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Mai 2012 in Saarbrücken Liebe Kolleginnen und Kollegen, der 1

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Es gilt das gesprochene Wort!

Rede des ver.di-Vorsitzenden Frank Bsirske am 1. Mai 2012 in Saarbrücken

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

der 1. Mai fällt in diesem Jahr mitten hinein in die Tarifbewegungen der großen Branchen. Überall erwarten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein reales Lohnplus im Portemonnaie. Zu Recht.

Nach vier Jahren satter Unternehmensgewinne und steilen Anstiegs der Managergehälter muss jetzt auch bei den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern etwas ankommen. Und dafür sind die Kolleginnen und Kollegen bereit, Druck zu machen. Sie sind streikbereit.

Das war so im öffentlichen Dienst, wo 300.000 Kolleginnen und Kollegen an den Warnstreiks teilgenommen haben.

Das ist so bei der Telekom, wo der Vorstand drei Milliarden Euro Dividende für 2011 ausschütten will und ankündigt, 2012 den

Aktionären erneut drei Milliarden Euro zukommen zu lassen, während er gleichzeitig in den Tarifverhandlungen erklärt, mehr als Nullrunden seien bis 2015 nicht drin. Raum für Lohnerhöhungen gäbe es nicht.

Und wenn doch, dann müssten die Beschäftigten das erst einmal selbst erarbeiten mit Arbeitszeitverlängerungen und mit Kürzungen an anderer Stelle. Die richtige Antwort darauf haben zehntausende

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Telekomer gegeben. Sie haben die Arbeit niedergelegt. Und das wirkt.

Und das wird nicht anders sein, wenn in den nächsten Tagen

Warnstreiks in der Metall- und Elektroindustrie folgen - und wo immer sonst die Arbeitgeber in den Tarifverhandlungen dieser Tage und Wochen mauern.

Die IG Metall will die unbefristete Übernahme der Azubis nach erfolgreicher Ausbildung durchsetzen. Gut. Sie will die

Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte stärken, wenn es darum geht, ob und in welcher Höhe Leiharbeit gestattet wird. Das greift ein in die Machtbefugnisse der Unternehmer per Tarifvertrag. Gut so, die Entsicherung der Arbeitsbedingungen muss gestoppt werden. Und so, wie die Kolleginnen und Kollegen der IG Metall ver.di im

öffentlichen Dienst unterstützt haben – auch hier im Saarland – können die Metaller sich unserer Unterstützung sicher sein. Der

Unterstützung aus ver.di und aus den anderen DGB-Gewerkschaften.

Wir sind Gewerkschafter und wir halten zusammen, Kolleginnen und Kollegen.

Streikbewegungen erleben wir in diesen Tagen auch in vielen anderen Ländern Europas.

Damit reagieren die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in

Spanien, Portugal, Griechenland, Italien, Belgien und Großbritannien auf die Bedrohung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen durch die Krisenpolitik à la Merkel und Sarkozy, à la Merkozy.

Krisenpolitik? Ja, Kolleginnen und Kollegen, tatsächlich ist die Krise, die 2008 über die Weltwirtschaft hereinbrach, ja keineswegs zu Ende.

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Im Gegenteil. Seit mehr als vier Jahren erleben wir einen wahren Krisenmarathon.

Immobilienkrise, Finanzmarktkrise, Währungskrise, Krise des

Euroraumes, Krise der Europäischen Union. Jede dieser Krisen trägt die nächste schon in sich und ein Ende dieser zerstörerischen

Dynamik ist nicht in Sicht. Zwar spitzt sich diese Krise nicht überall gleichermaßen zu. Deutschland scheint momentan außen vor zu sein. Die Krise ist zur Zeit gewissermaßen noch die Krise der

anderen, der Griechen, Portugiesen und Iren. Aber mittlerweile sind Spanien und Italien hinzugekommen und auch Belgien und die Niederlande rutschen schon in die Krise. Und, Kolleginnen und Kollegen, machen wir uns nichts vor, das kann uns nicht kalt lassen.

Vierzig Prozent seines Außenhandels wickelt Deutschland mit der Eurozone ab und sechzig Prozent mit der EU. Die Krise der anderen kann da schnell zu unserer eigenen Krise werden. Und die Politik, die Merkel und Sarkozy den anderen aufzwingen, macht es immer

wahrscheinlicher, dass das auch eintritt. Ihre Politik weitet die Krise aus: ökonomisch, indem sie den Abschwung verstärkt. Sozial, weil sie die Spaltung zwischen den Mitgliedsstaaten, aber auch innerhalb der Länder vertieft. Politisch, weil sie demokratische Verfahren außer Kraft setzt und erkämpfte Errungenschaften der sozialen Demokratie wie Tarifautonomie und soziale Schutzsysteme frontal angreift. Was wir da zur Zeit erleben, ist ein „seltsamer Triumph gescheiterter Ideen“.

Es ist schlicht paradox: Dreißig Jahre lang herrschte eine geradezu religiöse Marktgläubigkeit. Dreißig Jahre lang konnten die Herren der Finanzwelt die Nase gar nicht hoch genug tragen. Dreißig Jahre das

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Hohelied auf Liberalisierung, Privatisierung, Deregulierung und maximalen Profit – und dann: die Sozialisierung der Verluste. Dann waren es die Staaten und die Steuerzahler, die Banken und

Wirtschaft vor dem Totalschaden mit hunderten von Milliarden Euros und Dollars bewahren mussten. Um den Preis steigender

Staatsschulden. Kaum aber war das geschehen, haben die eben noch von den Staaten Geretteten begonnen, Jagd auf ihre Retter zu machen und schließen Wetten ab auf deren Ruin. Ratingagenturen, die eben noch Schrottpapieren Bestnoten gaben, urteilen nun über die Kreditwürdigkeit von Staaten. Und Hedgefonds, die erst kürzlich noch Milliardensummen in Investitionsruinen an der Costa del Sol versenkt haben, diktieren Finanzministern nun, was sie zu tun haben und rufen nach weiterer Liberalisierung und Privatisierung.

Das nenne ich einen „seltsamen Triumph gescheiterter Ideen“!

Erst sind die Verluste der Banken an die Staaten weitergereicht worden und nun machen sich interessierte Kreise daran, die durch die Deregulierung der Finanzmärkte verursachte Krise umzudeuten zu einer Staatsschuldenkrise.

„Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt“, sagt Frau Merkel. „Und werden jetzt durch die Märkte zur Disziplin gezwungen“.

Da stutzt man, reibt sich die Augen und fragt sich: „Wir“? Wen meint die eigentlich mit dem „Wir“? Und mittlerweile sind wir ja auch

schlauer und wissen, die meint die Arbeitslosen und die

Rentnerinnen und Rentner. Grad so, als seien große Teile der Staatsschulden nicht Folge von Bankenrettungs- und

Konjunkturpaketen, sondern Ergebnis verschwenderischer Sozialleistungen. So werden die Dinge umgedeutet!

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Im Zeichen dieses Umdeutungsversuchs erleben wir gegenwärtig, wie die Europäische Union in einem geradezu atemberaubenden Tempo in eine reine Wirtschafts- und Wettbewerbsunion verwandelt wird, erleben, wie das Soziale auf der Strecke bleibt, die Sozialunion sträflich vernachlässigt wird und auch vor Eingriffen in soziale

Grundrechte nicht mehr zurückgeschreckt wird.

Nicht nur in Griechenland, auch in Portugal, Irland, Spanien und

Italien zielt die Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und IWF mittlerweile unverhohlen auf die Beseitigung eines ganzen Systems von Arbeitsbeziehungen und Kollektivverträgen, immer mit dem Ziel, Lohnfindungen zu dezentralisieren und auf die

Unternehmensebene oder gleich auf die einzelvertragliche Ebene zu verlagern und es so einfacher zu machen, das Lohnniveau zu

senken.

Gerade eben ist auf Druck der Troika in Griechenland per Gesetz die Nachwirkung von Tarifverträgen aufgehoben worden. Gibt es drei Monate nach Auslaufen eines Tarifvertrages keinen neuen, wird der Lohn einzelvertraglich festgelegt.

Und das bleibt nicht auf Griechenland beschränkt.

In Portugal setzt der Staat Tarifverträge außer Kraft und schreibt die Absenkung der Löhne vor, während zeitgleich die Europäische Zentralbank in einem Brief an die italienische Regierung die Verbetrieblichung des Lohnfindungssystems in Italien verlangt.

Druck auf die Löhne, die Renten, das Arbeitslosengeld, Druck auf die sozialen Sicherungssysteme, Angriff auf die Rechte der Arbeitnehmer und auf ihre Gewerkschaften – das ist die Politik des sogenannten

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Euro-Plus-Paktes, auf den sich die europäischen Regierungen unter dem Druck von Merkel und Sarkozy letztes Jahr verständigt haben.

Da heißt es, Kolleginnen und Kollegen, die Lohnpolitik im öffentlichen Dienst solle künftig die Wettbewerbsfähigkeit der privaten Wirtschaft fördern. Rente erst ab 67 – und zwar europaweit. Das ist dort

vereinbart worden. Alle Staaten haben zu prüfen, ob sie sich ihr Renten- und Gesundheitssystem nach der Bankenrettung noch länger leisten können.

Man muss kein Prophet sein, um zu erkennen, worauf das hinausläuft.

Diese Politik, Kolleginnen und Kollegen, führt in eine europäische Wettbewerbsunion der niedrigsten Löhne, der niedrigsten

Unternehmenssteuern, der niedrigsten sozialen Standards - und das, während die Staaten zeitgleich daran gehen sollen, ihre Ausgaben zu kürzen, auch wenn sie sich dabei in die Rezession sparen!

Das, Kolleginnen und Kollegen, spielt sich gegenwärtig ab. Das ist eine außerordentlich bedrohliche Entwicklung – die über kurz oder lang auch auf uns in Deutschland zurückschlagen wird.

Was da im Namen von Wettbewerbsfähigkeit und

Haushaltskonsolidierung auf den Weg gebracht wird mit dem

Sorglospaket und jetzt neu mit dem Fiskalpakt, spart Europa in die Krise, ja, drängt einzelne Länder schon heute immer schneller in Richtung eines wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruchs.

Glaubt man denn wirklich, Kolleginnen und Kollegen, den Mitgliedsstaaten durch strikte öffentliche und private

Kostensenkungspolitik so viele Wettbewerbsvorteile verschaffen zu

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können, dass damit die negativen Nachfrageffekte ausgeglichen werden? Wer soll denn eigentlich die Waren kaufen, wenn zeitgleich der private und der öffentlichen Konsum drastisch beschnitten

werden? Die Antwort, die die Verfechter dieser Politik auf diese Frage bereithalten, lautet: Die Anderen! Die Anderen sollen vermehrt die Waren kaufen.

Und die Anderen, das sind die Amerikaner, die Briten, die

Schwellenländer. Nur, dass die Amerikaner die Politik des Konsums auf Pump so nicht mehr fortführen können, in Großbritannien die Regierung auf Einsparen setzt und in vielen Schwellenländern die Wachstumsdynamik nachlässt.

Wie muss es den Verfechtern dieser Politik, den Merkels und

Sarkozys, eigentlich in den Ohren klingen, wenn eine Rating-Agentur wie Standard & Poor´s mit weiteren Herabstufungen droht, weil die aktuellen Strategien der Euro-Staaten – ich zitiere –

„selbstzerstörerisch“ seien. Der geplante Fiskalpakt – führt Standard

& Poor´s zur Begründung an – ziele „zu einseitig auf verschärftes Sparen, ohne das Wachstumspotenzial zu heben, was die Gefahr einer schweren Rezession in Europa vergrößere.“

In der Tat!

Nein, Kolleginnen und Kollegen, diese Politik ist nicht nur unsozial, sie kann auch ökonomisch nicht funktionieren. Es gibt weltweit nicht ein einziges Beispiel dafür, dass Kürzungen von Löhnen‚ Renten- und Sozialleistungen ein krankes Land genesen lassen. Die

Chancen, dass weitere Einsparungen die Probleme lösen, liegen nahe null. Eine Überdosis Sparen macht alles nur noch schlimmer.

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Diese Politik treibt Europa in die Rezession, bewirkt, dass in immer mehr Ländern große Teile der Gesellschaft verarmen und sich immer mehr Menschen mit Bitterkeit von Europa abwenden.

Zugleich hebelt diese Politik demokratische Prozesse aus.

Der Fiskalpakt soll doch tatsächlich für alle verbindlich sein, sobald 12 von 25 Staaten ihn angenommen haben. Er soll dann automatisch auch für die übrigen 13 gelten. Und damit nicht genug. Eine

Kündigung des Paktes soll anschließend selbst mit

verfassungsändernder Mehrheit nicht mehr möglich sein, solange auch nur ein einziger von 25 Staaten an dem Pakt festhalten will.

Juristen sprechen von einer Einigkeitsgarantie. Mit Volkssouveränität, Kolleginnen und Kollegen, hat das nichts mehr zu tun. So untergräbt man die Legitimation eines europäischen Projektes, so legt man eine Zeitbombe an die europäische Integration, eine Zeitbombe, die

bereits zu ticken begonnen hat.

Und diese Zeitbombe, Kolleginnen und Kollegen, muss entschärft werden. Zusammen mit dem Europäischen Gewerkschaftsbund, zusammen mit unseren Kolleginnen und Kollegen in den

europäischen Gewerkschaften fordert der Deutsche Gewerkschaftsbund klar und eindeutig:

Der Fiskalpakt muss in der vorliegenden Form abgelehnt und neu verhandelt werden. Eine verfassungsändernde Mehrheit für diesen Pakt darf es im Gesetz nicht geben! Nein zu diesem Fiskalpakt! Das ist unsere Position. Das, Kolleginnen und Kollegen, ist die Forderung der Gewerkschaften an die Fraktionen des Deutschen Bundestages!

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Den Fiskalpakt abzulehnen reicht alleine freilich nicht aus. Wir

brauchen einen politischen Richtungswechsel in Deutschland und in Europa: Finanztransaktionen müssen künftig drastisch besteuert werden. Die Finanzmarktakteure als Krisenverursacher müssen zur Finanzierung der Krisenlösung wirksam herangezogen, die

Finanzmärkte reguliert sowie der Bankensektor neu geordnet werden.

Für Staatsanleihen muss die Eurozone gemeinsam bürgen. Und die Staatsfinanzen müssen von den Kapitalmärkten entkoppelt werden.

Aberwitzig, dass die Europäische Zentralbank den privaten Banken eine Billion Euro an Krediten ausreicht zu einem Zinssatz von

1 Prozent. Geld, das die Banken anschließend den Staaten zu Zinssätzen von 6 Prozent und mehr leihen. So machen die Banken Milliarden Profite pro Jahr, wobei es den Staaten verwehrt ist, Kredite direkt bei der Europäischen Zentralbank aufzunehmen.

Die europäische Geldpolitik ist neben dem Ziel der Geldwertstabiliät auf wachstums- und beschäftigungspolitische Ziele zu verpflichten.

Den Staaten mit hohen Schulden müssen durch Hilfen neue Entwicklungsperspektiven eröffnet werden. Wir brauchen eine europäische Investitionsoffensive, einen Marshallplan mit

Investitionen in Infrastruktur, Energiewendeprojekte, die eine neue Wachstumsdynamik bewirken – auch für die Länder des Südens.

Natürlich haben diese Länder Hausaufgaben zu machen. Und nicht wenige. Handlungsbedarf aber gibt es nicht nur dort.

Handlungsbedarf gibt es auch bei uns.

Es ist ein Gebot der Stunde, den Binnenmarkt in Deutschland zu

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unseren Haupthandelspartnern hängt die wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland 2012 maßgeblich vom Binnenmarkt ab. Dazu müssen die Löhne wieder stärker steigen als in den vergangen Jahren.

Desweiteren brauchen wir eine neue Ordnung am Arbeitsmarkt und ein Zurückdrängen des Niedriglohnsektors und der prekären Arbeit.

Dazu gehört die Einführung eines einheitlichen gesetzlichen Mindestlohns auf dem Niveau unserer westeuropäischen

Nachbarländer von durchschnittlich 8,50 Euro als Einstieg und dann schnell aufsteigend Richtung 10 Euro.

Letzte Woche wurden Zahlen der Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht, wonach jeder 10. Arbeitslosengeld-Empfänger

zusätzlich Hartz IV braucht. Jeder 4. Arbeitslose ist sofort auf Hartz IV angewiesen. Das zeigt das Ausmaß der Armutslöhne.

Es ist ein Unding, dass immer noch 6 Millionen Menschen für

Stunden-Löhne unter 8 Euro arbeiten, darunter über eine Million mit Stundenlöhnen von 5 Euro und weniger. Das ist arbeitende Armut, nichts anderes, und das darf es in unserem Land nicht mehr geben.

Arbeit darf nicht arm machen und nicht entwürdigen.

Eine neue Ordnung am Arbeitsmarkt – dazu gehört auch, dass

gleiche Arbeit gleich bezahlt wird und zwar von der ersten Stunde an, egal ob Leiharbeit oder Stammarbeit. Und weiter: Die gesetzliche Möglichkeit zur sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverhältnissen muss abgeschafft werden, ebenso wie die Sozialversicherungsfreiheit von Minijobs. Werkverträge und Scheinselbständigkeit müssen

rechtlich eingegrenzt und beschränkt werden, damit sie nicht dazu missbraucht werden können, Mindestlohn und equal pay zu

umgehen.

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Durch eine neue Ordnung am Arbeitsmarkt muss es leichter werden, Tarifverträge allgemeinverbindlich erklären lassen zu können – damit die Tarifbindung in Deutschland wieder zunimmt.

Davon würden in hohem Maße Frauen profitieren. Denn nach wie vor hat der Niedriglohnbereich ein Gesicht. Und das ist weiblich. Die Rückkehr der Unsicherheit, die Entsicherung der Arbeit, die wir seit Jahren erleben, trifft vor allem Frauen. Und Jugendliche. Mehr als 30 Prozent der Erwerbstätigen unter 35 Jahren arbeiten unter

unsicheren Bedingungen, in Leiharbeit, Scheinselbständigkeit oder unfreiwilliger Teilzeit. Sie arbeiten zu Niedriglöhnen, die nicht dafür ausreichen, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Jeder zweite

Berufsanfänger wird nur noch befristet eingestellt. Das erschwert nicht nur den beruflichen Einstieg, sondern auch die persönliche Lebensplanung.

Dieser millionenfachen Entsicherung muss entgegen gewirkt werden.

Im Interesse der Jungen, der Frauen, im Interesse aller

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch durch strikteren Regeln für Werkverträge und Scheinselbständigkeit.

Und, Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen eine bessere Sicherung im Alter. Im Zuge der Teilprivatisierung der Altersvorsorge – mit

Riesterrente, Riestertreppe, Nachhaltigkeitsfaktor und zuletzt der Rente erst ab 67 – ist das Rentenniveau in den letzten 10 Jahren um 25 Prozent abgesenkt worden. Und das wird so weitergehen, wenn nicht gegengesteuert wird.

Bei einem Durchschnittsverdienst – das sind zur Zeit rund 3000 Euro brutto im Monat – muss man heute bereits 27 Jahre arbeiten, um

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dafür schon 33 Beitragsjahre nötig. 33 Beitragsjahre bei einem Einkommen von 3000 Euro brutto im Monat.

Was heißt das für jemanden, die oder der nur zwei Drittel der

Durchschnittseinkommens bezieht, also 2000 Euro brutto monatlich:

Die oder der wird 45 Beitragsjahre brauchen, um Hartz IV-Niveau in der gesetzlichen Rente zu erreichen. Kolleginnen und Kollegen, 2000 Euro brutto und weniger im Monat, da liegen Millionen Beschäftigte drunter. Was sich da aufbaut, ist Altersarmut für Millionen von Menschen – und da muss gegengesteuert werden:

- mit der Rente nach Mindesteinkommen, über die Zeiten im

Niedriglohnbezug und in der Arbeitslosigkeit aufgewertet werden - mit Verbesserungen bei der Erwerbsunfähigkeits- und

Erwerbsminderungsrente

- in den Betrieben mit der Auseinandersetzung um Arbeitsdruck und psychische Belastungen in der Arbeit – kurz: mit dem Eintreten für gute Arbeit.

- und mit einem klaren Nein zur Rente erst mit 67 Jahren – denn die Rente erst mit 67 Jahren ist ein Rentenkürzungsprogramm, das alle, die es nicht bis zum 67. Jahr im Betrieb schaffen, mit

Rentenabschlägen bedroht. Dauerhaft, für die gesamte Dauer des Rentenbezugs – zur Zeit in Höhe von durchschnittlich 114 Euro monatlich. In einer Situation, wo derzeit gerade mal 21 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das 65. Lebensjahr an

ihrem Arbeitsplatz erreichen - und da sind auch schon alle

mitgerechnet, die in der Freizeitphase der Altersteilzeit sind – ist die Rente erst ab 67 Jahren frontal gegen die Interessen der

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Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gerichtet. Damit werden wir unseren Frieden nicht machen, Kolleginnen und Kollegen. Das können, wollen und werden wir nicht akzeptieren.

So wie die Regulierung des Arbeitsmarktes es den Gewerkschaften auch in der Lohnpolitik einfacher machen wird, helfen

Verbesserungen der Alterssicherung den Rentnerinnen und Rentnern. Das alles stärkt den Binnenmarkt – und muss ergänzt werden durch eine Verstärkung öffentlicher Investitionen in Bildung, Umwelt, Energiewende und öffentliche Infrastruktur – alles Bereiche mit lange schon hohem Handlungsbedarf. Bereiche, die alle unter der strukturellen Unterfinanzierung der öffentlichen Haushalte leiden.

Nicht Herdprämien, nicht diesen CSU-Unsinn vom Betreuungsgeld braucht es, sondern Investitionen in Krippen und Kitas, Schulen und Hochschulen – und zwar Investitionen nicht nur in Beton, sondern auch in Köpfe. Es braucht Investitionen in den Klimaschutz und Verbesserungen bei der Pflege in den Krankenhäusern, wie auch in der Pflege Älterer - und zwar in Größenordnungen, die nach

Milliarden zählen. Sie einzufordern, heißt nicht, für ungehemmte weitere Verschuldung zu plädieren. Sie können anders, gerechter finanziert werden, mit einer anderen Verteilungspolitik als bisher, über eine Umverteilung, diesmal von oben nach unten. Spielraum dafür, Kolleginnen und Kollegen, gibt es noch und nöcher.

So kommen heute nur noch knapp fünf Prozent des gesamten deutschen Steueraufkommens aus der Unternehmensbesteuerung.

Es ist überfällig, dafür zu sorgen, dass Deutschland aufhört bei der Besteuerung großer Erbschaften und Vermögen eine Steueroase zu sein. Fünfundzwanzig bis dreißig Milliarden Mehreinnahmen pro Jahr

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gäbe es, würde Deutschland nur aufschließen auf das

durchschnittliche Besteuerungsniveau dieser Steuerarten in der Europäischen Union. Und 54 Milliarden Euro mehr, würden wir auf das durchschnittliche Besteuerungsniveau in der Europäischen Union aufschließen bei der tatsächlichen Besteuerung von Kapital- und Unternehmensgewinnen. Wir reden nur bei diesen Steuerarten über 70 – 85 Milliarden Euro jährlicher Steuereinnahmen, die uns vom durchschnittlichen Besteuerungsniveau in der Europäischen Union trennen.

Kolleginnen und Kollegen, im Lichte dieser Fakten ist das, was auf dem ersten Blick als Schuldenkrise des Staates erscheint, beim näheren Hinsehen die Krise eines Steuerstaates, der sich den Luxus leistet, seine Geldvermögensbesitzer steuerlich zu privilegieren.

Eines Staates aber, der sich den Luxus leistet, seine

Geldvermögensbesitzer unterzubesteuern, jedenfalls gemessen am durchschnittlichen Besteuerungsniveau in der Europäischen Union.

Der muss sich das Geld, das ihm zur Bewältigung seiner Aufgaben fehlt, bei eben diesen Geldvermögensbesitzern leihen, gegen mehr oder weniger teure Zinsen. Oder er muss auf Aufgabenabbau und auf Investitionsabbau setzen.

Das ist das, was wir gegenwärtig erleben – in den Kommunen, auf Landes- und auf Bundesebene. Aber gottgegeben ist das nicht, sondern Produkt politischer Entscheidungen, und die gilt es zu beeinflussen und zu ändern. Das ist unsere Aufgabe in den

kommenden Monaten. Das ist die Forderung, die Gewerkschaften Richtung 2013, Richtung Bundestagswahl, an die politischen Parteien

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herantragen und die wir offensiv, gemeinsam mit euch, Kolleginnen und Kollegen, vertreten werden.

Diesen Richtungswechsel herbeizuführen in Deutschland und Europa, das hilft den Menschen hier, hilft Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, Rentnerinnen und Rentnern, Arbeitslosen, hilft der Jugend, hilft allen in Europa.

Helft, die Europäische Union auf einen anderen Kurs zu bringen.

Wir sagen: Mehr Europa? – Ja, mehr Europa, aber anders als bisher!

Erteilen wir dem neoliberalen Katastrophenkurs eine Absage. Nein zum Fiskalpakt, aber: Ja zu einem sozialen, solidarischen und

demokratischen Europa, in dem die Völker friedlich zusammenleben.

Dafür stehen die Gewerkschaften. Dafür brauchen wir starke Gewerkschaften. Gewerkschaften, die die Politik unter Zugzwang bringen können. Gewerkschaften, mit denen sich die

Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Betrieben schützen können und mit denen sie für faire Entlohnung, gute

Arbeitsbedingungen und auskömmliche Renten streiten.

Gewerkschaften, die in der Lage sind, Kräfte zu bündeln und

berechtigten Forderungen den nötigen Nachdruck zu verleihen, egal ob bei der Telekom oder in der Metall- und Elektroindustrie, im

öffentlichen Dienst oder in den anderen Branchen, wo demnächst Tarifverhandlungen anstehen.

Dafür sorgt ihr, Kolleginnen und Kollegen, dafür sorgen wir gemeinsam.

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Wir stehen für fundamentale moralische Werte in unserer

Gesellschaft, für soziale Gerechtigkeit, für gegenseitigen Respekt, für die Würde des Menschen, in der Arbeit wie im Alter, stehen für die Interessen auch der Jungen: Bildung und Ausbildung, streiten für die Übernahme nach erfolgreicher Ausbildung in möglichst gesicherte Arbeitsverhältnisse.

Und deswegen, Kolleginnen und Kollegen, sind wir stolz,

Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter zu sein. Heute an diesem 1. Mai 2012, hier auf diesem Platz und morgen wieder in den

Betrieben, in den Ausbildungsstätten und wo immer sonst

Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter ihren Mann und ihre Frau stehen!

Ich danke euch!

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