Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Briefe an die Redaktion
KINDER
Zu dem Bericht in Heft 28/79: Unser Ver- hältnis zum Kind ist gestört", der die Jahrestagung der Akademie für Ärztliche Fortbildung in Rheinland-Pfalz behan- delte:
Sozialer Uterus
... Vorsorge-Untersuchungen, die lediglich somatische Aspekte der Gravidität berücksichtigen, müssen ineffizient bleiben, da sie im Falle pathologischer Befunde lediglich die körperlich nachweisbaren Fol- gen eines ursächlichen psychoso- matischen Gesamtgeschehens be- schreiben, welches im Kern emotio- naler Natur ist. Die emotionale und soziale Situation der Mutter (die na- türlich auch nicht getrennt betrach- tet werden können), nicht die „Erb- anlagen", ist die Matrix für die psy- chosomatisch-psychosoziale Ent- wicklung des Kindes.
Günter Clauser zeigt in seinem epo- chalen Buch „Die vorgeburtliche Entstehung der Sprache als anthro- pologisches Problem" (F. Enke-Ver- lag), wie das Kind bereits pränatal ab dem 4. Monat auf die Herztöne der Mutter „geprägt" wird und wie diese geprägten Erfahrungen(!) die Basis darstellen für die Sprach- und Intel- ligenzentwicklung. Die Mutter selbst ist ja die erste „Umwelt" eines sich entwickelnden Menschen, und ihre Gefühle, ihr Lebensrhythmus über- tragen sich in der Schwangerschaft und den ersten Monaten nach der Geburt (beides ist „sozialer Ute- rus"!) als prägende Einflüsse auf das Kind. Die neueren Forschungen der pränatalen Psychologie lassen erkennen, daß die vorgeburtliche Zeit nicht nur somatisches Wachs- tum, sondern auch emotional-geisti- ge Reifung bedeutet, dies letztere jedoch nicht abhängig von „Erban- lagen", sondern von der emotiona- len Einstellung der Mutter.
Zur Frage der „Prävention" wäre un- ter diesen Voraussetzungen zu sa- gen, daß diese schon beginnen müßte bei der Verhinderung uner- wünschten Nachwuchses. Man muß davon ausgehen, daß die „Risiko- Schwangerschaft" praktisch immer
eine bewußt oder unbewußt uner- wünschte Schwangerschaft dar- stellt. Vielleicht könnte in solchen Fällen eine Psychotherapie der Frau noch eine Einstellungsänderung zum Kind bewirken, falls die Ableh- nung des Kindes bei geordneten so- zialen Verhältnissen auf unbewuß- ten Konflikten oder einer primären emotionalen Reifungsstörung der Mutter beruht.
Daß die Geburtsmethode selbst auch einen „Risiko-Faktor" darstel- len kann, zeigen die Ergebnisse und Statistiken von Geburtshelfern, die die Neugeborenen nach der Entbin- dung „sanft" behandeln (d. h. das Neugeborene direkt auf den Leib der Mutter legen; die Nabelschnur erst unterbinden, wenn sie nicht mehr pulsiert; Vermeidung von grellem Licht usw.). Durch diese „sanfte"
Methode geht die perinatale Mortali- tät stark zurück (nach zwei Statisti- ken auf 25 bzw. 34 Prozent), was Grund genug sein sollte, gerade bei uns in der BRD solche Methoden generell einzuführen. Vorausset- zung ist aber sicherlich immer die Erwünschtheit des Kindes, da im an- deren Fall durch pränatale Schäden auch vermehrt Geburtskomplikatio- nen zu erwarten sind. Andererseits dürften geschädigte Kinder noch mehr als gesunde eine „sanfte" Be- handlung nach der Entbindung be- nötigen.
Wenn Prof. Nissen bedauert, daß sich „Eltern und Kinder viel zu we- nig kennen", und es „den Kindern schwergemacht werde, ihre Eltern richtig kennenzulernen", dann sollte er berücksichtigen, daß dieses
„Kennenlernen" schon in utero be- ginnt und direkt nach der Entbin- dung seine entscheidende Fortset- zung hat. „Sanfte" Behandlung des Neugeborenen ist sicher eine Vor- aussetzung dafür, daß dieses Kind ohne Angst befähigt wird, seine er- ste (nachgeburtliche) Umwelt zu er- forschen und kennenzulernen. Die- se erste Umwelt ist die Mutter selbst!
Wenn sich Mutter und Kind „als Fremde begegnen" (Nissen), dann ist es auch die Folge der Eingriffe und Manipulationen der Geburtshel-
fer, die die Geburt für Mutter und Kind zur Hölle machen können. So hat es Leboyer geschrieben.
Dr. med. J. Rausch
Kurt-Schumacher-Straße 70 5470 Andernach
MEDIZINSTUDIUM
Eine Medizinstudentin macht ihrem — be- rechtigten — Ärger Luft:
Gezielte Oberforderung
... Da die Neufassung des Gegen- standskataloges (GK), ohne den eine erfolgsversprechende Prüfungsvor- bereitung leider nicht möglich ist, erst drei Monate vor dem Prüfungs- termin veröffentlicht wurde, kann von einem zumutbaren Anpassungs- zeitraum sowohl für Auszubildende als auch Ausbildungsstätten keine Rede sein. Konsequenzen, die sich hieraus ergeben, sind: entweder die Prüfung um ein Semester zu ver- schieben oder sie innerhalb der noch verbleibenden Zeit in Angriff zu nehmen, was ein intensives Lite- raturstudium bezüglich der Neufas- sung des GK3 ausschließt. Ersteres führt zu einer Überschwemmung der PJ-Plätze im SS '80, was wiederum eine mangelnde praktische Ausbil- dung nach sich ziehen wird. Zum letzteren sei gesagt, daß die neu hin- zugefügten Fächer (Spezielle Chir- urgie, Medizinische Statistik, Allge- meinmedizin und Klinische Radiolo- gie) in Kursen nicht angeboten wur- den und ein Erlernen dieser nur un- ter Vernachlässigung anderer Teil- gebiete gewährleistet ist. Es besteht kein Zweifel, daß durch diese Form- änderung keine Verbesserung der Qualifikation zum Arzt erreicht wer- den kann. Das einzige, uns augen- fällige, Ergebnis scheint eine geziel- te Überforderung des Studenten und eine Unterdrückung des selb- ständigen und verantwortungsbe- wußten Denkens zu sein. Es bleibt uns lediglich, unter Protest an der Prüfung teilzunehmen.
cand. med. Irene Goerttler Kaiser-Joseph-Straße 242 7800 Freiburg
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 2992 Heft 45 vom 8. November 1979