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Archiv "Emergency Departments in den USA: Der Notfallversorgung droht der Kollaps" (26.07.2002)

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A

m 10. September 2001 titelte das Wochenmagazin U.S. News &

World Report: „Crisis in the ER“

(1). Eine Tag später folgte der Terroran- schlag auf das World Trade Center in New York. Seither findet das

Thema „Krise in der Notauf- nahme“ kaum noch öffentli- ches Interesse. (2)

Der ER oder Emergency Room ist in US-amerikani- schen Krankenhäusern ein zentraler Anlaufpunkt für alle Patienten, unabhängig von deren Erkrankung oder ihrer Fähigkeit, die Behandlungs- kosten zu bezahlen. Traditio- nell waren ERs „Notfallräu- me“, in denen Patienten durch Vorhänge voneinander ge- trennt interviewt, diagnosti- ziert und behandelt wurden.

Platzmangel ist auch heute noch ein Problem.

Der Emergency Room dürfte vielen durch die gleich-

namige Fernsehserie bekannt sein. Noch in den 60er-Jahren arbeiteten dort vor- wiegend Assistenzärzte und Ärzte ohne spezielle Qualifikation (3). Die jüngsten und unerfahrensten Ärzte waren häufig nachts mit schwerstkranken Patienten al- lein – ohne Hintergrunddienst. Die ERs waren oft ein Sammelbecken für auslän- dische Ärzte, beruflich Unzufriedene oder Kollegen mit Drogen- und Alkohol- problemen.Wenn sich in kleineren Kran- kenhäusern keine Freiwilligen fanden, wurde die Arbeit im ER zwangsweise an bestimmte Mitarbeiter delegiert, ohne Rücksicht auf deren Fachdisziplin zu nehmen. (3)

Daraus ergaben sich erhebliche Pro- bleme. Fehldiagnosen führten dazu,

dass Patienten verfrüht aus den ERs entlassen wurden und dadurch Schaden nahmen oder sogar starben. Da in den USA im Vergleich zu Deutschland die Patienten oder deren Angehörige weit-

aus massiver juristisch gegen Ärzte vor- gehen, sahen sich die betroffenen Kran- kenhäuser mit erheblichen Schadenser- satzforderungen konfrontiert.

Lange Wartezeiten, überfüllte Warteräume

Der Druck vonseiten der Patienten, der Gerichte, der ärztlichen Zulassungs- behörden und der Verbraucherlobbys war einer der Gründe dafür, eine neue Fachdisziplin zu schaffen. Als eigen- ständiges Fach etablierte sich die klinische Notfallmedizin (Emergency Medicine) 1979, als das American Board of Emergency Medicine (ABEM,

www.abem.org) als 23ste eigenständige Fachrichtung gegen den großen Wider- stand anderer Facharztorganisationen offiziell anerkannt wurde (4). Das Board führt die Facharztprüfungen

durch und vergibt die Fach- arztzertifikate (5). Das American College of Emer- gency Physicians (ACEP, www. acep.org), das bereits 1968 von einer kleinen Gruppe von acht Ärzten ge- gründet wurde, vertritt heu- te mehr als 20 000 Notärzte.

Organisation, Ausbil- dung und Ausrüstung in den Emergency Depart- ments (EDs) haben sich seither entscheidend ver- bessert (6). Sie sind mittler- weile mit Technik, vernetz- ten Computersystemen und Personal hochgerüste- te Funktionseinheiten, die jährlich mehr als 100 Mil- lionen Menschen behan- deln. Dennoch gelten sie derzeit selbst als Notfall. Die Situation ist häufig ge- prägt von langen Wartezeiten, überfüll- ten Wartezimmern und Abweisungen beziehungsweise dem Umdirigieren von Krankentransporten durch die Ret- tungsleitstelle (1, 2, 7, 8). Experten be- fürchten einen Kollaps der Notfallver- sorgung. Der ehemalige Präsident des ACEP, Dr. Robert Schafermeyer, schrieb bereits vor zwei Jahren in einem offenen Brief, dass die Überfüllung der EDs und das Umdirigieren von Kran- kentransporten Risiken für die Patien- ten birgt und „eine nationale Gesund- heitskrise darstellt“ (2). Schafermeyer machte für die Missstände vor allem die Streichung von Krankenhausbet-

Emergency Departments in den USA

Der Notfallversorgung droht der Kollaps

Die Notaufnahmen sind chronisch überfüllt. Sie dienen nicht versicherten Patienten und solchen,

denen der Zugang zur medizinischen Versorgung erschwert ist, als letzte Anlaufstelle.

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ten, den Mangel an Krankenschwe- stern und Fachärzten für die Rufbereit- schaft veranwortlich (2). Ein weiteres Problem, das in Spitzenzeiten die hoch technisierten EDs blockiert, sind fehlende Patientenbetten im eigenen Krankenhaus. Häufig stauen sich die Patienten, die auf ein Bett auf Station warten, bis auf den Gang hinaus. (1)

Mitverantwortlich für diese prekäre Situa- tion sind bestimmte Ei- genheiten des US-ame- rikanischen Gesund- heitswesens. Dort gibt es weder ein solidarisch organisiertes Versiche- rungswesen noch eine Krankenversicherungs- pflicht für alle Bürger.

Jeder entscheidet selbst, ob er sich versichern will (11). Das mag im historischen Selbstver- ständnis der Amerika- ner von Freiheit und Selbstbestimmung be- gründet sein. Es hat je- doch zur Folge, dass ein

großer Personenkreis in den USA nicht krankenversichert ist. 1999 waren von gut 270 Millionen Einwohnern mehr als 42 Millionen (15,5 Prozent) nicht versichert (12). Zugleich haben die Health Maintenance Organizations ihren Versicherten erhebliche Zu- gangsbeschränkungen für den Arztbe- such auferlegt, um die Kosten zu be- grenzen (13). Es ist häufig schwierig bis unmöglich, innerhalb des Versiche- rungsnetzwerks kurzfristig einen Arzt- termin zu erhalten (13, 14). Es ist nicht übertrieben, Patienten als unterversi- chert zu bezeichnen, wenn der nächste Arzttermin für ein schreiendes, hoch- fieberndes Kleinkind mit Otitis media erst in drei Wochen frei sein soll. Natio- nale Daten oder Statistiken, die aus- weisen, wie viele Versicherte Probleme mit einer zeit- und fachgerechten medi- zinischen Versorgung haben, sind nicht verfügbar.

Der Arztberuf ist in den USA im Vergleich zu Deutschland kommerziel- ler ausgerichtet, schon aus dem Grund, weil das Medizinstudium teuer bezahlt werden muss. Ein junger Arzt hat in der Regel nach Abschluss von Studium und

Facharztweiterbildung Schulden im sechsstelligen Dollarbereich.

Niedergelassene Ärzte und Kran- kenhäuser sind nicht dazu verpflichtet, Patienten zu behandeln, die unzurei- chend oder gar nicht versichert sind. Im Notfall werden diese Patienten umge- hend ins Krankenhaus beziehungsweise ins nächstgelegene Emergency Depart-

ment transportiert. Die EDs sind ver- pflichtet, jeden Patienten – unabhängig vom finanziellen oder vom Versicher- tenstatus – zu untersuchen und zu be- handeln, um eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben abzuwenden.

Für viele die einzige Chance auf medizinische Hilfe

Gesetzlich verankert ist dies in dem Emergency Medical Treatment and Ac- tive Labor Act von 1986, der bundesweit gilt und regelt, dass kein ED einen Not- fallpatienten oder eine Schwangere in den Wehen abweisen darf (15). Obwohl gesunder Menschenverstand und ärztli- ches Berufsethos es verbieten, Patienten in einer Notsituation aus finanziellen Gründen abzuweisen oder weiter zu überweisen, kam dies vor Verabschie- dung des Gesetzes häufig vor. Der Aspekt des so genannten financial trans- fers von Patienten könnte nach der Ein-

führung des Fallpauschalensystems auch in Deutschland zum Thema werden (16).

Ausgehend von leidigen Erfahrungen in den USA, sollte man genau beobachten, welche Krankenhäuser nach der DRG- Einführung gezielt um Kunden (Patien- ten) werben, die ein geringes medizini- sches Risiko bergen. Zugleich besteht die Gefahr, dass zwecks Gewinnmaxi-

mierung multimorbi- de Patienten mit vor- hersehbaren kom- plexen Verläufen in andere Krankenhäu- ser verlegt werden (patient dumping) (17). In US-amerika- nischen Kranken- häusern gibt es zu- dem den Missstand, dass Stationsbetten für mittellose Patien- ten aus den EDs ge- sperrt werden, um diese für besser zah- lende Patienten vor- zuhalten (18, 19).

Verstöße gegen den Emergency Med- ical Treatment and Active Labor Act können in den USA mit bis zu 50 000 US-Dollar pro Verstoß bestraft werden (17). Solche Verstöße sind nicht von der Berufshaftpflicht gedeckt und können den Entzug der Approbation (medical license) zur Folge haben. Allerdings dürfen Krankenhaus oder ED Patien- ten teilbehandelt nach Hause entlassen, wenn die unmittelbare Gefahr für das Leben und Gesundheit abgewehrt ist.

Sie sind nicht verpflichtet, Patienten aufzunehmen, die sich elektiven Ein- griffen oder Behandlungen unterziehen wollen – vor allem dann nicht, wenn die Kostenübernahme nicht gesichert ist.

Für viele nicht krankenversicherte Patienten ist das ED im Fall einer Er- krankung die einzige Möglichkeit, me- dizinische Hilfe zu erlangen. Die Not- aufnahmen sind inzwischen zu „Ameri- ca’s safety net“, zum „Sicherheitsnetz“, geworden (1, 11, 21).

Daneben mögen weitere Faktoren, wie reine Bequemlichkeit, die hohen Patientenzahlen der EDs erklären. EDs sind immer geöffnet und dienen bei Be- findlichkeitsstörungen auch morgens um drei Uhr als Anlaufstelle. Die Men- Der Emergency Room dürfte vielen durch die

gleichnamige Fernsehserie aus den USA be- kannt sein.

Foto:Kirchmedia

(3)

schen in den USA haben eine andere Einstellung zu Service und Öffnungszei- ten. Ladenschlussgesetze und das Ver- bot von Sonntagsarbeit spielen in der US-Dienstleistungsindustrie eine eher untergeordnete Rolle. Unbewusst dürf- ten diese Gewohnheiten jedoch die Er- wartungshaltung der Patienten beein- flussen, wie schnell und zu welchem Zeitpunkt Medizin verfügbar sein sollte.

Viele nutzen das ED als Ersatz für den Hausarzt. Dabei war die hausärztliche Versorgung, insbesondere die struktu- rierte Behandlung chronisch Kranker innerhalb eines etablierten Arzt-Patien- ten-Verhältnisses, nie das Ziel amerika- nischer EDs. Hinzu kommt, dass es in den USA kaum Ärzte gibt, die Hausbe- suche machen. Viele Menschen, die kei- ne ausreichenden Transportmittel ha- ben, rufen den Krankenwagen, der sie in der Regel direkt ins nächste ED bringt.

All diese Faktoren haben das US- amerikanische Gesundheitswesen an den Rand des Kollapses gebracht. Al- lein im Jahr 1995 wurden im Kranken- haus für 17,5 Milliarden US-Dollar Lei- stungen erbracht, die nie bezahlt wur- den (21). Seit langem gibt es die Forde- rung, eine allgemeine Krankenversiche- rungspflicht für alle Bürger einzuführen (24, 25). Nachgedacht wird auch über Änderungen im HMO-Versicherungs- system, um den Patienten einen besse- ren und weniger bürokratischen Zu- gang zur medizinischen Versorgung zu sichern (26). Ziel ist, dass sich die EDs wieder auf ihre Kernaufgabe, die Ver- sorgung „echter“ Notfälle, konzentrie- ren können. Die derzeitigen Zustände in den Notaufnahmen empfinden so- wohl Ärzte als auch Patienten als un- tragbar. (1, 8, 18, 24)

Noch gibt es wenig Anlass zur Hoff- nung. Es ist zu befürchten, dass sich die Zustände in den EDs noch weiter ver- schlechtern müssen, bis eine grundle- gende Reform des Gesundheitswesens in Gang gesetzt wird.

Literatur im Internet unter www.aerzteblatt.de Anschrift des Verfassers:

Tareg Bey, MD Associate Clinical Professor Department of Emergency Medicine University of California, Irvine UCI Medical Center 101 The City Drive, Rte. 128 Orange, CA 92868, USA

D

as Neugeborenen-Screening in Deutschland enthält seit 1968/71 Untersuchungen auf angeborene Stoffwechselstörungen und Endokrino- pathien. Es dient der Früherkennung von Krankheiten, die zu geistigen und kör- perlichen Behinderungen oder auch zum Tod führen, wenn sie nicht frühzeitig er- kannt werden und die Behandlung zu spät oder gar nicht einsetzt. Durch das Screening und die erfolgreiche frühzeiti- ge, meist diätetische, Behandlung konnte für Tausende von Kindern, zum Beispiel mit Phenylketonurie, die vorher schlech- te Prognose einer schweren geistigen Be- hinderung überwunden werden. Diese Kinder haben heute eine normale intel- lektuelle und körperliche Entwicklung.

Angespornt durch solche Erfolge, wird zurzeit über die Ausweitung der Früherkennung diskutiert. Das Modell- projekt zur Neuordnung des Neugebo- renen-Screenings in Bayern erweitert den Untersuchungsumfang, führt neue Untersuchungsmethoden (Tandem-Mas- senspektrometrie) und neue Maßnah- men zur Verbesserung der Prozessqua- lität ein. Einige Bundesländer haben die- se Ausweitungen übernommen, andere wollen es tun. Die Gründe liegen auf der Hand: Man kann mehr Störungen früh

erkennen, diese Störungen können viel- fach gut therapiert werden, ein Vorent- halten der erweiterten Diagnostik ist ethisch kaum zu rechtfertigen.

Es gibt jedoch ein ethisches Problem, das (auch vor einer eventuellen Erwei- terung des Screenings) bereits seit eini- gen Jahre besteht und schon jetzt einen großen Personenkreis betrifft. Bei Pati- enten mit angeborenen Stoffwechsel- störungen drohen die Therapieerfolge der Kinderheilkunde in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter verloren zu gehen. Erwachsene mit angeborenen Stoffwechselkrankheiten, die durch das Neugeborenen-Screening erkannt wur- den und als Kinder in spezialisierten pädiatrischen Stoffwechselzentren sehr gut behandelt wurden, stehen hierzu- lande ohne adäquate Betreuung da.

Entgegen ethischen Prinzipien

Dadurch werden ethische Prinzipien ver- letzt, die für jede Form der Früherken- nung gelten. Nach Wilson und Jungner (Principles and Practice of Screening.

WHO, Geneva 1968) darf Früherken- nung nur dann durchgeführt werden, wenn die gesuchte Erkrankung erstens behandelbar ist und zweitens die prakti- schen Voraussetzungen dafür gegeben sind, dass eine solche Behandlung auch erfolgen kann. Diese zweite Vorausset- zung aber ist für das bestehende Früher- kennungsprogramm nicht gegeben. An- ders ausgedrückt: Es wird eine Erkran-

Stoffwechselkrankheiten im Säuglingsalter

Ignoranz im

Erwachsenenalter

Früherkennungsprogramme dürfen nur dann eingesetzt werden, wenn die Voraussetzungen für eine spätere Behandlung gegeben sind. Dies ist zurzeit nach dem Neu- geborenen-Screening nicht der Fall.

Martin Schwarz

1

, Erik Harms

2

, Udo Wendel

3

, Michael Berger

1

, Heinz-Harald Abholz

4

1Klinik für Stoffwechselkrankheiten und Ernährung (WHO Collaborating Centre), Düsseldorf

2Klinik und Poliklinik für Kinderheilkunde, Universitäts- klinikum Münster

3Stoffwechselabteilung der Universitäts-Kinderklinik Düsseldorf

4Abteilung für Allgemeinmedizin, Heinrich-Heine-Uni- versität Düsseldorf

(4)

kung früh erkannt, die – längerfristig – nicht behandelt wird.

Die Voraussetzungen für eine solche Behandlung wären leicht zu schaffen. Sie sind aber in der bestehenden deutschen Versorgungswirklichkeit überhaupt nicht realisiert.

Bei den bisherigen und den zukünftig durch das Screening zusätzlich zu erfas- senden Stoffwechselstörungen handelt es sich um solche, die ohne eine Früher- kennung im Kindesalter immer schon zum Tod oder zu schweren Behinderun- gen geführt haben. Erst durch die Früherkennung wurde es überhaupt möglich, dass Kinder mit solchen Stoff- wechselstörungen ins Erwachsenenalter gebracht wurden. Da vor Früherkennung und Behandlung nur Kinder mit diesen Stoffwechselstörungen bekannt waren, war auch nichts über die Auswirkungen der Stoffwechselstörungen im Erwachse- nenalter bekannt. Man ging sogar für ei- nige Krankheiten lange Zeit davon aus, dass im Erwachsenenalter die entspre- chenden Störungen keine Krankheitsbe- deutung mehr haben.

Inzwischen wurde deutlich, dass sich bei einigen Stoffwechselstörungen trotz bester Behandlung bis zum Ende der Kindheit Zeichen von Krankheit ent- wickeln, über deren Progredienz im Er- wachsenenalter wir nichts wissen. Bei an- deren früh behandelten Stoffwechsel- krankheiten sind die jungen Erwachse- nen heute ganz normal; wir wissen aber nicht, ob mit zunehmendem Alter nicht doch noch Schäden auftreten können.

Man hat sich zu vergegenwärtigen, dass momentan die erste Generation junger Erwachsener mit diesen Störungen über- haupt lebt: Ungeschädigte Erwachsene mit diesen Stoffwechselkrankheiten gab es früher nicht. Entsprechend musste man lernen, dass man über den weiteren Verlauf überhaupt keine Erkenntnis ha- ben konnte.

Schäden im Erwachsenenalter

Grundsätzlich gibt es bei den früh ent- deckten Stoffwechselkrankheiten wäh- rend des Erwachsenenalters folgende Konstellationen:

1. Schon nach jetzigem Wissensstand muss eine lebenslange Diät oder Thera- pie betrieben werden, da es auch im Er- wachsenenalter Schäden gibt: Beispiele hierfür sind die folgenden Krankheiten (in Klammern jeweiliger Verlauf ohne weitere oder unzureichende Behand- lung, beziehungsweise wegen benannter Sekundärschäden muss unbedingt Über- wachung erfolgen):

❃ Störungen im Aminosäurenstoff- wechsel: Ahornsirupkrankheit (inner- halb von Tagen Koma),Homozystinurien (schwere Thromboembolien), Tyrosin- ämie (Leberinsuffizienz, Zirrhose, Le- berkarzinom), Harnstoffzyklusdefekte (hyperammonämisches Koma mit blei- bendem schwersten Hirnschaden), Störungen im Abbau der organischen Säuren (chronisch schwere Schäden an verschiedenen Organen).

❃ Störungen im Kohlenhydratstoff- wechsel: Glykogenspeicherkrankheiten (Nephropathie, Niereninsuffizienz mit der Notwendigkeit zur Transplantation, Leberadenome mit dem Risiko der mali- gnen Entartung), Galaktosämie (neuro- logische Schäden, Leberzirrhose und akutes Leberversagen, ovarielle Hormon- insuffizienz), hereditäre Fruktoseintole- ranz (Leberversagen, Leberzirrhose), Störungen der Glukoneogenese (schwer- ste Hypoglykämien mit zerebralen Fol- geschäden, schwerste Azidosen).

2.Äußerst intensive und genaue Kon- trolle des Stoffwechsels mit Spezialdiät und Therapie während einer Schwanger- schaft, inklusive einiger Monate davor und danach, ist notwendig. Beispiel Phenylketonurie (PKU): Zur Vermei- dung von Fehlbildungen (teratogener Schäden) beim Kind ist bei Schwangeren mit Phenylketonurie, aber im Prinzip auch bei allen anderen mit einer vorste- hend beispielhaft genannten metaboli- schen Krankheit, der gestörte Stoffwech- sel äußerst sorgfältig zu kontrollieren und so gut wie möglich zu normalisieren.

Geschieht dies nicht, werden die Kinder, obwohl bei autosomal-rezessivem Erb- gang selbst gesund, intrauterin durch die toxischen Stoffwechselmetaboliten der Mutter schwer geschädigt. Aufgrund der Früherkennung wurde es Frauen mit angeborenen Stoffwechselkrankheiten erstmals ermöglicht, selbst Kinder zu be- kommen. Diese Chance für die Frau und deren mögliches Kind wird nun durch ein hohes Missbildungsrisiko für die Kinder gefährdet, wenn die Frauen während der Schwangerschaft nicht adäquat behan- delt werden. Es wäre paradox und ethisch nicht vertretbar, wenn die erfolg- reiche Behandlung einer Krankheit in der ersten Generation mit dem Auftreten nicht behandelbarer Schäden in der nächsten Generation erkauft würde.

3.Störungen, bei denen unbekannt ist, ob im Laufe des Lebens noch Schäden auftreten: Da die früh entdeckten Stoff- wechselkrankheiten grundsätzlich nicht heilbar sind, bestehen sie als chronische Situation lebenslang. Braucht zum Bei- spiel eine Stoffwechselstörung sehr lang, bis klinisch erfassbare Symptome mani- fest werden, können diese heute noch nicht erfasst sein, weil Erwachsene in ausreichender Zahl nicht über längere Zeiträume beobachtbar waren. Für diese Eine adäquate Behandlung von Stoffwechselstörungen, die bei Kleinkindern diagno-

stiziert wurden, ist im Erwachsenenalter derzeit nicht gewährleistet.

Foto:Peter Wirtz

(5)

Kategorie von Störung gilt, dass es in der Medizin üblich und gut begründbar ist, Patienten mit Störungen, über deren kli- nische Relevanz man sich noch nicht im Klaren ist, zu beobachten, um bei Störungsfolgen wenigstens frühzeitig in- tervenieren zu können.

Hier kann als Beispiel nochmals die Phenylketonurie als häufigste angebore- ne Stoffwechselkrankheit des Aminosäu- restoffwechsels genannt werden. In der Regel lassen sich durch gute Behandlung in Kindheit und Jugend Organschäden (hier besonders am Gehirn) vermeiden.

Es ist aber noch unbekannt, wie streng die Stoffwechseleinstellung im Laufe des Erwachsenenlebens sein muss, um leich- te oder schwere Beeinträchtigungen der Patienten zu verhindern. Dass sich auch bei Erwachsenen mit PKU noch Störun- gen im ZNS einstellen können, ist schon länger bekannt: Nach der speziellen Diätbehandlung finden sich bei einigen Patienten signifikante neuropsycho- logische Beeinträchtigungen. Beein- druckend sind die deutlichen zerebralen Veränderungen in der Kernspintomo- graphie, die bisher nicht eindeutig mit ei- nem wesentlich beeinträchtigten Verhal- ten der Patienten in Beziehung gesetzt werden konnten. Über Langzeitfolgen, wie zum Beispiel die frühzeitige Ent- wicklung einer Demenz, wissen wir nichts.

Vor diesem Hintergrund ergeben sich die folgenden Probleme: Erwach- sene mit Stoffwechselstörungen, die es im Erwachsenenalter bisher nicht gab, müssen weiterbehandelt werden.

Ein Großteil der Patienten, die aus dem Kindesalter und damit aus der Zu- ständigkeit von pädiatrischen Kliniken entwachsen sind, lehnen eine weitere Be- treuung im Rahmen von Kinderkliniken oder auch generell ab. Eine „Adoleszen- tenmedizin“ als eigenständige Disziplin versucht in Australien und den USA die vielfältigen Probleme in dieser Alters- gruppe zu lösen. Gerade bei chronischen Erkrankungen müssen Programme ent- wickelt werden, die eine systematische Überführung der Patienten in die Ver- antwortung von Nicht-Pädiatern (transi- tion) ermöglichen. In Ansätzen wurde dies bisher erst für die zystische Fibrose und den juvenilen Diabetes mellitus realisiert. Systematische Transitionspro- gramme für Menschen mit angebo-

renen Stoffwechselkrankheiten gibt es in Deutschland nicht.

Da die Personengruppe klein ist, gab es bisher auch kaum eine wissenschaftliche Motivation, hier einen Schwerpunkt wis- senschaftlicher und versorgungskonzen- trierter Erwachsenenmedizin zu sehen.

Damit ergibt sich das Problem, dass man zwar Früherkennung in Bereichen betreibt, in denen eine Frühbehandlung bekannt ist und auch realisiert wird, eine längerfristige Behandlung aber – näm- lich im Erwachsenenalter – entweder nicht erfolgt oder nur bei einer kleinen Untergruppe von Patienten durch Pädia- ter durchgeführt wird.

Es ist somit der ethisch nicht vertret- bare Fall eingetreten, dass man Früher- kennung ohne das Angebot einer umfas- senden Betreuung, nach Stand des Wis- sens, durchführt.

Größenordnung

Für die hier infrage kommenden Stoff- wechselkrankheiten ist eine Inzidenz von 1 : 1 000 Neugeborenen jährlich anzu- nehmen. Das bedeutet, dass jährlich in Deutschland circa 800 und in Nordrhein- Westfalen (NRW), als ein Beispiel für ei- ne bereits gut in Stoffwechselzentren or- ganisierte pädiatrische Behandlung, circa 180 neue Patienten zu dem derzeitigen Patientenstand hinzukommen. Ungefähr die gleiche Zahl von Patienten wird jähr- lich erwachsen und sollte zu einem Inter- nisten überwechseln. Die Zahl – also Prävalenz – der Patienten unter 18 Jah- ren mit diesen erblichen Stoffwechsel- krankheiten liegt in Deutschland bei 15 000, in NRW bei 3 200. Die genaue Zahl der Erwachsenen mit diesen Er- krankungen in NRW dürfte nicht be- kannt sein, da in der weiter zurückliegen- den Vergangenheit die Patienten im Kin- desalter nicht in gleichem Maße wie heu- te in einem Stoffwechselzentrum (Mün- ster, Düsseldorf) behandelt wurden.

Weil die Krankheiten selten sind und weil erwachsene Patienten bisher noch nie zu behandeln waren,also in der Erwachse- nenmedizin keinerlei Erfahrung im Um- gang mit diesen Krankheiten besteht,kann die einzige Lösung nur darin bestehen, die Betreuung an Zentren anzubinden.

Hierbei wiederum würde der Aufbau entsprechender Einrichtungen dadurch

deutlich erleichtert werden, dass Pädia- ter im Hintergrund vorhanden sind, die mit diesen Krankheiten Erfahrung ha- ben. Solche Ambulanzen würden an- fänglich eine sehr intensive interdiszi- plinäre Zusammenarbeit zwischen In- ternisten und Pädiatern erfordern.

In Nordrhein-Westfalen haben die beiden pädiatrischen Zentren in Düssel- dorf und Münster und die korrespondie- renden medizinischen Kliniken bereits, ohne finanzielle Unterstützung, mit einer solchen interdisziplinären Zusammenar- beit begonnen. Die Betreuung der zur- zeit jeweils – Münster und Düsseldorf -–

etwa 250 Patienten (Daten der Kinder- kliniken, die nicht einmal alle bisher früh entdeckten Kinder umfassen) erfordert an beiden Standorten jeweils eine Arzt- stelle sowie jeweils eine halbe Stelle einer Diätassistentin. Zudem fallen zahlreiche Konsilien mit Neurologen, Nephrologen, Gynäkologen und Hämatologen bei der Betreuung an.

Grundsätzlich handelt es sich um Krankheitskosten, die in den Bereich der GKV fallen.Allerdings ist zu berücksich- tigen, dass hier auch die Gesellschaft – vertreten durch die Länder-Gesund- heitsministerien – Verantwortung trägt.

Die Gesundheitsministerkonferenz der Länder hat im Juni 2001 einstimmig emp- fohlen, die Tandem-Massenspektrome- trie flächendeckend in das Neugebore- nen-Screening einzuführen. Dem kann nur zugestimmt werden. Aber auch die Ignoranz in Hinsicht auf die Erkrankun- gen im Erwachsenenalter muss über- wunden werden. Dies ist eine gemeinsa- me Aufgabe, die eine Zusammenarbeit von Wissenschaft, GKV und Politik er- fordert, auch in finanzieller Hinsicht.

Wie die Lösung inhaltlich aussehen kann, wurde dargestellt.Wer aber für de- ren Finanzierung zuständig ist – GKV oder das Land –, bleibt offen. Die Versu- che der Vorklärung in Nordrhein-West- falen haben schon jetzt deutlich gemacht, dass beide sich „darum drücken“, also das Problem ungelöst bleiben wird.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2002; 99: A 2030–2032 [Heft 30]

Anschrift für die Verfasser:

Prof. Dr. Heinz-Harald Abholz Abteilung für Allgemeinmedizin Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstraße 5

40225 Düsseldorf

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