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Was die deutsche Entwicklungs- zusammenarbeit von der Inzestdebatte lernen kann

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Was die deutsche Entwicklungs- zusammenarbeit von der

Inzestdebatte lernen kann

Von Markus Böckenförde, Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research

vom 08.10.2014

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Was die deutsche Entwicklungszusammenarbeit von der Inzestdebatte lernen kann

Duisburg, 08.10.2014. Am 24. September 2014 emp- fahl der Deutsche Ethikrat den einvernehmlichen Bei- schlaf zwischen erwachsenen Geschwistern nicht mehr unter Strafe zu stellen und so ein Jahrtausend altes Tabu zu entkriminalisieren. Eine hitzige Debatte folgte.

Konservative Stimmen befürchten den fortschreiten- den Verfall der Sitten und die Zersetzung der Familie.

Einige ihrer Argumentationslinien erinnern verblüffend an die Debatten, die im Zusammenhang mit der Ab- schaffung der Strafbarkeit von Homosexualität geführt wurden. Weitere Parallelen treten zu Tage: Auch die Homosexualität war in unserer Gesellschaft tabuisiert, galt als „widernatürliche Unzucht“, war lange Zeit strafbewährt (1969), und ihre Strafbarkeit stand nach dem Bundesverfassungsgericht im Einklang mit dem Grundgesetz.

„Blutschande“ als Spiegel wandelnden Wertebe- wusstseins

Am Beispiel der sog. „Blutschande“ können wir nun erneut erleben, wie sich Wertebewusstsein und Werte- wandel in einer Gesellschaft gestalten: als ein andau- ernder Prozess, der innerhalb einer Gesellschaft reifen muss. Im konkreten Fall ist dies die Herauslösung einer

„kulturhistorisch begründeten, nach wie vor wirkkräfti- gen gesellschaftlichen Überzeugung“ (Bundesverfas- sungsgericht - BVerfG, 2008) aus der Strafbarkeit. Dass es nach heutigem Stand der Strafrechtswissenschaft keinen legitimen Grund für die Bestrafung von Ge- schwisterinzest gibt, hat der Ethikrat herausgearbeitet.

So würde z. B. ein wirksamer Schutz des Rechtsguts

„Volksgesundheit“ erfordern, dass Menschen mit schwereren Erbkrankheiten ebenfalls dem Beischlaf- verbot unterliegen müssten. Ähnlich kann argumen- tiert werden, dass zum Schutz der Familie vor Zerset- zung der „Ehebruch“ wieder zu bestrafen sei. Unsere Gesellschaft tut gut daran, beides nicht zu wollen.

Leserinnen und Leser, die sich jetzt dabei ertappen, in der Inzestdebatte etwas gänzlich anderes zu sehen als im Homosexualitätsdiskurs, bestätigen gerade den Umstand, dass auch unsere Gesellschaft aus einer kul- tur- und wertebezogenen Perspektive heraus auf Men- schenrechte blickt. So wie wir heute das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Strafbarkeit der Homo- sexualität aus dem Jahr 1957 mit ungläubigem Erstau- nen lesen, wird es uns in einiger Zeit bei dem Inzestver- bot gehen. Dies lässt sich immer nur rückblickend er- kennen, denn solange die Gesellschaft in ihren gegen- wärtigen Moralkontexten gefangen ist, fehlt ihr die erforderliche Einsicht. In diesem Sinne ist auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschen- rechte aus dem Jahr 2012 zu lesen. Er stellte fest, dass es europaweit keinen einheitlichen Mindeststandard zu dieser Frage gibt (nur 28 der untersuchten 44 europäi-

schen Staaten sehen eine Strafbarkeit vor). Der Ge- richtshof sah sich daher außerstande, den gegenwärti- gen „genauen Inhalt der Anforderungen der Moral“ in Deutschland zu beurteilen und hat deutschen Gerich- ten einen weiten Beurteilungsspielraum zugestanden.

Er mischte sich bislang nicht ein, weil der Trend zu einem europaweiten Standard nicht erkennbar ist.

Folgerungen für die Entwicklungszusammenarbeit Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, dass Men- schen global keine einheitlich bestehenden Moralvor- stellungen haben. Ähnlich evident ist, dass sich zur Erreichung internationaler Menschenrechtsstandards bestehende moralische Maßstäbe verschieben müssen.

Nicht nur anderswo, sondern auch bei uns. Konzepte zur Entwicklungszusammenarbeit im Bereich Rechts- staatlichkeit und Menschenrechte sollten eigene Erfah- rungen stärker berücksichtigen. Diskurse und Debatten in Auseinandersetzung mit jeweiligen Wertvorstellun- gen sollten vermehrt gefördert werden statt Men- schenrechtskataloge vorzulegen und sie über Maß- nahmen des „capacity building“ in die Bevölkerung hineinzubringen. Lokale Akteure jenseits eines feigen- blattartigen „local ownership“ konkret mit einzubezie- hen und sie zum Ausgangspunkt eines Wandels zu ma- chen, wird dabei zentral. Dies gilt in besonderer Weise für Länder, in denen formale und traditionelle Rechts- systeme koexistieren und letztgenannte die gesell- schaftlichen Wertvorstellungen weitgehend prägen.

Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit erkennt traditionelle Regeln und Rechtspraktiken zumeist nur unter der Voraussetzung an, dass diese nicht im Wider- spruch zu nationalen und internationalen Wertesyste- men zum Schutz von Menschenrechten stehen. Hier kommt es zumindest zu einer Verwechslung von Aus- gangspunkt und Zielsetzung.

Aus den eigenen Erfahrungen sollten wir wissen: Be- stimmte Menschenrechte verwirklichen sich nur über Wertewandel und sind das Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse. Solche Prozesse brauchen Zeit. Sie passen selten in vorgegebene Projektzyklen der Geberländer.

Sie erfordern auch Geduld, denn abweichende Moral- vorstellungen stoßen oft auf Unverständnis und sollen umgehend „abgestellt“ werden. Demokratische Geber- länder stehen hierbei oft unter dem Druck ihrer eigenen Bevölkerung. Die Inzestdebatte vor diesem Hinter- grund zu reflektieren kann helfen, mehr Akzeptanz für die Notwendigkeit dieser Prozesse zu schaffen, ohne die Frage des Einmischens oder Nicht-Einmischens bei akuten Menschenrechtsverletzungen gänzlich aufzulö- sen zu können.

Dr. Markus Böckenförde, LL.M., Wissenschaftlicher Geschäftsführer, Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research.

© Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Die aktuelle Kolumne, 08.10.2014

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