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Archiv "Auf Friedensfahrt nach Moskau und Leningrad" (16.01.1985)

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Zwölf Ärzte, zumeist Mitglieder der IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War), buchten eine sogenannte Sozialtourismusreise nach Moskau und Leningrad. Sie wollten einen plastischen Eindruck des sowjetischen Gesundheitswesens bekommen und außerdem einen Beitrag dazu leisten, Feindbilder ab- zubauen und gegenseitiges Vertrauen zu schaffen. Was

haben die zwölf Ärzte in der Sowjetunion erfahren, mit welchen Erkenntnissen sind sie zurückgekommen?

Auf Friedensfahrt

nach Moskau und Leningrad

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

BLICK ÜBER DIE GRENZEN

Konkreter Anstoß, eine Reise in die Sowjetunion zu unternehmen, war die Rede des russischen Bio- physikers Prof. Leonid Iljin, des Vizepräsidenten der russischen IPPNW, auf dem „Kongreß zur Verhinderung eines Atomkrieges"

vom 31. März 1984 in Tübingen (dazu auch Heft 17/84). Er hatte zum Knüpfen zahlreicher persön-

licher Kontakte in Ost und West aufgefordert. Und so besuchten wir — Ärzte verschiedener Fach-

richtungen aus Heidelberg, Mainz, Friedrichshafen, Ravens- burg und Haren — vom 21. bis 28.

Juli Moskau und Leningrad. Mit je- nem Professor Iljin kam es gleich in Moskau zu einem mehrstündi- gen Gespräch in der sowjetischen Akademie der medizinischen Wis- senschaften. Mit dabei waren wei- ter der Psychiater Watenjan und der Genetiker Botschkoff, beide Mitglieder des sowjetischen IPPNW-Komitees.

Übereinstimmung und Dissens Die Gesprächsteilnehmer waren sich darin einig, daß medizinische Hilfe nach einem globalen Atom- schlag keinen Sinn mehr hätte und deshalb die Prävention dieser letzten Katastrophe gemeinsame Aufgabe aller Ärzte sei. Von unse- rer Seite wurde dargelegt, daß in der Bundesrepublik über sieben-

tausend Ärzte, wie wir selbst auch, der Auffassung seien, jede kriegsmedizinische Vorbereitung fördere indirekt die Bereitschaft zum Risiko eines Atomkrieges. Ei-

ne solche Vorbereitung werde von uns deshalb abgelehnt, ver- bunden auch mit der Weigerung, an entsprechenden Fortbildun- gen teilzunehmen.

Auf die Frage, ob Iljin dies auch unterschreiben könnte, wider- sprach er unserer Meinung mit ei-

Die Chefärztin der Kinderpoliklinik in Moskau. Zwei Drittel der ärztlichen Mit- arbeiter sind Frauen Fotos (2): privat

nem unmißverständlichen Njet.

Eine Kriegsdienstverweigerung sei in der Sowjetunion gesetzwid- rig, und aufgrund ihrer Geschich- te könne sie diese auch politisch nicht zulassen. Die Bundesrepu- blik bezeichnete er als Geisel der USA; deshalb könne er Verständ- nis für die Ablehnung kriegsmedi- zinischer Vorbereitungen durch deutsche Ärzte aufbringen.

Einigkeit bestand dagegen in dem Ziel, die Bevölkerung über die verheerenden Folgen eines Atom- schlags aufzuklären und so das Bewußtsein für die Gefahr zu ver- breitern. Weiterhin sollten die in- ternationalen Kontakte wie auf den vergangenen IPPNW-Kon- gressen weitergeführt werden.

Von uns wurde darüber hinaus der Wunsch nach Städte- und Uni- versitätspartnerschaften oder auch nur der Möglichkeit, im an- deren Land für kurze Zeit arbeiten zu können, geäußert.

Seit 1983 verpflichten sich, so wurde uns erklärt, die sowjeti- schen Ärzte in Ergänzung des hip- pokratischen Eides „im Bewußt- SE in der Gefahren, die von den Nuklearwaffen ausgehen, uner- müdlich für Frieden und die Prä- vention des Nuklearkrieges einzu- treten."

Kriegsängste in der Kinderklinik Weitere Station der Reise war ei- ne Kinderpoliklinik im Südosten von Moskau, die mit 40 Ärzten ei- nen Einzugsbereich von 22 000 Kindern versorgt. Sie wird von Frauen geleitet (die Chefärztin:

sie könne den Besuchern aber auch gerne einige Männer vorzei- gen!). In einer täglichen Arbeits- zeit von 6 Stunden werden die Ärzte von etwa 25 Kindern fre- quentiert. Der Verdienst der Ärzte entspricht dem sowjetischen Durchschnitt; dennoch ist auch in der Sowjetunion das Medizinstu- dium sehr begehrt.

Beim Rundgang am späten Vor- mittag war die Poliklinik fast leer, 88 (24) Heft 3 vom 16. Januar 1985 82. Jahrgang Ausgabe A

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Spontanes Zusammentreffen mit dem Leningrader Kardiologen B. Bondarenko (Bildmitte): Gastarzttätigkeit angeboten, wenn Moskau zustimmt

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Friedensfahrt

die Arbeit der ersten Schicht be- endet; dies mag dem Wunsch- traum vieler deutscher Kollegen entsprechen. Ein Teil der Ärzte sei.

allerdings jetzt im Sommer bei den Kinderfreizeiten beschäftigt, hieß es. Da Vater und Mutter meist beide arbeiten, seien die Kinder tagsüber im Hort und im Sommer im Ferienlager. Trennungsproble- me gebe es dabei nicht, Kinder- und Jugendpsychiatrie sei für sie kein Thema. Die Atmosphäre des Gespräches war offen und herz- lich, das gemeinsame Ziel der Verhinderung eines Atomkrieges wurde hervorgehoben. In den abendlichen Veranstaltungen, die von der Klinik abgehalten werden, gehe es neben Erziehungsfragen auch um die Ängste vor einem Krieg und der Unmöglichkeit, im Atomkrieg zu helfen.

Im Leningrader Smolnybezirk bot sich die Gelegenheit, eine große Poliklinik für Erwachsene zu be- sichtigen. Ihr Einzugsgebiet um- faßt 60 000 bis 80 000 Menschen bei einer Mitarbeiterzahl von 200 ärztlichen Kollegen. Die Einrich- tung, ebenfalls von einer Frau ge- leitet, nimmt neben den kurativen Aufgaben insbesondere auch Prä- ventivfunktionen wahr. Betriebe werden arbeitsmedizinisch be- treut, Risikogruppen werden jähr- lich untersucht, regelmäßige Vor- sorgeuntersuchungen finden auch für den übrigen Teil der Be- völkerung statt. Nicht für alle Krankheiten sind die Medikamen- te frei; so muß bei einer akuten In- fektionskrankheit in der Regel das Antibiotikum selbst bezahlt wer- den. Die sonstigen medizinischen Leistungen sind umsonst, eine Lohnfortzahlung findet in vollem Umfang ab dem siebten Jahr der Berufstätigkeit statt, vorher wer- den nur geringere Prozentsätze des Lohnes als Krankengeld aus- bezahlt.

„Nichts ist vergessen"

Einen tiefen Eindruck hinterließ bei uns der Besuch des Piskarjow- Friedhofs in Leningrad, einer Ge-

denkstätte für eine Million Bürger, die während der Belagerung der Stadt durch die Deutschen im 2.

Weltkrieg sterben mußten. „Nie- mand ist vergessen, nichts ist ver- gessen", heißt es bei der russi- schen Dichterin Olga Bergholz, welche die Belagerung als Rund- funksprecherin erlebte.

Dieser Ausspruch solle aber nicht den Haß gegen die Deutschen schüren, sondern als Mahnung an die Völker verstanden werden, nie mehr in Haß und Verblendung ge- geneinander Krieg zu führen, er- klärte uns die Dolmetscherin.

What is possible?

Ein weiteres Leningrader Ereignis

— es hatte eine Vorgeschichte in Frankfurt: Bei einem Treffen mit einer sowjetischen Ärzte-Delega- tion wurde unsere Reise in die So- wjetunion angekündigt. Auf die Frage, ob persönliche Kontakte in Moskau und Leningrad möglich seien, kam der spontane Zuruf ei- nes Moskauer Kardiologen: „It's possible, it's possible."

Eine Einladung stammte von Prof.

V. A. Almasov, dem Direktor des Kardiolog ie-Forschungsinstituts in Leningrad.

Nach der Ankunft in Leningrad wurde per Telefon der Kontakt zur Kardiologie aufgenommen. Alma- sov war bereits in den Sommerfe- rien auf dem Land. Doch sein Stellvertreter, Dr. Boris B. Bonda- renko, M. D., lud uns ein, spontan an einem Samstagmorgen: „We are glad to see you."

Dieses Treffen in der Kardiologie war sehr persönlich und unge- zwungen, vielleicht weil es nicht vorprogrammiert war. Zentrales Thema in der Diskussion war, wir als Ärzte seien verpflichtet, alles einzusetzen, um den Frieden zu erhalten, speziell das nukleare Desaster zu verhindern. Das soll- ten wir nicht allein den „Autoritä- ten", den Politikern, überlassen.

Als wichtiger Schritt wurde von beiden Seiten das Knüpfen von persönlichen Kontakten angese- hen — gerade über systemkonträre Grenzen hinweg.

Zwei Kollegen unserer Gruppe boten spontan an, in ihrer Praxis einen sowjetischen Gastarzt für eine bestimmte Zeit mitarbeiten zu lassen. Das Gegenangebot von Bondarenko kam genauso spon- tan: Von ihm aus könne ein deut- scher Gastarzt zur Hospitation in die Leningrader Kardiologie kom- Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 3 vom 16. Januar 1985 (29) 89

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DEUTSCHES ARZTEBLATT

TAGUNGSBERICHT Friedensfahrt

men. Ein solches Vorhaben müs- se indes von offizieller Seite, näm- lich vom Vorstand des sowjeti- schen IPPNW-Komitees, Prof.

Chazov in Moskau, genehmigt werden*).

Wir luden Bondarenko zum fünf- ten Ärztekongreß zur Verhinde- rung eines Atomkrieges, der im Herbst 1985 in Mainz stattfinden wird, ein. Auf unsere Frage, war- um in der UdSSR gerade die Kar- diologen die Ärztebewegung ge- gen den Atomkrieg unterstützen, erwiderte Dr. Bondarenko: „The soul is in the heart."

Beide Seiten waren der festen Meinung, daß gerade trotz schlechter politischer „Großwet- terlage" die persönlichen Kontak- te, wie auf „unserer" Ebene, auf- genommen, gepflegt und ausge- baut werden sollten.

Das wird natürlich nicht immer einfach sein. Die systemimmanen- ten Schranken sind Realität (ein Beispiel am Rande: In den Inter- tourist-Hotels gab es getrennte Speisesäle für west- und osteuro- päische Reisende). Andererseits erlebten wir freundliche Begrü- ßung und Führung in den Klini- ken, spontanes und persönliches Treffen in der Leningrader Kardio- logie; wir konnten ungehindert fo- tografieren und an nahezu allen Orten Video-Filmaufnahmen an- fertigen, was vor einigen Jahren noch nicht möglich war.

Anschrift der Verfasser:

Dr. med. Reinhold Schuh Breslauer Straße 7 6908 Wiesloch

Dr. med. Otto Gauckler Richard-Wagner-Straße 5 6830 Schwetzingen

Interessenten am Gastarztaustausch kön- nen sich an die Autoren oder an folgende Adresse wenden: Sektion Bundesrepublik der IPPNW, Geschäftsstelle: Dr. med. Till Bastian, Bahnhofstr. 34, 6501 Heidesheim, Tel. 0 61 32/5 93 29.

Die Weltvereinigung für Notfall- und Katastrophenmedizin („Club of Mainz") und die vier medizini- schen Fakultäten Israels hatten die Schirmherrschaft über den „2.

Internationalen Kongreß in Israel über die Bewältigung von Kata- strophen" übernommen. Er fand vom 16. bis 19. September 1984 in Jerusalem statt. Die Thematik: Ka- tastrophen vielfältiger Ursachen (als Folge menschlichen Versa- gens bis hin zu Naturkatastro- phen), ihre Beurteilung, ihre Be- herrschung durch vorausschau- ende Planung, Ausbildung und Einübung nicht nur auf dem, wenn auch wichtigen, Sanitäts- und Gesundheitssektor, sinnvolle Zusammenarbeit aller freiwilligen Hilfsorganisationen und der Be- hörden, von Militär und Zivil auf kommunaler, nationaler und inter- nationaler Ebene.

Zwei vorrangige

Themen: Wiederbelebung und Verbrennungen

— Zusammenarbeit und vorbe- haltloser Meinungsaustausch der rund 400 Teilnehmer aus aller Welt (außer der UdSSR) waren das besondere Kennzeichen des Kon- gresses. Schau oder Selbstdar- stellung kamen sicher zu kurz. Die bedeutendsten Großkatastrophen der letzten Jahre wurden von de- nen, die sie erlebt und bewältigt hatten, in Wort und Bild unge- schminkt dargestellt: Flugzeugka- tastrophen, australische Busch- brände, Überschwemmungen in Indien, Erdbeben, die Feldzüge im Nahen Osten und auf den Falk- landinseln, Massenunfälle im mo- dernen Verkehr, Bürgerkrieg in Nordirland und Mittelamerika, Terrorfolgen ebenso wie industri-

elle Katastrophen. Die leidvolle Geschichte des modernen Israels bot einen besonderen Anschau- ungsunterricht.

— Katastrophen überfallen durch- aus nicht immer eine ahnungslose menschliche Gemeinschaft. In vielen Fällen lassen sie sich vor- aussagen und ermöglichen damit vorausschauende Planung und wirksame Hilfe. Es gibt zudem gu- te Möglichkeiten, die seelische Widerstandskraft zu ihrer Bewälti- gung zu stärken.

— An Katastrophenmedizin im en- geren Sinn wurden besonders Wiederbelebung und Verbren- nungen behandelt. Einige Ergeb- nisse: Trotz vorzüglicher Ausbil- dung an geeigneten Simulatoren und zunehmender Erfahrung ist die Wiederbelebung bei Traumati- sierten immer noch problema- tisch. Reanimation bei Versagen des kardiopulmonalen Systems läßt 4,8 Prozent der Patienten län- ger als drei Jahre überleben. Bei Verbrennungen wurde die ein- drucksvolle Wirkung von tiefge- frorenem Blutplasma hervorgeho- ben — in Israel keine Mangelware.

Hauttransplantate aus der Retorte sind im Kommen. Angesichts der immer mehr verfeinerten, aber sehr material- und personalinten- siven Behandlung war es erfreu- lich zu hören, daß auch bei einem Massenfall Verbrannter mit einfa- chen Mitteln gute Heilerfolge zu erzielen sind. Beim Verschüt- tungssyndrom kann durch früh- zeitige Infusionen die Nierenin- suffizienz sicher verhindert wer- den. Unterwasserexplosionen ver- ursachen bei Schwimmern retro- peritoneale und Lungenblutun- gen, erstere zunächst unauffällig bei spät einsetzendem klinischen

Katastrophenmedizin:

Anschauungsunterricht in Israel

2. Internationaler Kongreß über die Bewältigung von Katastrophen

90 (30) Heft 3 vom 16. Januar 1985 82. Jahrgang Ausgabe A

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