Erste Anwendungen von π 1 ( S 1 ) und mehr Elementares über π 1
Der Brouwersche Fixpunktsatz
Bisher haben wir nur die Fundamentalgruppen kontrahierbarer Räume und der Kreislinie berechnet. Das genügt aber schon für die folgende Proposition.
4.1 Proposition. Es gibt keine stetige Retraktion von der Kreisscheibe auf die Kreislinie, das heißt keine stetige Abbildungr:D2 →S1 mitr|S1 = idS1. Beweis. Sei p ∈ S1 ein Punkt, i: (S1, p) → (D2, p) die Inklusion, und r: (D2, p) → (S1, p) stetig. Wir nehmen an, dass r◦i = id, dass also das Diagramm von Räumen mit Basispunkt
(S1, p) i //
id(S1,p) $$
(D2, p)
r
(S1, p)
kommutiert. Wegen Proposition 3.8 erhalten wir daraus das kommutative Diagramm von Gruppen
π1(S1, p) i# //
idπ
1(S1,p) &&
π1(D2, p)
r#
π1(S1, p).
DaD2 zusammenziehbar ist, istπ1(D2, p) trivial. Damit ist auch die Komposi- tionr#◦i#= idπ1(S1,p)trivial. Dies ist ein Widerspruch zuπ1(S1, p)∼=Z.
Dies ist auch für Abbildungen Dm+1 → Sm wahr. Der Fall m = 0 ist gerade der Zwischenwertsatz, der Fall m > 1 liegt nicht im Bereich der Methoden, die wir im Moment zur Verfügung haben.
Als direkte Folgerung haben wir:
1
2 4. Erste Anwendungen von π1(S1) und mehr Elementares über π1 4.2 Satz (Brouwerscher Fixpunktsatz in Dimension 2). Jede stetige Abbil- dungf:D2→D2 hat einen Fixpunkt.
Beweis. Sei f:D2 → D2 stetig und fixpunktfrei. Wir zeigen, dass die Exi- stenz einer stetigen Retraktion r:D2 →S1 folgt, was der vorhergehenden Proposition widerspricht.
Die folgende Konstruktion ist an dieser Stelle die übliche, da man dazu eine gute Zeichnung anfertigen kann. Man tue dies. Seix∈D2. Daf(x)6=x existiert ein eindeutig bestimmter vonf(x) ausgehender Strahl, der durchx geht. Man definierer(x) als den Schnittpunkt dieses Strahls mit S1. Offenbar ist fürx∈S1 dannr(x) =x. Leider ist es etwas lästig, die Stetigkeit von r nachzurechnen.
Eine alternative Konstruktion, bei der die Stetigkeit sofort ersichtlich ist,
findet man in [Bre93, 11.12].
Abbildungsgrad und der Fundamentalsatz der Algebra
Im folgenden identifizieren wirS1 mit der Menge der komplexen Zahlen vom Betrag 1.
4.3 Definition. Seif:S1→S1 eine stetige Abbildung. Wir definieren den Grad von f, degf ∈Zwie folgt. Sei
f¯: (S1,1)→(S1,1), z7→f(z)/f(1)
und Φ der Isomorphismus aus Proposition 3.23. Dann sei degf die ganze Zahl, die das Diagramm
π1(S1,1)
f¯# //π1(S1,1)
Z
∼= Φ
OO
·degf //Z
∼= Φ
OO
kommutativ macht.
4.4 Bemerkung. Wir haben in der Definition benutzt, dass jeder Homo- morphismus vonZnachZdie Multiplikation mit einer eindeutig bestimmten ganzen Zahl ist.
4.5 Proposition. Sindf, g:S1 →S1 Abbildungen und f 'g, so istdegf = degg.
Beweis. SeiH:S1×I →S1 eine Homotopie vonf nachg. Wir betrachten H¯:S1×I →S1, ¯H(z, t) :=H(z, t)/H(1, t). Dann ist ¯H(z,0) =f(z)/f(1) = f(z), ¯¯ H(z,1) =g(z)/g(1) = ¯g(z), und ¯H(1, t) = 1 für alle z∈S1, t∈I. Also ist ¯f 'g¯: (S1,1)→(S1,1) und damit ¯f#= ¯g#, also degf = degg.
4.6 Proposition. Für k∈Zund a∈S1 ⊂C ist der Grad der Abbildung S1→S1
z7→azk gleich k.
Beweis. Sei f die Abbildungf(z) =azk. Dann ist ¯f(z) =f(z)/f(1) =zk. Sei l ∈ Z. Der Weg ul, der in der Definition von Φ vorkam, war gerade durchul(r) = exp(2πi·lr) gegeben, auch wenn wir es dort anders formuliert haben. Dann ist ¯f(ul(r)) = exp(2πi·lr)k = exp(2πi·klr) = ukl(r), also f¯#(Φ(l)) = ¯f#([ul]) = [ ¯f ◦ul] = [ukl] = Φ(kl), also, dal beliebig war (l= 1
hätte natürlich genügt), degf =k.
4.7 Proposition(Fundamentalsatz der Algebra). Seip(z) =Pnk=0akzk ein komplexes Polynom vom Gradn, also an6= 0. Hat p keine Nullstelle, so ist n= 0.
Zum Beweis halten wir ein Polynompvom Gradnwie in der Formulierung des Satzes fest und definieren für reellesr≥0, so dasspkeine Nullstelle vom Betragr hat,
fr:S1 →S1, z7→ p(rz)
|p(rz)|. 4.8 Lemma. Ist p(0)6= 0, so ist degf0 = 0.
Beweis. f0(z) = |p(0)|p(0) = |p(0)|p(0) z0. 4.9 Lemma. Es sei 0≤r0 ≤r1. Hat p keine Nullstelle auf dem Kreisring {z∈C:r0 ≤ |z| ≤r1}, so ist degfr0 = degfr1.
Beweis. Die Abbildung
S1×I →S1,
(z, t)7→ p((r0+t(r1−r0))z)
|p((r0+t(r1−r0))z)|
ist eine Homotopie vonfr0 nachfr1.
4.10 Lemma. Es sei 0< r. Hat p keine Nullstelle auf dem unbeschränkten Kreisring {z∈C:r≤ |z|}, so ist degfr =n.
Beweis. Die Idee ist, das vorherige Lemma damit zu kombinieren, dass sich fr für große r in etwa wiez7→ |aan
n|zn verhält.
4 4. Erste Anwendungen von π1(S1) und mehr Elementares über π1 Wir definieren
H:S1×I →S1, (z, t)7→
Pn
k=0akrktn−kzk
|Pnk=0akrktn−kzk|.
Man beachte, dass sich der Zähler für t6= 0 alstn·fr/t(z) schreiben lässt.
Daher ist der Nenner in diesem Fall nie Null, und insbesondere istH(z,1) = fr(z). Außerdem istH(z,0) =an/|an| ·zn. Es ist also degfr= degH(•,0) =
n.
Beweis des Fundamentalsatzes. Hatpgar keine Nullstelle, so liefern die drei Lemmata die drei Gleichungen 0 = degf0 = degf1 =n.
4.11 Bemerkung. Man kann diesen Beweis auch für reelle Polynome durch- führen. Man erhält dann Abbildungenfr:S0→S0 und dass die Abbildung S0 → S0,x 7→ |aan
n|xn homotop zu einer konstanten Abbildung ist. Da idS0 nicht homotop zu einer konstanten Abbildung ist (Zwischenwertsatz!), folgt, dass n gerade (also nicht unbedingt 0, aber kongruent 0 modulo 2) ist.
Aber der Beweis, dass aus dem Zwischenwertsatz folgt, dass ein reelles Po- lynom ungeraden Grades eine Nullstelle hat, lässt sich wohl auch einfacher formulieren.
Weitere Eigenschaften der Fundamentalgruppe
Der Einfluss des Basispunktes
DaI (der Urbildraum von Wegen) und I×I (der Urbildraum von Homo- topien von Wegen) wegzusammenhängend sind, ‚sieht‘ π1(X, x0) nur die Wegkomponente vonX, in derx0 liegt. Liegen allerdingsx0 undx1 in der sel- ben Wegkomponente, so werden wir nun sehen, dassπ1(X, x0) undπ1(X, x1) isomorph sind.
4.12 Definition. SeiXein Raum undp:I →Xstetig,p(0) =x0,p(1) =x1. Dann definieren wir
hp:π1(X, x1)→π1(X, x0) [w]7→[p∗w∗p−].
Die Wohldefiniertheit folgt aus Proposition 3.3 (und Proposition 3.4).
4.13 Proposition. Sei X ein Raum, p, p0, q:I → X stetig, p(1) = q(0), x0 ∈X. Dann gilt:
(i) hp ist ein Homomorphismus.
(ii) Ist p'p0 rel {0,1}, so ist hp =hp0.
(iii) Es ist hcx
0 = idπ1(X,x0). (iv) Es isthp∗q=hp◦hq.
(v) Istpeine Schleife beix0undγ := [p]∈π1(X, x0), so isthp:π1(X, x0)→ π1(X, x0) der innere Automorphismus hp(α) =γαγ−1.
Beweis. Das sind alles einfache Folgerungen aus Proposition 3.4.
4.14 Proposition. SeiX ein Raum,x0, x1∈X. Liegen x0, x1 in der selben Wegkomponente von X, so istπ1(X, x0)∼=π1(X, x1), denn für jeden stetigen Weg p:I →X mit p(0) =x0, p(1) =x1 ist
hp:π1(X, x1)→π1(X, x0)
ein Isomorphismus. Sind p, q zwei solche Wege, so ist q∗p− eine Schleife bei x0 und mit α:= [q∗p−]∈π1(X, x0) ist
hq(β) =αhp(β)α−1 für alle β∈π1(X, x0),
hp und hq unterscheiden sich also um einen inneren Automorphismus von π1(X, x0).
Beweis. Istpein stetiger Weg vonx0nachx1, so isthp◦hp− =hp∗p− =hcx
0 = idπ1(X,x0) und ebenso hp−◦hp = idπ1(X,x1). Damit isthp ein Isomorphismus.
Ist q ein weiterer stetiger Weg von x0 nach x1, so ist hq = hq∗p−∗p =
hq∗p−◦hp.
Ist X wegzusammenhängend und π1(X, x0) abelsch, so hängt hp nicht von p ab und wir könnenπ1(X) als unabhängig vom Basispunkt betrachten.
So ist es im Nachhinein auch nicht verwunderlich, dass wir bei der Diskus- sion des Grades einer Abbildung S1 → S1 nicht verlangen mussten, dass Abbildungen oder Homotopien (siehe auch Proposition 4.19) den Basispunkt erhalten. Im allgemeinen ist mehr Vorsicht nötig.
Homotopieäquivalenz
Homotopie von Abbildungen führt uns zu einer Äquivalenzrelation auf Räu- men, die schwächer als Homöomorphie ist. Eine Variante dieses Konzepts für punktierte Räume ist uns bereits in Proposition 3.9 begegnet.
4.15 Definition. SeienX,Y Räume. EineHomotopieäquivalenz zwischenX undY ist eine stetige Abbildungf:X→Y, so dass eine stetige Abbildung g:Y →X mit
g◦f 'idX und f◦g'idY
existiert. In dieser Situation nennen wir g homotopieinverszu f. Wir sagen, X und Y seienhomotopieäquivalent, und schreiben X'Y, wenn zwischen ihnen eine Homotopieäquivalenz existiert.
6 4. Erste Anwendungen von π1(S1) und mehr Elementares über π1
4.16 Proposition. Homotopieäquivalenz ist eine Äquivalenzrelation.
Beweis. Seien X, Y, Z Räume. idX: X → X zeigt X ' X und damit die Reflexivität. Symmetrie ergibt sich sofort aus der Definition. Seien nun f:X →Y undg:Y →Z Homotopieäquivalenzen mit Homotopieinversen f0 und g0. Dann ist
(f0◦g0)◦(g◦f) =f0◦(g0◦g)◦f 'f0◦idY ◦f =f0◦f 'idX und ebenso
(g◦f)◦(f0◦g0)'idZ,
alsog◦f:X→Z eine Homotopieäquivalenz. Das zeigt die Transitivität.
4.17 Beispiel. Seii:Sn−1→Rn\{0}die Inklusionsabbildung. Wir haben in Beispiel 1.3 eine Abbildungr:Rn\{0} →Sn−1angegeben, die homtopieinvers zui ist. Es ist alsoRn\ {0} 'Sn−1.
Eine einfache Umformulierung ist:
4.18 Proposition. Sei X ein Raum. Dann ist X genau dann zusammen- ziehbar, wennX homotopieäquivalent zu einem einpunktigen Raum ist.
Freie Homotopie und die Fundamentalgruppe
Wir werden nun untersuchen, was man über die von homotopen Abbildun- gen induzierten Homomorphismen sagen kann, wenn die Homotopien den Basispunkt bewegen dürfen.
4.19 Proposition. Seien X, Y Räume, x0 ∈ X, f, g: X → Y stetig und f 'g. Ist H:X×I →Y eine Homotopie zwischen f und g, H(•,0) =f, H(•,1) = g, und p:I → Y der Weg H(x0,•) in Y, y0 :=p(0), y1 :=p(1), so ist das Diagramm
π1(X, x0) g# //
f# &&
π1(Y, y1)
hp
∼=
π1(Y, y0)
kommutativ. Ist insbesondere eine der beiden Abbildungen f#, g# ein Iso- morphismus, so auch die andere.
Beweis. Wir definieren die Wege l, r, o, u:I → I×I,l(s) = (0, s), r(s) = (1, s), o(s) = (s,1), u(s) = (s,0). Da I ×I konvex ist, ist u ' l ∗o∗
r− rel {0,1}.
Ist nunweine Schleife beix0undG:=H◦(w×idI), so istG◦l=p= G◦r, G◦u=f ◦w, G◦o=g◦w und daherf ◦w 'p∗(g◦w)∗p− rel {0,1},
alsof#([w]) =hp(g#([w])).
Wir können nun eine stärkere Form von Proposition 3.9 beweisen. Der SpezialfallX={x0} ist Korollar 3.13.
4.20 Proposition. Seien X, Y Räume, f:X→Y eine Homotopieäquiva- lenz. Dann ist für x0 ∈X die Abbildung
f#:π1(X, x0)→π1(Y, f(x0)) ein Isomorphismus.
Beweis. Sei g:Y →X eine Homotopieinverse. Wir betrachten
π1(X, x0) f# //π1(Y, f(x0)) g# //π1(X, g(f(x0))) f# //π1(Y, f(g(f(x0)))), wobei die erste und dritte Abbildung natürlich verschieden sind, obwohl sie gleich bezeichnet sind. Dag◦f 'idX und (idX)#:π1(X, x0)→π1(X, x0) ein Isomorphismus, nämlich die Identität, ist, ist nach der vorherigen Proposition auch (g◦f)#:π1(X, x0) →π1(X,(g◦f)(x0)) ein Isomorphismus. Also ist die Komposition der ersten beiden Abbildungen unseres Diagrammes ein Isomorphismus. Ebenso folgt aus f ◦g ' idY, dass die Komposition der letzten beiden Abbildungen ein Isomorphismus ist. Damit ist die mittlere Abbildung sowohl ein Epimorphismus als auch ein Monomorphismus, also ein Isomorphismus. Daher müssen auch die anderen beiden Abbildungen
Isomorphismen sein, insbesondere die erste.
[Bre93] Bredon, G. E. Topology and Geometry, Bd. 139 von Graduate Texts in Mathematics. Springer-Verlag, 1993.