KARZINOMSERIE:
Das Nasopharynx-Karzinom
Walter Becker
Aus der Universitätsklinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkranke Bonn (Direktor: Professor Dr. Walter Becker)
Das Nasopharynxkarzinom ist ein klinisch besonders bösartiger und symptomenreicher Tumor. Seine nasalen, otologischen und neu- roophthalmologischen Symptome werden aber oft nicht auf den Pri- märtumor bezogen. Die Diagnostik erfolgt deshalb meist erst nach einer Verzögerungszeit von 8 bis 12 Monaten in den Stadien T3 und T4, Laterozervikale Metastasen sind in über 50 Prozent das „Erstsym- ptom". Eine radikale Behandlung unter tumorchirurgischen Gesichts- punkten ist nicht möglich. Die Radiotherapie ist schon in den Stadien T, und T2 mit einer aggressiven Chemotherapie zu verbinden.
Das Nasopharynxkarzinom bie- tet für die Onkologie hochinter- essante Aspekte, da wie kaum bei einem anderen Tumor rassi- sche und genetische sowie an- drogenhormonelle Faktoren und ferner exogene Noxen (offene Feuerplätze, Schnupftabak, Blei, Arsen, ölige Substanzen) er- kennbar sind und in neuen asia- tischen und europäischen Publi- kationen viel diskutiert werden.
Morbidität
und Epidemiologie
Über 90 Prozent aller Nasopharynx- (NP-)Malignome sind Karzinome;
die übrigen bösartigen Neubildun- gen sind Non-Hodgkin-Lymphome sowie extramedulläre Plasmozyto-
me und lymphogranulomatöse Ma- nifestationen.
In der westlichen Welt beträgt der Anteil der NP-Karzinome weniger als 1 Prozent aller menschlichen Karzi- nome; in Teilen Südasiens und in Wohnbereichen gewisser mongoloi- der und schwarzer Rassen ist es
„endemisch".
In Singapur z. B. ist das NP-Karzi- nom der häufigste Tumor bei Män- nern, in den USA rangiert es an 33.
Stelle. Männer sind doppelt bis drei- mal so häufig befallen wie Frauen.
Der Erkrankungsgipfel liegt in Euro- pa und in den USA zwischen dem 40.
und 60., im asiatischen Raum zwi- schen dem 30. und 40. Lebensjahr (hier zeichnet sich auch ein zweiter Erkrankungsgipfel zwischen dem 15. und 20. Lebensjahr ab). Das NP- Karzinom bietet für die Onkologie hochinteressante Aspekte, da wie kaum bei einem anderen Tumor ras- sische und genetische sowie andro- genhormonelle Faktoren und ferner exogene Noxen (offene Feuerplätze, Schnupftabak, Blei, Arsen, ölige Substanzen) erkennbar sind und in neuen asiatischen .und europäi- schen Publikationen diskutiert wer- den. Im Mittelpunkt des Interesses steht die evidente Korrelation zwi- schen NP-Karzinomen und den ho- hen Antikörpertitern gegen die Kap- selantigene des Epstein-Barr-Virus, wie sie sonst nur bei Burkitt-Lym- phomen und der Mononukleose zu
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Abbildung 1: Die Pharynxetagen C) Nasopharynx C) Oropharynx
® Hypopharynx
Abbildung 2: Topographie des Nasopharynx, seitliche Ansicht C) Nasopharyngeales Tuben- ostium
C Rosenmüllersche Grube
® Os sphenoidale
® Sinus sphenoidalis finden sind. Aus jüngsten Berichten
ergeben sich weitere Indizien für eine Virusgenese. Ein reproduzier- barer Beweis steht noch aus.
Anatomie
Das knöcherne Dach des kuboiden Nasopharynx (früher als Epipharynx bezeichnet) besteht aus dem Os sphenoidale und Teilen des Os occi- pitale. In die Seitenwände mündet die nasopharyngeale Öffnung der Eustachischen Röhre ein. Oberhalb und lateral des Torus tubarius befin- det sich die Rosenmüllersche Grube. In der Hinterwand liegen submukös prävertebral regionäre Lymphknoten. Die vordere untere Grenze bildet die Rückfläche des weichen Gaumens. Die Choanen und der hintere Septumrand werden der inneren Nase zugeordnet (Abbil- dungen 1 und 2).
Die Schleimhautbedeckung besteht aus Plattenepithel, Flimmerepithel und einer Übergangszone, submu- kös stellenweise angereichert mit lymphozytären Zellelementen. Der Lymphabfluß erfolgt dorsolateral und kaudal über retropharyngeale Lymphknoten oder direkt in die obersten tiefen jugularen und in Lymphknoten entlang des Nervus accessorius.
Morphologie
Weit über 90 Prozent aller NP- Krebse sind Plattenepithelkarzino- me. Adenokarzinome und adenoid- zystische Karzinome kommen vor, sind aber selten. Es hat sich erwie- sen, daß die Einteilung in verhor- nende, nichtverhornende, Über- gangszellkarzinome und Lympho- epitheliome verwirrend und gegen- wärtig therapeutisch wenig konse-
quenzenreich ist (4). Gewisse Be- sonderheiten bezüglich Ätiologie und klinischem Verlauf scheinen sich bei den lymphoepithelialen Kar- zinomen (Schmincke - Regaud) aus der Integration der lymphatischen Zellelemente mit dem Plattenepithel der NP-Schleimhaut zu ergeben (3).
Erfahrene Kenner der Materie war- nen aber vor der Überschätzung des feingeweblichen Bildes im Hinblick auf das klinische Verhalten, die Strahlensensibilität und die Prognose.
Diagnostik
Der NP ist eine schwer einsehbare Region, deren Beurteilung auch für den Erfahrenen mit Aufwand ver- bunden sein kann. Die Rhinoscopia anterior steht zwar am Anfang aller Untersuchungen, ist aber häufig un- ergiebig. Die indirekte Postrhino-
Abbildung 3: Kleines exulzerie- rendes Nasopharynxkarzinom in der Mitte des Nasopharynxda- ches. Die Tubenostien lateral sind beiderseits noch frei (Aufnahme:
Professor Dr. H. Jung, Koblenz)
Abbildung 4: Nasopharynxkarzi- nom mit einseitigem Befall der Rosenmüllerschen Grube und des Tu benosti ums
Abbildung 5: Ausgedehntes exul- zerierendes Karzinom des Naso- pharynxdaches und der Seiten- wände beiderseits. Unten: Vomer mit Choanen und hinteren Mu- schelenden (Aufnahme: Professor Dr. H. Jung, Koblenz)
skopie mit kleinen Spiegeln führt in der Hand des Geübten, gegebenen- falls nach Oberflächenanästhesie und Retraktion des weichen Gau- mens, weiter. Weit mehr gilt dies für die Nasopharyngoskopie mit Fiber- glasoptiken, die durch Mund oder Nase eingeführt werden. Die sicher- ste Untersuchungstechnik ist die Ausleuchtung und Betrachtung mit einem großen Spiegel unter dem Operationsmikroskop. Diese Unter- suchung erfolgt in relaxierender All- gemeinnarkose unter maximaler Zu- rückbeugung des Kopfes und unter Retraktion des weichen Gaumens.
Gezielte Biopsien sind so durch- führbar.
In bestimmten Problemfällen ist die Curettage mit einem Ringmesser notwendig. Die Zytodiagnostik ist unergiebig.
Die otoskopische Untersuchung in Verbindung mit audio- und tympa- nometrischen Funktionsprüfungen sind unverzichtbarer Bestandteil der Diagnostik, ebenso wie die Beurtei- lung der Funktionen der Nervi III bis IV und der Nervi IX bis XII. Eminent wichtig ist die subtile palpatorische Untersuchung aller laterozervikalen Lymphknotenareale, besonders im oberen und hinteren Halsbereich.
Die Röntgendiagnostik hat mit late- ralen und axialen sowie tomographi- schen, eventuell auch computerto- mog raphischen Untersuchungen das Ziel, Sitz und Ausdehnung von Tumor sowie Osteolysen im Bereich der Schädelbasis festzulegen, au- ßerdem (10 Prozent) hämatogene in- trathorakale und ossäre Metastasen nachzuweisen.
Symptomatologie und Klinik Das NP-Karzinom ist tückisch und klinisch besonders bösartig. Die Diagnosestellung erfolgt im Durch- schnitt erst nach einer Verzöge- rungszeit von 8 bis 12 Monaten.
Der kleine Primärtumor am Rachen- dach, am Übergang zur Rachenhin- terwand oder in der Rosenmüller- schen Grube ist zunächst klinisch stumm und schwer erkennbar (Ab- bildung 3). Scheinbar uncharakteri- stische Zeichen wie rezidivierende blutige nasale Absonderungen, Ohr- druck, Otalgien, leichte einseitige Schwerhörigkeit, kleine laterozervi- kale Lymphknotenschwellungen signalisieren fortgeschrittenes Tu- morwachstum, werden aber vom Pa- tienten (im Gegensatz zum Beispiel zur Heiserkeit beim beginnenden
Kehlkopfkarzinom) gedanklich ver- drängt (Abbildungen 4 und 5). Auch durch den praktischen Arzt, durch Neurologen, Ophthalmologen und HNO-Arzt wird die vielgestaltige, aber doch evidente und pathogno- monische Symptomatik oft fehlge- deutet (Abbildung 6).
Zur Klassifizierung des NP-Karzi- noms sind nach den Vorschlägen der UICC (Union Internationale Contre le Cancer) definierte Richtli- nien und Publikationen erarbeitet worden, die als Grundlage der Beur- teilung für die Ausdehnung des Kar- zinoms und für die sich daraus ab- leitenden prognostischen und thera- peutischen Konsequenzen zu benut- zen sind (Tabelle). Diese tumorbezo- genen Bezeichnungen werden durch die Lymphknotenbefunde im Nah- (N 0_3) und Fernbereich (M 0_ 1 ) ergänzt.
Das häufigste „Erstsymptom" sind reg io näre Lym ph knoten metastasen (Angaben schwanken zwischen 50 bis 90 Prozent). Zirka 30 Prozent der Fälle weisen bilaterale Metastasen zum Zeitpunkt der Diagnosestellung auf. Pathognomonisch sind meta- statische Lymphknotenschwellun- gen im hinteren oberen Halsbereich unter und hinter dem Ansatz des
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 39 vom 29. September 1977 2321
Tabelle: T-Klassifizierung für Nasopharynx Regionen Bezirke
Dach mit Hinterwand (postero-superior)
Seitenwand einschließlich Rosenmüllersche Grube (lateral)
Vorderwand Rückfläche des weichen Gaumens (inferior)
T, Tumor beschränkt auf einen Bezirk T2 Tumor ausgedehnt auf zwei Bezirke
T3 Tumor über den Nasopharynx hinausgehend ohne Knochenbefall
T4 Tumor über den Nasopharynx hinausgehend mit Knochenbefall (knorpeliger Anteil der Ohrtrompete eingeschlossen)
Abbildung 6:
Symptomatik des Nasopha- rynxkarzinoms C) Hohe late- rozervikale Lymphknoten- metastasen
© Nasale Zei- chen
® Mittelohrzei- chen
0 und C) Neu rooph- thalmologische Zeichen
Musculus sternocleidomastoideus (Abbildung 7). Ausdehnung, Zahl und Sitz der Lymphknotenmetasta- sen korrelieren nicht mit der Größe des Primärtumors. Die prognostisch sehr ungünstige Doppelseitigkeit und/oder Fixation der Metastasen an der Schädelbasis, an der Gefäß- scheide und retropharyngeal an der Halswirbelsäule (Abbildung 8) be- dingt häufig zum Zeitpunkt der Diagnosestellung die Zuordnung zum Stadium T 3 und T4 .
Der irreführende Begriff „branchio- genes" Karzinom hat früher, aber nicht selten auch heute noch, die Suche nach einem Primärtumor im NP verbaut. Laterozervikale Hals- lymphknotenschwellungen bei Er- wachsenen (wenn man von Entzün- dungen absieht) sind nach klini- schen und pathologisch-anatomi- schen Analysen hochgradig meta- stasenverdächtig. Bioptisch nach- gewiesene Metastasen bei okkulten Primärtumoren implizieren zunächst
die Untersuchung des NP; erst dann erfolgen diagnostische Untersu- chungen auf Primärtumoren in deren „stummen" Zonen wie Zun- genwurzel, Tonsillen, Schilddrüse, supraglottischer Raum, Hypopha- rynx (1).
Nasale Symptome sind rezidivieren- de Blutungen und/oder hartnäckige schleimig-eitrige, fötide Nasenab- sonderungen. Schon sehr kleine ex- ulzerierende Karzinome können schwere Blutungen aus Nase und Mund auslösen. Große exophyti:sch wachsende Tumoren führen zur Be- hinderung der Nasenatmung, zu Ge- ruchsstörungen und zur Rhinolalia clausa.
Etwa gleich häufig sind otologische Symptome. Sie reflektieren den Be- fall der Rosenmüllerschen Grabe und des nasopharyngealen Tuben- ostiums durch Verlegung oder karzi- nomatöse Infiltration.
Subjektiv: Völlegefühl im Ohr, Ctal- gie, Schwerhörigkeit.
Objektiv Meist ein-, seltener beid- seitige Trommelfellretraktion, Sero- mukotympanon, Schalleitungs- schwerhörigkeit mit entsprechen- den audio-tympanometrischen Be- funden. Ein hartnäckiger, vor allem einseitiger Mittelohrerguß beim Er- wachsenen begründet immer den Verdacht auf einen NP-Tumor.
Neuroophthalmologische Sym Ato- me werden, offenbar abhängig von der Subtilität der Untersuchung, zwischen 15 und 40 Prozent zum Zeitpunkt der Diagnosestellung ei- nes NP-Karzinom gefunden. Ebenso wie bilaterale oder fixierte Metasta- sen trüben sie die Prognose ent- scheidend. Der Befall der Nervi III bis VI („Sinus-cavernosus-Syndrom") erfolgt vor allem durch das Vordrin- gen des Karzinoms aus der Rosen- müllerschen Grube in das nicht- knöchern verschlossene Foramen lacerum oder durch Osteolysen im Bereich der mittleren Schädelgrube.
Auch der Canalis pterygoideus kommt als kranialer Ausbruchsweg in Frage. Der Befall der Nervi IX bis
Abbildung 7: Fixierte Lymphknotenmetastase bei Nasopharynxkarzinom hinter und unter dem Ansatz des Musculus sternocleiclomastoideus
Abbildung 8: Exulzeriererlde retropharyngeale Lymphknotenmetastase bei Na- sopharynxkarzinorn
Das NP-Karzinom ist wegen seiner topographisch-anatomischen Lage einer radikaloperativen Therapie nicht zugänglich. Dies gilt gleicher- maßen für retropharyngeale und fi- xierte Metastasen im Bereich der oberen Gefäßscheide beziehungs- weise Schädelbasis. Die Zuflucht liegt in der Hochvoltbestrahlung, ge- gebenenfalls mit Dosisaufsättigung durch schnelle Elektronen. Das Be- strahlungsvolumen muß den NP, den kranialen Oropharynx, die mitt- lere Schädelbasis sowie die late- rozervikalen Lymphknotenareale beiderseits umfassen (6). Augen- und Halsmarkbelastungen sind oft nicht zu vermeiden. Strahlenresi- stente Lymphknotenmetastasen sollten unter der Voraussetzung, daß der Primärtumor vernichtet wurde, operativ entfernt werden.
Das Schicksal der Patienten mit NP- Karzinom entscheidet sich meist in den ersten drei Jahren nach Diagno- sestellung. 5-Jahres-Überlebens- quoten werden zwischen 20 und 70 Prozent angegeben, wobei das lym- phoepitheliale Karzinom und logi- scherweise die (selten entdeckten) Frühstadien radiotherapeutisch die besten Ergebnisse aufweisen. Die vorgenannten Zahlen zeigen, daß of- fenbar oft unvergleichbare klinische Zustände miteinander verglichen werden, und weisen auf die Proble- matik der Therapie in den letzten zehn Jahren hin. Nach unseren Er- fahrungen liegt durch die verzögerte Diagnosestellung, die meist in den Stadien T3 und T4 erfolgt, die Hei- lungserwartung unter 20 Prozent.
Ausblick
Die Bösartigkeit des NP-Karzinoms rechtfertigt die Ergänzung der Strahlentherapie durch aggressive Chemotherapie; dies gilt unseres Er- achtens gerade auch für die Stadien Ti und T2. Ätiologische und epide- miologische Erkenntnisse und Zu-
sammenhänge regen weitere virolo- gische und immunologische For- schungen an.
Literatur
(1) Becker, W., Herberhold, C.: Klinik der Krankheiten des zervikalen Lymphknotensy- stems, In: Berendes/Link/Zöllner: Hals-Nasen- Ohren-Heilkunde, Bd. III, 2. Auflage, Georg Thieme Verlag Stuttgart (im Druck) - (2) Eng- lish, G.: Otolaryngology. A Textbook. Medical Department Harper & Row, Hagerstown, Mary- land, New York, San Francisco, London 1975
-(3) v. Ilberg, Chr., Kleinmann, H., Arnold, W.:
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Link/Zöllner: Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde.
Bd. III, 2. Auflage, Georg Thieme Verlag Stutt- gart (im Druck)
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. med. Walter Becker Direktor der Universitäts-
Hals-Nasen-Ohren-Klinik der Rheinischen
Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn 5300 Bonn-Venusberg
XII erfolgt extrakraniell durch Meta- stasen im Bereich von Schädelbasis und Gefäßscheide (2, 5, 7).
Therapie und Prognose
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