V
on den mehr als 4 000 Phytophar- maka, die in Deutschland im Han- del sind, sind nur etwa ein Viertel nach dem geltenden Arzneimittelrecht zugelassen oder nachzugelassen. Fast 3 000 pflanzliche Arzneimittel warten auf eine Entscheidung im Rahmen der Zulassung. Die Gesetzliche Kranken- versicherung gibt jährlich etwa 1,6 Mil- liarden DM oder fünf Prozent ihres ge- samten Etats für Phytopharmaka aus.Häufig sei dabei allerdings nicht klar, ob die Verordnung pflanzlicher Arznei- mittel dem Stand der medizinischen Erkenntnis entspricht, erklärte der Bremer Sozialwissenschaftler Prof.
Gerd Glaeske vor der Presse in Mün- chen. Glaeske, der zuvor bei der Bar- mer in Wuppertal tätig war und der sich jetzt in Bremen schwerpunktmäßig mit Arzneimittelversorgungsforschung be- schäftigt, ist Projektleiter eines Modell- vorhabens zur Förderung der Rationa- lität in der Verordnung pflanzlicher, homöopathischer und anthroposophi- scher Arzneimittel.
Das Urteil über pflanzliche Arznei- mittel reiche von der Etikettierung als
„Placebo forte“ auf der einen Seite bis hin zur kritiklosen Zustimmung auf der anderen Seite, erläuterte Glaeske. Wis- senschaftliche Belege für die eine oder andere Ansicht sind rar und gelegent- lich ebenso umstritten wie die Natur- heilmittel. Die Krankenkassen stehen vor dem Problem, dass mehr als 80 Pro- zent ihrer Versicherten sich für einen verstärkten Einsatz von Naturheilmit- teln aussprechen, sie andererseits aber oft nicht wissen, welche Qualität sie in der Phytotherapie bezahlen, sagte Glaeske.
In dieser Diskrepanz zwischen An- spruch und Wirklichkeit stehe auch der Arzt, der entscheiden soll, ob er solche Mittel ohne Bedrohung von Wirtschaft- lichkeitsprüfungen verordnen kann.
Konsequenz: Bei der Verordnung von Phytopharmaka gibt es in den einzel- nen Regionen in Deutschland erhebli- che Unterschiede. So verordneten die Ärzte 1998 in Südbaden zulasten der Krankenkassen pflanzliche Arzneimit- tel im Wert von 11,32 DM je Versicher- ten, in Hessen lag dieser Wert hingegen bei 4,30 DM.
Vor diesem Hintergrund will die Barmer ein wissenschaftlich begleite- tes Modellvorhaben nach §§ 63 bis 65
SGB V mit einer oder mehreren Kas- senärztlichen Vereinigungen vereinba- ren, das auch vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI) ge- tragen wird und in dem der Einsatz von Naturheilmitteln in der ärztlichen Pra- xis überprüft werden soll.
Erste Ergebnisse des Modellvorha- bens, für das es derzeit allerdings noch keine konkreten vertraglichen Verein- barungen gibt, sollen etwa 18 Monate nach dem Start vorliegen, berichtete Glaeske bei einer Pressekonferenz, die das Komitee Forschung Naturmedizin in München veranstaltet hat. In aus- gewählten Indikationsgebieten sollten Erfahrungen in der Anwendung pflanz-
licher, homöopathischer und anthropo- sophischer Arzneimittel dokumentiert werden, sodass damit auch der Beitrag dieser Arzneimittel zu einer Verbesse- rung der Wirtschaftlichkeit der Arznei- mittelversorgung belegt werden kann, so Glaeske.
Grundlage für 1 200 Patienten und 240 Allgemeinärzte, die teilnehmen sol- len, sind die Transparenzkriterien, die die Barmer-Ersatzkasse und der BPI nach zweijähriger Vorarbeit in Frankfurt vorgestellt haben (Dt Ärztebl 1999; 96: A-1701 [Heft 25].
Solche Transparenzkriterien, wie sie von einer Experten- kommission im Hinblick auf das beabsichtigte Modell- vorhaben festgesetzt wur- den, seien notwendig, weil längst nicht alle erhältlichen Phytopharmaka deklariert seien und es deshalb selbst Fachleuten schwer falle, Un- terschiede der verschiedenen Präparate zu erkennen, erläu- terte Prof. Theodor Dinger- mann, Direktor des Instituts für Pharmazeutische Biologie der Universität Frankfurt/
Main. Die Transparenzkriterien, die den „Spreu vom Weizen“ trennen sol- len, ermöglichen nach Dingermanns An- gaben eine Bewertung von Phytophar- maka in Bezug auf bestimmte Stoff- charakteristika.
Präparate, die von der gleichen Droge abgeleitet, aber nach unterschiedlichen Verfahren hergestellt wurden und die unterschiedlich zu dosieren sind, seien jetzt eindeutig identifizierbar. Keine Aussage träfen die Transparenzkriterien allerdings zur Frage von „Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Qualität“, wel- che die Voraussetzung für eine Zulas- sung sind, betonte Dingermann in Mün-
chen. Jürgen Stoschek
P O L I T I K
A
A150 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 4½½½½26. Januar 2001
Naturheilmittel
Phytopharmaka sind Unikate
Der 3. Internationale Phytotherapiekongress bot eine Bestandsaufnahme zu Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und Qualität von Naturheilmitteln.
Der Artischocke wird eine cholesterinsenkende Wirk- samkeit nachgesagt. Foto: Novartis Consumer Health Medizinreport
P O L I T I K
A
A152 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 4½½½½26. Januar 2001
W
egen der Vielfalt pflanzlicher Präparate fällt es dem Arzt schwer, die Spreu vom Weizen zu tren- nen – zumal hinsichtlich Qualität, Si- cherheit und Wirksamkeit wirkstoff- gleicher Präparate Unterschiede beste- hen. Seit einiger Zeit befinden sich Phytopharmaka auf dem Markt, für die die Hersteller die Zulassung aufgrund klar definierter schulmedizinischer kli- nischer Studien erhalten, die Wirksam- keit und Qualität belegen. Diese Ergeb- nisse sind allerdings nicht ohne weiteres auf andere Präparate übertragbar, die Extrakte aus den gleichen Stammpflan- zen enthalten. Vor dem Hintergrund, dass Phytopharmaka immer häufiger auch bei schwerwiegenderen Erkran- kungen angewendet werden, birgt diese Situation Brisanz.Das Beispiel der Johanniskraut- Präparate zeige, wie schwierig es ist, ein Hypericum mit einem anderen zu vergleichen; umfassende Informatio- nen zur Qualität der verschiedenen Me- dikamente seien nur vereinzelt verfüg- bar, betonte Prof. Henning Blume (Oberursel) auf einem Symposium des Institutes Socratec in München. Daher könne nicht grundsätzlich davon ausge- gangen werden, dass zwei Phytophar- maka, die Extrakte aus derselben Pflan- ze enthalten, auch qualitativ vergleich- bar sind.
Experten fordern daher mehr Trans- parenz in diesem Marktsegment. Die Basis sollten internationale Richtlinien mit verbindlichen Kriterien für die Un- tersuchung der Vergleichbarkeit pflanz- licher Arzneimittel stellen – kein einfa- ches Unterfangen, denn pflanzliche Arzneimittel sind in vieler Hinsicht er- heblich komplexer als Präparate mit chemisch-definierten synthetischen In- haltsstoffen. Darüber hinaus kann die spezielle Herstellungstechnik für deut- liche Unterschiede in der Zusammen- setzung der Extrakte sorgen.
Nicht zuletzt lässt sich in den meisten Fällen auch die Wirksamkeit nicht auf einen einzelnen Pflanzeninhaltsstoff zurückführen, sondern beruht auf dem Zusammenspiel aller enthaltenen Kom-
ponenten. Ein entscheidendes Problem sehen die Experten in den zunehmen- den „Trittbrettfahrern“: Die Wirksam- keit eines Produktes durch klinische Studien muss die herstellende Pharma- firma nachweisen. Doch fehlen für manche Produkte entsprechende Bele- ge, und die Firma bezieht sich stattdes- sen auf die mit anderen Arzneimitteln aus derselben Pflanze erhobenen Be- funde.
Ein solches Vorgehen könne nicht akzeptiert werden, solange sich die be- treffenden Produkte in Zusammenset- zung und Galenik unterscheiden, so Prof. Rudolf Bauer vom Institut für Pharmazeutische Biologie in Düssel- dorf. Um die Gleichwertigkeit der Ex-
trakte nachzuweisen, müssten – so Bau- er – folgende Punkte erfüllt werden:
❃ Ausgangsdrogen mit vergleichba- rer Spezifikation (Arzneibuchqualität)
❃ vergleichbarer Herstellungspro- zess (vor allem bei Spezialextrakten)
❃ Extraktionsmittel mit vergleichba- rer Elutionskraft
❃ identisches Droge-Extrakt-Ver- hältnis (DEV-nativ)
❃ identische Tagesdosis (Menge Na- tivextrakt)
❃ vergleichbare Freisetzung aus der Arzneiform
❃ ähnliche Konzentrationen wirk- samkeitsmitbestimmender Inhaltsstof- fe, soweit bekannt.
Daher sollten die Ärzte nur Produk- te verordnen, deren Wirksamkeit durch klinische Studien nachgewiesen werden konnte, und Präparate nur dann wech- seln, wenn das zuerst verordnete nicht
wirkt. Sabine Böttger
Mangelhafte Transparenz im Markt
Pflanzliche Arzneimittel sind nicht ohne weiteres vergleichbar
B
eim ersten Mal hatte keine der Par- teien eine Wahl. Ein vertraulicher Entwurf über Risiken der Hormoner- satztherapie (HRT) war ohne Wissen der Autoren der Presse zugespielt wor- den. Die beunruhigende Abschätzung, dass die von 4,5 Millionen Frauen ak- zeptierte Therapie im Jahr 1998 in Deutschland für 8 000 Mamma- und Endometriumkarzinome verantwort- lich sein könnte, musste zu heftigen Reaktionen der Frau-enarzt-Verbände füh- ren. Beim zweiten An- lauf ist aus dem Ent- wurf eine 150-Seiten- Kritik geworden, die Prof. Eberhard Greiser vom Bremer Institut für Präventionsforschung
und Sozialmedizin und Prof. Norbert Schmacke vom AOK-Bundesverband in Berlin präsentiert haben. „Wir wol- len keine Konfrontation, sondern Zu- sammenarbeit“, sagte Schmacke. Ob- wohl es glaubwürdiger gewesen wäre, nicht zuerst den Weg über die Presse zu wählen, sollten die Gynäkologen die Kritik ernsthaft prüfen. Der Kernvor- wurf lautet, sie hätten bislang den Nut- zen der HRT überschätzt und die Risi- ken unterschätzt. Der Streit geht vor
allem um die Hoffnungen hinsichtlich der Prophylaxe von Frakturen und Herzinfarkten. Ob diese berechtigt sind, wird sich wohl erst im Jahr 2005 zeigen, wenn in den USA erste Lang- zeitstudien abgeschlossen sind. Span- nend wird sein, welche Haltung die Frauenärzte bis dahin einnehmen. Die aktuelle Stellungnahme der Deutschen Menopausegesellschaft zur HRT ist ei- ne Wende hin zur sachlichen Abwä- gung des Wissens. Aber es gibt unter „Mei- nungsbildnern“ noch ei- ne andere Haltung, die Prof. Wolfgang Nocke, ehemaliger Chef der Universitäts-Frauenkli- nik Bonn in der Mün- chener Medizinischen Wochenschrift beschrieben hat: „Das postmenopausale Hormondefizit ist (. . .) ebenso substitutionsbedürftig wie beispielsweise Diabetes.“ Jede post- menopausale Frau wäre demnach krank. Von Ärzten mit einem derartig verankerten Frauenbild kann man kaum eine unvoreingenommene Ab- wägung über Risiken und Nutzen der HRT erwarten. Die Frage lautet also:
Wie weit verbreitet ist diese Position unter Gynäkologen? Klaus Koch