Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 16⏐⏐21. April 2006 AA1033
S E I T E E I N S
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ieser Tage veröffentlichte die Deutsche Angestellten-Kranken- kasse (DAK) ihren „Gesundheits- report 2005“. Dabei handelt es sich um eine Auswertung der Arbeits- unfähigkeitsmeldungen, bezogen auf die erwerbstätigen Mitglieder der Kasse. Das sind immerhin 2,6 Millionen. Die hohe Zahl lässt mit gewissen Abstrichen – Büroberufe und Frauen sind überrepräsentiert – generelle Aussagen zu.Der Krankenstand ist demnach von 3,2 Prozent in 2004 auf 3,1 Pro- zent in 2005 gesunken. Der geringfü- gige Rückgang um 0,1 Prozent wur- de von der Presse wie auch von der Krankenkasse selbst als positives Signal gewertet. Die altbekannte Begründung: Bei besserer Beschäfti- gung steige tendenziell der Kran- kenstand, der Arbeitnehmer werde
gleichsam leichtsinnig. Bei hoher Arbeitslosigkeit aber sinke er wegen der Angst um den Arbeitsplatz. An der Argumentation stimmt was nicht.
Die niedrigsten Krankenstände weisen Baden-Württemberg (2,6 Prozent) und Bayern (2,8) aus, die Bundesländer, die zugleich die nied- rigste Arbeitslosenquote haben. Die höchsten Krankenstände aber ha- ben: Berlin, Brandenburg (je 3,8 Prozent), Mecklenburg-Vorpom- mern, Thüringen (3,7), Sachsen-An- halt, Saarland (3,6) und Sachsen (3,5). Das sind jene Bundesländer, die zugleich mit den höchsten Ar- beitslosenquoten aufwarten (bis auf das Saarland, über das auch die DAK-Statistiker rätseln). Und sie liegen alle (wiederum bis auf das Saarland) in Ostdeutschland. Der
Osten ist somit doppelt gestraft: mit hoher Arbeitslosigkeit und hohem Krankenstand. Nach der geläufigen Logik müsste es umgekehrt sein: ho- her Krankenstand im Ländle, weil wenig Arbeitslosigkeit, niedriger in den neuen Ländern, weil große Angst um den Arbeitsplatz.
Wie wäre es mit einer anderen Er- klärung als der landläufigen? Freude an der Arbeit motiviert, zur Arbeit zu gehen. Angst vor dem Jobverlust mag kurze Zeit zur Arbeit treiben.
Die dauernde Drohung mit Arbeits- platzabbau, als Züchtigungsmittel von Arbeitgeberseite immer noch gerne gewählt, aber führt zu Resi- gnation bis zur Depression, und die lässt schneller krank werden. Eine Wirtschaftspolitik, die Zuversicht vermittelt, wäre somit auch die beste Gesundheitspolitik. Norbert Jachertz
Krankenstand
Geteiltes Deutschland D
as Bild ist immer noch unge-wohnt, und selbst die Initiatoren sind überrascht: Seit Monaten ge- hen Tausende Ärztinnen und Ärzte aus Praxen und Krankenhäusern auf die Straße, um gegen die chro- nische Unterfinanzierung des Ge- sundheitswesens, zu niedrige Gehäl- ter und Honorare, unzumutbare Ar- beitsbedingungen und eine über- bordende Bürokratie zu protestie- ren. Die Tarifpartner der Ärztege- werkschaft Marburger Bund zeigen sich bislang unnachgiebig. Auf posi- tive politische Signale warten auch die niedergelassenen Ärzte noch vergebens.
Derweil gehen die Diskussionen über eine längst überfällige Finanz- reform der Gesetzlichen Kranken- versicherung (GKV) ihren gewohn- ten Gang. Alle, die glauben, etwas
zum Thema zu sagen zu haben, mel- den sich zu Wort: Gewerkschaften, Parteipolitiker, Gesundheitsökono- men. Es geht um das Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags, Fondsmodelle und dritte Wege.
Und während die einen noch dis- kutieren, haben die anderen längst ihre Entscheidung getroffen und die Koffer gepackt. Gut 50 Ärztinnen und Ärzte hatten sich vor kurzem in den nordischen Botschaften in Ber- lin eingefunden, um sich über die Arbeitsbedingungen im nördlichen Norwegen zu informieren. Die dorti- ge Regionalverwaltung sucht hände- ringend Fachärzte und greift mit Freude auf Bewerber aus Deutsch- land zurück. Die Deutschen gelten als qualifiziert und haben sich in der Vergangenheit als kulturell anpas- sungsfähig erwiesen.
Den meisten Auswanderungswilli- gen geht es nicht in erster Linie ums Geld. Es sind die Arbeitsbedingun- gen, die wenige Zeit, die für die Fa- milie bleibt, die viele Bürokratie, die mangelnde Anerkennung, die sie fort- treiben – all das eben, wofür die Kol- leginnen und Kollegen auf die Straße gehen. Die meisten Norwegen-In- teressierten, die sich an diesem Tag in der Botschaft versammelt haben, sind keine Berufsanfänger mehr.Vie- le sind Anfang oder Mitte 40 und wol- len sich trotz eigener Praxis und viel- fach auch gegen den Widerstand ih- rer Familien neu orientieren. Sie hal- ten es schlicht nicht mehr aus. Die Po- litik täte gut daran, die Stimmung un- ter den Ärzten endlich ernst zu neh- men. Denn ohne gute und motivierte Ärzte nutzt auch die schönste GKV- Finanzreform nichts. Heike Korzilius