deswegen will ich den Versuch unternehmen, die beiden -ismen auf einen gemeinschaftlichen Nenner zu bringen, um dann die Frage zu entscheiden, welche von den beiden Denk
richtungen die fruchtbarere ist. Vorerst müssen wir uns noch über die positiven Behauptungen der Gegner klar werden.
Der kritische Apriorismus, wie ihn Kant begründet hat, be
hauptet nichts anderes, als daß in unseren Erkenntnissen Ele
mente enthalten sind, die nicht aus der Erfahrung stammen, und daß die Denknotwendigkeit, die objektive und allgemeine Gültigkeit unserer Urteile als eine Funktion dieser nicht-em
pirischen Elemente oder, wie man auch sagt, als eine Funktion der reinen Vernunft zu betrachten sei.
Auf diesem kritischen Standpunkte kann sich aber der Apriorismus nicht lange erhalten. Es steckt in ihm zu viel latente Metaphysik, die ans Tageslicht drängt. Die Funktionen der reinen Vernunft sind geistige Funktionen, und das weitere Nachdenken darüber führt notgedrungen zur Annahme einer geistigen Substanz. Schon Kant mußte das an sich erfahren.
Denn während seine Erkenntnistheorie noch streng kritisch blieb, wurde schon seine Ethik metaphysisch. Liest man nun in Hegels Phänomenologie die Sätze, daß die Substanz wesent
lich Subjekt, und daß das Absolute Geist ist, so sieht man deut
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lieh, daß Kants kritischer Apriorismus sich hier bereits voll
ständig zu spiritualistischer Metaphysik ausgestaltet hat.
Dasselbe erleben wir heute in der philosophischen Bewegung der Gegenwart. Die Erneuerung Kants war zunächst eine Er
neuerung des kritischen Apriorismus, der als Grenzwächter gegen willkürliche Spekulation namentlich von den Natur
forschern freudig begrüßt wurde. Immer deutlicher aber tritt die Tendenz zutage, vom kritischen Apriorismus zu -einer spi
rituali stischen Metaphysik weiterzugehen, was sich äußerlich auch dadurch zeigt, daß die Werke Schellings und Hegels neu herausgegeben werden. Der Apriorismus enthält also trotz der antimetaphysischen Versicherungen seiner Vertreter metaphy
sische Keime in sich, die unaufhaltsam zur Entfaltung ge
langen müssen.
Der Apriorismus sucht die zeitlosen, ewigen, keinem Wandel unterworfenen Formen und Grundvoraussetzungen der Er
kenntnis klar und scharf herauszustellen. Die Funktionen der reinen Vernunft, denen wir denknotwendige Erkenntnisse ver
danken, müssen deshalb mehr als bloß psychologische Tatsachen sein. Es wird ihnen — und darin zeigt sich wieder die latente Metaphysik — etwas Übermenschliches zugeschrieben. Gegen die Behauptung, die kritische Besinnung bestehe eigentlich in der Aufdeckung früher unbekannter psychologischer Tatsachen, hat sich schon Kant verwahrt, und die Neukantianer tun es noch viel entschiedener und viel schärfer. Ihre Gegnerschaft gegen den Psychologismus ist viel stärker als die Ablehnung der Metaphysik. Und doch will es mir scheinen, daß man nur die kritische Rinde etwas abzukratzen und etwas tiefer zu graben braucht, und man findet, daß an dem Apriorismus nur soviel wahr ist, als er an psychologischen Tatsachen enthält.
(Vgl. Jerusalem, Kantrede, 1904, und „Der kritische Idealismus und die reine Logik“, 1905. ) Vielleicht fühlen dies die Aprioriker selbst in der Tiefe ihres Gemütes und die heftigen kritischen Geißelhiebe, die sie gegen die Psychologisten führen, sind eigentlich dazu bestimmt, den eigenen Psychologismus zu über- täuben.
Der Apriorismus ist also charakterisiert durch den Glauben an nicht-empirische Elemente in der Erkenntnis, durch latente Metaphysik und durch entschiedene Ablehnung der Psychologie als kritischer Erkenntnisquelle. Positiv beruft er sich auf die
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Sätze der formalen Logik und der Mathematik, deren objektive und unbedingte Gültigkeit ihm für ebenso zweifellos gilt, wie ihr nicht-empirischer Charakter.
In allen diesen Punkten steht der Evolutionismus dem Apriorismus schroff gegenüber. Der Evolutionist glaubt nicht an die Gültigkeit von Sätzen, deren Erkenntnisgrund nicht in der Erfahrung liegt. Auch die allgemeinsten Sätze der Logik und Mathematik betrachtet er nur als Niederschläge, als Ver
dichtungen früherer Erfahrung. Der Evolutionist sieht in solchen Sätzen Anpassungen der Gedanken an die Tatsachen und aneinander (Mach), er findet darin denkökonomisch wert
volle Maßnahmen. Für den Evolutionisten ist alle geistige Tätig
keit L eben sfu n ktion , das L eben ist sein Zentralbegriff, von dem aus er Erkenntnis und Sittlichkeit, Wahrheit und Schönheit zu verstehen sucht.
Der Evolutionismus enthält keine latente Metaphysik. Sein Verfahren ist induktiv, sein Ziel nicht Denknotwendigkeit, son
dern hohe Wahrscheinlichkeit. Doch bleibt der Evolutionist sich stets dessen bewußt, daß er auf seinem empirischen Wege zu den letzten Dingen nicht aufzusteigen vermag. Er wird des
halb entweder mit Mach eine unvollendete Weltanschauung entsagen oder eine Ergänzung und einen Abschluß seines Welt
bildes zu gewinnen suchen durch eine klar bewußte, nicht ver
steckte, sondern ehrlich eingestandene Metaphysik.
Am schärfsten tritt aber der Gegensatz beider Richtungen in ihrem Verhältnis zur Psychologie zutage. Der Aprioriker ver
wahrt sich mit aller Entschiedenheit dagegen, daß die Psycho
logie irgendeinen erkenntnistheoretischen Aufschluß geben könne. Der Evolutionist hingegen sieht in der Psychologie sein wichtigstes Werkzeug und Arbeitsgebiet. Indem er die psychi
schen Phänomene als Lebensvorgänge betrachten lehrt, bringt er in die Psychologie einen neuen, heuristisch sehr wertvollen Gesichtspunkt, weiß aber auch jede neue psychologische Er
kenntnis für seine Zwecke zu verwerten.
Auf allen Linien stehen sich also Apriorismus und Evo
lutionismus als diametrale Gegensätze gegenüber. Der Aprioris
mus beruht eben in letzter Linie auf dem orphisch-platonischen Glauben daß die Seele, wenn sie sich rein erhalte von den Schlacken des Körpers, die ewigen Wahrheiten, das Wesen der Dinge zu schauen vermag. Durch ein tiefes Versenken in die
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eigene Geistestätigkeit hofft also der Aprioriker gleich den alten Brahmanen das Wesen des Universums zu erfassen.
Er sucht W elterkenntnis zu gewinnen durch Selbsterkenntnis.
Der Evolutionist glaubt wiederum das eigene Selbst mit seinem Denken und Fühlen nur dann richtig zu deuten, wenn er es als Teil und als Faktor des kosmischen Geschehens erfaßt.
Der Evolutionist sucht Selbsterkenntnis zu gewinnen durch W elterkenntnis.
Zwei so ganz verschiedene Denkrichtungen gegeneinander ab
zuwägen und in bezug auf ihren Wert zu vergleichen, wird nur dann möglich sein, wenn wir beide als A rbeitshypothesen betrachten, die aufgestellt werden, um eine von beiden zuge
standene Tatsache verständlich zu machen. Das menschliche Erkennen dürfen wir als eine solche beiderseitig zugestandene Tatsache betrachten. Durch die Art, wie sich beide Denk- richtnngen dazu stellen, unterscheiden sie sich eben. Arbeits
hypothesen aber lassen sich miteinander vergleichen und gegen
einander abwägen. Wir werden immer derjenigen den Vorzug geben, die einfacher und heuristischer ist. Eine Arbeitshypo
these, die Probleme verdeckt und Probleme ablehnt, ist immer schlechter als eine andere, die zur Entdeckung neuer Tat
sachen und neuer Probleme hinführt.
Da die Zeit nicht ausreicht, beide Arbeitshypothesen auf alle oder doch die wichtigsten philosophischen Probleme anzu
wenden und sie daran zu erproben, so sei nur ein einziges Problem der Gegenstand, an dem wir unsere Probe vornehmen.
Ich wähle für diesen Zweck das Problem des Allgem einen und B eson deren , oder kürzer das Problem des B egriffes. Für den Aprioriker bildet die Existenz von Begriffen, d. h. die Zu
sammenfassung vieler ähnlicher Gegenstände Eigenschaften, Tätigkeiten oder Beziehungen in einem Denkakt kein Problem.
Die reine Vernunft operiert eben von vornherein mit Begriffen und Ideen. Das unanschauliche Denken ist von Anbeginn auf das Allgemeine gerichtet. Der Apriorismus dekretiert also, daß Begriffe und Ideen eine Urtatsache, eine Urfunktion des Denkens seien, und fragt nach der Möglichkeit und nach den Be
dingungen der Anwendung solcher Begriffe auf die Gegenstände der Erfahrung. Dabei will sich aber der Evolutionismus nicht beruhigen. Ihm erscheint unsere Fähigkeit, das Gemeinsame vieler Objekte in einem Denkakt zusammenzufassen als etwas
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Wunderbares. Er staunt darüber und fragt sich, wie das mög
lich sei, und dieses Staunen ist doch nach Platos Ausspruch (iáXa <piXó<xocpov Tradoç eine echt philosophische Empfindung. Der Evolutionist ist aber auch überzeugt, daß man die Fragen über Wert, Gültigkeit und Anwendbarkeit der Begriffe nicht wissen
schaftlich lösen könne, wenn man nicht weiß, wie Begriffe ent
stehen und unter welchen Bedingungen sie überhaupt möglich sind. Der Evolutionismus geht also hinter den Ausgangspunkt des Apriorismus zurück, er gräbt tiefer und ist kritischer als der Kritizismus.
Wir fragen also nach der Entstehung der Begriffe. Ribot hat uns in seinem Buche «L’évolution des idées generales» zum erstenmal eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung dieser Frage gegeben. Den eigentlichen Entstehungsgrund der allge
meinen Vorstellungen hat er jedoch meiner Ansicht nach nicht gefunden. Ich glaube denselben auf Grund einer Anregung Machs nachgewiesen zu haben. In der dritten Auflage meines Lehrbuches der Psychologie (1902) ist die Sache zum ersten
mal mitgeteilt und in der vierten Auflage (1907), S. 97 ff., wiederholt. Ich glaube mit Ribot, daß sich allgemeine Vor
stellungen sehr frühe nach der Einwirkung der Sprache bilden, und habe dafür mit Anlehnung an Höffding den Ausdruck
„typische Vorstellungen“ vorgeschlagen. Diese entstehen da
durch, daß die Aufmerksamkeit des primitiven Menschen sich aus biologischen Gründen auf die Merkmale der umgebenden Objekte konzentrieren müßte, die für die Lebenserhaltung von Wichtigkeit sind. Dadurch erklärt sich das sonst unverständ
liche Zurücktreten vieler Merkmale, dadurch wird es verständ
lich, daß solche Vorstellungen einerseits lebendige Anschau
lichkeit andererseits repräsentativen C harakter besitzen. Die typische Vorstellung wird von mir als der Inbegriff der bio
logisch bedeutsam en M erkmale eines Objekts bestimmt. Indem ich bezüglich der Einzelheiten auf mein Buch verweise, kon
statiere ich hier, daß die erste Form, in der das Allgemeine in unserem Erkennen auftritt, das biologisch Allgem eine ist.
Eine weitere Entwicklungsstufe wird erreicht durch die Ent
stehung der Sprache. Hier ist zweierlei zu beachten. Dadurch, daß gleich oder ähnlich erscheinende Dinge mit demselben Namen bezeichnet werden, erhalten die gemeinsamen Merk
male der Dinge eine sinnliche Grundlage, einen Körper, einen
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Kristallisationspunkt, wodurch das Zusammenfassen derselben zur gedanklichen Einheit wesentlich erleichtert, ja bei den Be
griffen von Eigenschaften und Zuständen erst ermöglicht wird (vgl. mein Lehrbuch d. Psych., 4. Aufl., S. 110f.). Diese Wir
kung der Sprache ist eine vorwiegend kraft- und zeitsparende, und wir können die im Worte liegende Allgemeinheit das ökonom isch Allgem eine nennen.
Dazu kommt nun das in der Sprachentwicklung bisher zu wenig beachtete soziale Element hinzu. Die Sprachgenossen meinen mit ihren Worten und Sätzen ungefähr dasselbe wie ich. Dadurch allein ist ein Wechsel verkehr möglich, der wieder
um ein Gefühl der Gemeinschaft, der Zusammengehörigkeit auslöst. Das biologisch Allgemeine der typischen Vorstellung und das ökonomisch Allgemeine des Wortbegriffes wird in einer bisher noch kaum geahnten Weise modifiziert und verdichtet durch die offenkundige Tatsache, die man wohl außer acht lassen, aber nicht bestreiten kann, daß die so geschaffenen Denkgebilde Produkte der gemeinsamen Arbeit, der Gesamt
erfahrung der Sprachgenossen sind. Dadurch erst erhalten diese Denkgebilde ihre Festigkeit und ihre Wirksamkeit. Sie stehen dem Einzelnen als etwas Überpersönliches gegenüber, er ist ihrer suggestiven Wirkung immerfort ausgesetzt, er wächst unbewußt hinein in dieses soziologisch A llgem eine, das an dem Aufbau seines Ich einen kaum hoch genug anzuschlagenden Anteil nimmt. Was an wirklicher Denknotwendigkeit und an Allgemeingültigkeit in unseren Urteilen anzutreffen ist, das ist einzig und allein dasjenige, was die Gesamtarbeit der Menschen an allgemeiner und bewährter Erfahrung hervorgebracht hat.
Die Wahrheit der logischen Sätze muß sich wiederum durch ihre sozialfördernde Wirksamkeit immer aufs neue erproben.
Die reinen Logiker und die Aprioriker verflüchtigen diese Wahr
heiten nur, wenn sie nach ihrem Ursprung nicht fragen und als Urtat des Geistes hinstellen, was Frucht des Zusammen- arbeitens vieler Geister ist. Das logisch Allgemeine ist ein Re
sultat des biologisch und des ökonomisch Allgemeinen, das durch das Hinzutreten des soziologisch Allgemeinen Festigkeit und Wirksamkeit erlangt hat. Entzieht man ihm diese Grund
lage, so schwebt es frei und weltfremd in der Luft. Der Evo
lutionismus will eben die Logik aus der Sphäre der toten Ge
wißheit herabführen in das Reich der lebendigen Wahrschein
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lichkeit, weil nur in diesem Reiche Platz ist für reale, frucht
bringende Wirksamkeit.
Der Evolutionismus hat sich in bezug auf das Problem des Begriffes fruchtbarer erwiesen als der Apriorismus, und es wird unsere weitere Aufgabe sein, dies auch bei den anderen philosophischen Problemen nachzuweisen.
Die evolutionistische Philosophie ist aber durchaus nicht voraussetzungslose Wissenschaft. Sie geht vielmehr von be
stimmten Annahmen aus, die zwar nur hohe empirische Wahr
scheinlichkeit für sich in Anspruch nehmen, trotzdem aber als eine Art Apriori des Evolutionismus gelten können. Auf zwei solcher Voraussetzungen will ich zum Schluß noch kurz hin- weisen.
Die evolutionistische Philosophie geht nicht von den letzten Lebenseinheiten aus, den Zellen oder Plasmen, sie findet vielmehr den Menschen, dem sie allein dienen will, vor als eine zentralisierte Organisation. Diese zentralisierte Organi
sation erklärt uns, wie ich anderswo nachgewiesen habe, die Form unseres Urteilens und macht uns die Art und Weise ver
ständlich, mit der wir auf die Einflüsse unserer Umgebung reagieren. Die zentralisierte Organisation des Menschen ist eine unserer Voraussetzungen, sie gehört zu unserem Apriori.
Wir meinen damit etwas Ähnliches mit dem, was Driesch die Kategorie der Individualität nennt. Ich selbst war sogar so ketzerisch zu behaupten, daß das Wahre und Tiefe in Kants
„synthetischer Einheit der Apperzeption“ nichts anderes ist, als die Einsicht in den zentralisierten Charakter unserer Or
ganisation, soweit das Psychische in Betracht kommt (vgl.
meine Gedenkrede auf Kant, Wien, 1904).
Dazu kommt noch eine zweite Voraussetzung. Wir betrachten die psychischen Phänomene als Lebenserscheinungen und setzen überall Beziehungen zur Erhaltung des Einzel- und des Gat
tungslebens voraus. Alles Psychische hat für uns von Anfang an und seinem tiefsten Wesen nach teleologischen Charakter.
Diese von James deutlich ausgesprochene teleologische R ich
tung alles Psychischen ist unser zweites Apriori.
Diese Voraussetzungen sind aber nicht das Resultat er
kenntniskritischer Erwägungen, sie sind vielmehr heuristische Prinzipien, die durch die Ergebnisse empirischer Forschung im hohen Grade wahrscheinlich gemacht werden. Daß sie sich
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als falsch erweisen, brauchen wir deshalb nicht zu fürchten, weil die neuen Tatsachen, die wir mittels derselben finden, selbst wieder zur Bewährung der Prinzipien dienen. Auf dieser Grundlage gilt es nun weiter arbeiten, um die Quellen des menschlichen Erkennens und Handelns in immer weiterem Um
fange aufzudecken und damit zugleich die weltfremd gewordene Philosophie zum Leben zurückzuführen und für das Leben zu verwerten. Wir verzichten auf die absolute Wahrheit, die der Apriorismus für sich in Anspruch nimmt, und machen uns da
für den bescheiden stolzen Ausspruch des Xenophanes zu eigen :
oötoi <xtt5àpxrjç Travia deoi dviyroiq àìréòeiHav àXXà xpóvtu £titoôvt€ç ècpeupicXKOuaiv ajueivov.
N icht ap riori w ollte G ott den M enschen alles künden, Sie lern en m it d er Z eit d u rch F o rsch u n g B e sse re s finden.
D ISK U SSIO N :
E . M ally: Die A nerkennung vo n T a tsa ch e n , die a p riori erk en n b ar sind, sch ließt in k ein er W eise a u s, daß u n sere V orstellu ngen, Begriffe und E rk en n tn isse in d er Z eit w erd en und sich en tw ick eln, n och au ch h in d ert sie im m in d esten , diese E ntw icklu n g p sy ch olo gisch — od er w enn m an will e vo lu tio n istisch — zu verfolgen. A n d ererseits h a t d er G edanke ein er f o r t s c h r e it e n d e n E n t w ic k lu n g u n seres D enkens und in s
b eso n d ere E rk en n en s w ohl n u r d ann ein en Sinn., w enn es irgend w elch e feststeh en d e T a tsa ch e n gibt, zü d eren E rk en n tn is w ir u ns eben im m er vollkom m ener entw ickeln.
S taud inger: E rfa h ru n g ist vo m V orredn er, w ie m ir sch ein t, in zw ei
fach em Sinne genom m en, a ls Sinnesem pfindung und als fertiges W e lt
bild. Die F ä d e n , w elch e e rs te re zum letzteren m ach en , s i n d das a p riori, gleichviel w as ü b er die „A b stam m u n g“ zu denken ist. W en n m a n durch diese F ä d e n e rs t d as W eltbild zu sam m en geb un d en h at, k ann m an sie n a ch h e r le ich t h era u slö se n und glauben, m an h abe sie n a ch trä g lich d a ra u s gew onnen. Im übrigen w id ersp rech en sich E v o lu tion ism u s und A p riorism u s n i c h t . E s sind zw ei versch ied en e Ge
sich tsp u nk te, M e th o d e n d er U ntersu ch u ng.
A lexis Minor (M oskau) : Die P rob lem stellun g des E volu tion ism u s zeigt u ns selb st, daß e r keine P hilosoph ie ist. D er E volu tion ism u s fra g t n a ch d er E n tsteh u n g des Begriffes und e rfo rsc h t die W e lt und den M en sch en ; das is t a b e r n ich ts w eiter, als ein Teil d er gesam ten e m p irisch en W isse n sch a fte n , die d er tran sz e n d e n ta le n P hilosoph ie e rs t als M aterial dienen, das a n a ly sie rt und in bezug auf seinen w issen sch aftlich en W a h rh e itsw e rt geprüft w erden m uß. D er E volu tion ism u s