Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 34–35⏐⏐24. August 2009 565
M E D I Z I N
Grunderkrankungen berücksichtigen
Alarmiert durch Daten des Statistischen Bundesamtes berichten Neumann und Koautoren (1) über „Diagno- sen, Todesursachen und Kosten“ der Herzinsuffizienz, die „heutzutage eine der häufigsten und kostenintensiv- sten chronischen Erkrankungen“ sei.
Wenn die Autoren pauschal über die dafür angefalle- nen Kosten in Deutschland 2006 und künftige Trends nachdenken, muss beachtet werden, dass die Herzin- suffizienz keine chronische Erkrankung ist. Vielmehr handelt es sich um ein klinisches Syndrom mit charak- teristischen Symptomen, denen ganz unterschiedliche Krankheiten zugrunde liegen. Somit sollte nicht undif- ferenziert über „die Herzinsuffizienz“ geschrieben werden, wenn eine chronische Form gemeint ist und ei- ne konkrete nosologische Zuordnung der vorgelegten heterogenen statistischen Zahlenkolonnen nicht mög- lich ist.
Die akute und chronische Links- wie auch die akute und chronische Rechtsherzinsuffizienz sowie deren Kombination (globale Herzinsuffizienz) haben unter- schiedliche, gleichwohl klassische Krankheitszeichen.
Diese weisen auf vielfältige Veränderungen und Er- krankungen des linken und des rechten Herzens sowie des Herzbeutels hin, die sich auf drei Ursachengruppen für eine Herzinsuffizienz verteilen: dekompensierte Herzhypertrophie, myogene Herzinsuffizienz und Peri- kardveränderungen.
Wenn „aufgrund der Altersentwicklung neue Kon- zepte der Prävention und Therapie“ (1) der Herz- schwäche angeraten werden, muss deren ätiologische Vielfalt berücksichtigt werden. Nichtrauchen verhin- dert eine chronische Emphysembronchitis mit dekom- pensiertem Cor pulmonale. Blutdruckkontrollen und körperliches Training unterbinden Myokardinfarkte und Infarktnarben infolge koronarer Herzkrankheit (2, 3). Eine Bekämpfung von chronischem Alkoholismus verhütet einen Teil der Kardiomyopathien. Diese und viele andere Erkrankungen führen zu einer „Herzinsuf- fizienz“, was aus der mitgeteilten globalen Statistik dieser „Einzeldiagnose“ naturgemäß nicht ersichtlich wird (1). Eine Betrachtung der Grundleiden für eine Herzinsuffizienz erscheint jedoch geboten, wenn medi- zinische und wirtschaftliche Gesichtspunkte zu dem häufigsten Grund für Krankenhausaufenthalte erörtert werden.
DOI: 10.3238/arztebl.2009.0565a
LITERATUR
1. Neumann T, Biermann J, Neumann A et al.: Heart failure: the commonest reason for hospitalization in Germany—medical and economic perspectives [Herzinsuffizienz: Häufigster Grund für Krankenhausaufenthalte. Medizinische und ökonomische Aspekte].
Dtsch Arztebl Int 2009;106: 269–75.
2. Halle M, Berg A, Hasenfuss G: Sekundärprävention der koronaren Herzerkrankung. Körperliches Training als Therapiepfeiler. Dtsch Arztebl 2003; 100(41): A 2650–6.
3. Nizze H, Bernateck M: „Lebensstilintervention“ – Mephistos Rat.
Dtsch Arztebl 2004; 101(28-29): A 2057.
Prof. Dr. med. Horst Nizze Institut für Pathologie der Universität Postfach 10 08 88
18055 Rostock
E-Mail: horst.nizze@med.uni-rostock.de
Eingeschränkter Geschlechtervergleich Mit großem Interesse haben wir den wichtigen Artikel zur Epidemiologie der Herzinsuffizienz in Deutsch- land gelesen, die sich aus den Grafiken 1 bis 3 und der Diskussion ergebenden Schlussfolgerungen bezüglich der Geschlechtsabhängigkeit des Erkrankungs- und Sterberisikos sind allerdings irreführend (1). Unter Anwendung der von den Autoren genutzten Daten- quelle (2) lässt sich zeigen, dass bis zum hohen Le- bensalter die Krankheits- und Sterbehäufigkeit bei Männern höher ist als bei Frauen: Bis zum 70. Le- bensjahr haben Frauen ein 50 bis 60 % geringeres Sterbe- und Hospitalisierungrisiko als Männer, das sich bis zum 90. Lebensjahr langsam angleicht. Erst im noch höheren Lebensalter sind Frauen stärker be- troffen.
Die Ursache für die scheinbar diskrepanten Befun- de liegt in wechselnden Bezuggruppen bei der Alters- standardisierung unter Anwendung der Standardbe- völkerung Deutschland 1987:
Die von der Gesundheitsberichterstattung des Bun- des (2) veröffentlichten, altersstandardisierten Raten der Männer wurden auf die männliche und die Raten der Frauen auf die weibliche Bevölkerung von 1987 bezogen (3). Die Raten für Männer und Frauen dürfen daher zwar geschlechtsintern (zum Beispiel zwischen Bundesländern oder über die Zeit), keinesfalls aber miteinander verglichen werden. Eine korrekte Analy- se und Darstellung von geschlechtsspezifischen Aspekten muss eine Standardpopulation verwenden, bei der Frauen und Männer eine identische Alters- struktur aufweisen (beispielsweise alte Europastan- dardbevölkerung) beziehungsweise sie muss beide Geschlechter auf dieselbe Bezugspopulation bezie- hen. Bei korrekter Standardisierung liegen die von den Autoren in den Grafiken 1 bis 3 dargestellten, al- tersstandardisierten Sterbe- und Hospitalisierungsra- ten der Frauen nicht über, sondern unter denen der Männer.
DOI: 10.3238/arztebl.2009.0565b zu dem Beitrag
Herzinsuffizienz: Häufigster Grund für Krankenhaus- aufenthalte – Medizinische und ökonomische Aspekte
von PD Dr. med. Till Neumann, Janine Biermann, Dr. med. Dr. rer. pol.
Anja Neumann, Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Wasem, Prof. Dr. med. Georg Ertl, Prof. Dr. med. Rainer Dietz, Prof. Dr. med. Raimund Erbel in Heft 16/2009
DISKUSSION
566 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 34–35⏐⏐24. August 2009
M E D I Z I N
LITERATUR
1. Neumann T, Biermann J, Neumann A et al.: Heart failure: the commonest reason for hospitalization in Germany—medical and economic perspectives [Herzinsuffizienz: Häufigster Grund für Krankenhausaufenthalte. Medizinische und ökonomische Aspekte].
Dtsch Arztebl Int 2009;106: 269–75.
2. Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE). http://www.gbe- bund.de.
3. Statistisches Bundesamt (persönliche Mitteilung).
Dr. med. Frank Andersohn Sylvia Binting
Prof. Dr. med. Stefan N. Willich, MPH, MBA Anschrift für die Verfasser
Dr. med. Frank Andersohn
Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie Charité – Universitätsmedizin Berlin
10098 Berlin
E-Mail: frank.andersohn@charite.de
Schlusswort
Die Forderungen nach einer umfassenderen Darstel- lung der Datenlage, insbesondere unter Berücksichti- gung der Ätiologie der Herzinsuffizienz, von Herrn Prof. Nizze können wir nur unterstützen.
Betrachtet man bevölkerungsbasierte Längsschnitt- studien aus industrialisierten Ländern, so weisen deren Ergebnisse darauf hin, dass mit circa 70 % die ischämi- sche Myokardschädigung den bei weitem größten An- teil in der Ätiologie der Herzinsuffizienz ausmacht (1, 2). Verbesserte Behandlungsoptionen und sinkende Mortalitätsraten des akuten Myokardinfarktes werden auch in Zukunft zu einer hohen Rate ischämischer Myokardschäden beitragen. Weitere 10 % sind nach Angabe der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie jeweils durch Vitien sowie durch Kardiomyopathien bedingt (2).
Leider bieten die zugänglichen Datensätze des stati- stischen Bundesamtes nicht die Möglichkeit einer se- lektiveren Abbildung hinsichtlich der Ätiologie für Deutschland. Lediglich die Unterscheidung von kon- gestiver Herzinsuffizienz (I50.0), Linksherzinsuffizienz (I50.1) sowie nicht näher bezeichneter Herzinsuffizi- enz (I50.9) ist anhand der statistischen Daten in Bezug auf Sterblichkeit und Hospitalisation durchführbar. Ei- ne Unterscheidung hinsichtlich Rechtsherzinsuffizi- enz, Linksherzinsuffizienz beziehungsweise globaler Herzinsuffizienz lässt sich aus den Daten nicht herlei- ten. Hinsichtlich der Krankheitskosten ist die globale Betrachtung auf der 3-Steller-Ebene die detaillierteste Darstellungsoption. Somit ist auch für den Bereich Ge- sundheitsökonomie nach den zugänglichen Datensät- zen eine weitere Differenzierung der Herzinsuffizienz aktuell nicht realisierbar. Dennoch werden wir den Kommentar von Herrn Prof. Nizze aufgreifen und ver- suchen, die Anregungen in künftigen Projekten mit um- zusetzen.
Herr Dr. Andersohn und Koautoren weisen darauf hin, dass die von uns verwendete Standardbevölkerung (Deutschland 1987) nicht korrekt sei, da sie keine Ver- gleichbarkeit zwischen den Geschlechtern ermöglicht.
Wir teilen die Auffassung der Kollegen nicht, auch
wenn der Einwand der Berliner Arbeitsgruppe gerecht- fertigt ist. Nach unserer Auffassung ist die in der Veröf- fentlichung verwendete Standardbevölkerung nicht weniger zu verwenden als die vorgeschlagene alte Eu- ropastandardbevölkerung. Zum einen basiert die vor- liegende Arbeit auf nationalen Daten, sodass bereits aus diesem Grund die Auswahl der Standardbevölkerung Deutschland 1987 angemessen ist. Zudem wird die ver- wendete Standardbevölkerung auch von offizieller Sei- te für die Standardisierung der Daten angewendet. So erfolgte die Auswahl der zugrunde liegenden Standard- bevölkerung in Anlehnung an die Krankenhausstatistik des Statistischen Bundesamtes (3).
Dennoch halten wir den Einwand von Herrn Dr. An- dersohn und Kollegen hinsichtlich des eingeschränkten Geschlechtervergleiches für gerechtfertigt. Jedoch würden wir aufgrund der spezifischen Charakteristika der einzelnen Standardbevölkerungen nicht soweit ge- hen wollen, eine der diskutierten Standardbevölkerun- gen als korrekte beziehungsweise nicht korrekte Stan- dardisierung zu bezeichnen. Hier ist eine differenzier- tere Betrachtung notwendig, zu der der Kommentar der Kollegen beigetragen hat.
DOI: 10.3238/arztebl.2009.0566
LITERATUR
1. Fox KF, Cowie MR, Wood DA et al.: Coronary artery disease as the cause of incident heart failure in the population. Eur Heart J 2001;
22: 228–36.
2. Dickstein K, Cohen-Solal A, Filippatos G et al.: ESC guidelines for the diagnosis and treatment of acute and chronic heart failure 2008.
Eur Heart J 2008; 29: 2388–442.
3. Statistisches Bundesamt: Fachserie 12 / Reihe 6.2.1. Diagnosedaten der Patienten und Patientinnen in Krankenhäusern (einschließlich Sterbe-, und Stundenfälle) 2007. Wiesbaden 2008.
4. Neumann T, Biermann J, Neumann A et al.: Heart failure: the commonest reason for hospitalization in Germany—medical and economic perspectives [Herzinsuffizienz: Häufigster Grund für Krankenhausaufenthalte. Medizinische und ökonomische Aspekte].
Dtsch Arztebl Int 2009;106: 269–75.
PD Dr. med. Dipl.-Kfm. Till Neumann Janine Biermann
Anschrift für die Verfasser PD Dr. med. Dipl.-Kfm. Till Neumann Klinik für Kardiologie
Universitätsklinikum Essen Hufelandstraße 55 45122 Essen
E-Mail: till.neumann@uk-essen.de Interessenkonflikt
Die Autoren aller Beiträge erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.