GRUNDLAGEN DER ANALYSIS, TOPOLOGIE UND GEOMETRIE (WWU 2016) 39
14. DIE FUNDAMENTALGRUPPE UNDABBILDUNGEN In den vorigen Beispielen (3) und (4) benutzten wir implizit bereits:
Satz 14.1. Sei f: X →Y eine stetige Abbildung topologischer Räume und x∈X. Dann ist die Abbildung
f∗: π1(X,x)→π1(Y,f(x)), [w]7→[f◦w]
ein Homomorphismus von Gruppen.
Beweis. Wohldefiniertheit: ausv∼H winX folgt f◦v∼f◦H f◦winY.
Verträglichkeit mit der Verknüpfung: für alle Wegev,winX mitv(1) =w(0)gilt(f◦
v)∗(f◦w) = f◦(v∗w).
Die Zuordnungen(X,x)7→π1(X,x)und f 7→ f∗sind “funktoriell” in folgendem Sinn:
Bemerkung 14.2. (1) SeienX−→f Y −→g Zstetige Abbildungen topologischer Räume undx∈X. Dann ist
(g◦f)∗=g∗◦f∗: π1(X,x)→π1(Z,g(f(x))), [w]7→[g◦f◦w].
(2) IstidX die Identität auf einem topologischen RaumX, so ist(idX)∗die Identität auf : π1(X,x)für jedesx∈X.
Eine wichtige Anwendung betrifft Selbstabbildungen vonDn={x∈Rn:kxk ≤1}: Theorem 14.3 (Fixpunktsatz von Brouwer). Jede stetige Abbildung f: Dn→Dn hat einen Fixpunkt.
Beweis für n=2. Angenommen, f: D2 →D2 hat keinen Fixpunkt. Für jedes x∈D2 bezeichneg(x)den Schnittpunkt des Strahles von f(x)durchxmitS1=∂D2.
Dann istg: D2→S1 stetig undg|S1 =idS1. Bezeichne j: S1,→D2die Einbettung und seix= (1,0)∈S1. Dann kommutiert
Z∼=π1(S1,x) id∗ //
j∗ ))
π1(S1,x)∼=Z π1(D2,x). g∗
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DaD2konvex ist, istπ1(D2,x)trivial. Also kann j∗nicht injektiv undg∗nicht surjektiv sein, ein Widerspruch.
40 PD DR. THOMAS TIMMERMANN
Konkreter: Nach Beispiel 13.8 (2) existiert ein WegwinS1von 1 nach 1 mitw6∼ι1. Da D2konvex ist, finden wir inD2eine HomotopieH vonwzuι1. Dann ist aberg◦H eine Homotopie vonwnachι1, die ganz inS1verläuft, ein Widerspruch.
Die Fundamentalgruppe und die induzierten Abbildungen ändern sich nicht, wenn man die Räume bzw. Abbildungen “stetig deformiert”:
Definition 14.4. Wir nennen stetige Abbildungen f,g: X →Y topologischer Räume
• homotop, falls es eine stetige Abbildung H: X×[0,1]→Y mit H0:=H(−,0) = f und H1:=H(−,1) =g gibt;
• homotop relativ zuA⊆X, falls zusätzlich f(a) =H(a,t) =g(a)für alle a∈A und t∈[0,1].
In dem Fall nennen wir H eine Homotopie von f nach g(relativ zu A)und schreiben f ∼g oder f ∼Hg relativ zu A.
Bemerkung 14.5. Achtung! Zwei Wegev,win einem RaumX sind
• frei homotop als Wege im Sinn von Definition 13.1 genau dann, wenn sie ho- motop als Abbildungen von[0,1]nachX in obigem Sinn sind;
• homotop als Wege im Sinn von Definition 13.1 genau dann, wenn sie homotop relativ zu{0,1}als Abbildungen von[0,1]nachX sind.
Wir werden für Wege die Sprechweise von Definition 13.1 beibehalten.
Wie für Wege sind Homotopie und relative Homotopie von Abbildungen Äquivalenzre- lationen.
Satz 14.6. Seien f,g: X →Y stetige Abbildungen und homotop relativ zu x∈X. Dann ist f(x) =g(x) =:y und
f∗=g∗: π1(X,x)→π1(Y,y).
Beweis. Ist f ∼H grelativ zux und [w]∈π1(X,x), so ist (f ◦w)∼K (g◦w)mit Kt =
Ht◦wfür allet∈[0,1].
Jeder Äquivalenzbegriff für Abbildungen führt in natürlicher Weise zu einem Äquiva- lenzbegriff für Räume:
Definition 14.7. Zwei topologischer Räume X,Y heißenhomotop, falls es stetige Ab- bildungen Xf
g Y gibt mit g◦f ∼idX und f◦g∼idY. Sind x∈X und y∈Y , so nennen wir (X,x) homotop zu (Y,y), falls zusätzlich f(x) =y, g(y) =x und die Homotopien relativ zu x bzw. y gewählt werden können. In diesen Fällen schreiben wir X ∼Y bzw.
(X,x)∼(Y,y).
Bemerkung 14.8. Homotopie von Räumen ist eine Äquivalenzrelation (ÜA).
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Beispiel 14.9. SeiSn={x∈Rn+1:kxk2=1}. Dann istRn+1\ {0} ∼Sn, denn für die Abbildungen
f: Rn+1\ {0} →Sn, x7→ x
kxk2, und g=idSn: Sn→Rn+1\ {0} gilt f◦g=idSn undg◦ f ∼H idRn+1\{0}mit
H(x,t):= x kxk12−t.
Folgerung 14.10. Sind(X,x)und(Y,y)homotop, so giltπ1(X,x)∼=π1(Y,y).
Beweis. Sind f,g wie in der Definition, so sind f∗ und g∗ nach Satz 14.6 zueinander
inverse Isomorphismen.
Bemerkung 14.11. Es gilt sogar: sind X,Y homotop und wegzusammenhängend, so giltπ1(X,x)∼=π1(Y,y)für allex∈X,y∈Y; siehe Übung.