• Keine Ergebnisse gefunden

Zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheit in der Geschichte

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheit in der Geschichte"

Copied!
30
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Sc h ulz A rm u nd R ei ch

VSWG-B 229

Günther Schulz ( Hg. )

Arm und Reich

Zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheit in der Geschichte

ISBN 978-3-515-10693-1

Viele der Probleme von Armut und Reich- tum, die uns heute beschäftigen, waren bereits in der Zeit des Mittelalters, der Frühen Neuzeit, der Industrialisierung zu beobachten. Grundfragen der Diskussion, die auch hier untersucht werden, sind un- ter anderem die Wahrnehmung und the- oretische Durchdringung von Armut, die Analyse ihrer Ursachen, darunter auch der Folgen von Geldentwertung, In- und Exklusion gesellschaftlicher Gruppen, die räumliche Verteilung von Arm und Reich,

der Pauperismus bzw. die „Soziale Frage“

sowie die Entwicklung moderner wohl- fahrtsstaatlicher Leitbilder und In stru- mente. Großes Gewicht kam dabei stets der Perzeption und Bewertung zu.

Der Band vereinigt neue Forschungen zur Ungleichheit: theoretische und realhis- torische, umfassend angelegte sowie bei- spielhaft auswählende vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Er demonstriert damit zu- gleich die Spannweite, Vielfalt und Einheit der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte.

www.steiner-verlag.de Geschichte

Franz Steiner Verlag Franz Steiner Verlag

VSWG – Beihefte 229

(2)

Günther Schulz (Hg.)

Arm und Reich

(3)

vierteljahrschrift für sozial-

und wirtschaftsgeschichte – beihefte

Herausgegeben von Günther Schulz, Jörg Baten, Markus A. Denzel und Gerhard Fouquet

band 229

(4)

Günther Schulz (Hg.)

Arm und Reich

Zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheit in der Geschichte

Erträge der 24. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte vom 16. bis 19. März 2011 in Bonn

Franz Steiner Verlag

(5)

Umschlagabbildung: Arm und Reich oder Krieg und Frieden,

Flämischer Maler (um 1600), Öl auf Holz, Sammlung Museum der Brotkultur, Ulm

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar.

© Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz

Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier.

Printed in Germany.

ISBN 978-3-515-10693-1 (Print) ISBN 978-3-515-10703-7 (E-Book)

(6)

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort ... 7 Günther Schulz (unter Mitarbeit von David Lanzerath)

Arm und Reich – Zur Einführung ... 9 Stefan Hradil

Armut in einer modernen Gesellschaft ... 15 Bernd Fuhrmann

Die Wahrnehmung von Reichtum und Armut im Spätmittelalter

und im frühen 16. Jahrhundert ... 25 Michael Rothmann

Korreferat zu Bernd Fuhrmann ... 49 Petra Schulte

„Arm und Reich“ in der politischen Theorie des franko-burgundischen Spätmittelalters ... 53 Sven Rabeler

Pauperismus in der Vormoderne? Beobachtungen zur Existenz und Wahrnehmung der „labouring poor“ in Städten

des 14. bis 16. Jahrhunderts ... 75 Werner Rösener

Korreferat zu Sven Rabeler ... 107 Philipp Robinson Rössner

Armut durch Geldentwertung? Von der Deflation über die Devaluation zur Rebellion im Zeitalter der Reformation

(1450–1550) ... 113 Andreas Exenberger

Immer dieselbe Geschichte? Die Verteilung von Vermögen

in langfristiger historischer Perspektive ... 135

(7)

6 Inhaltsverzeichnis

Karl-Heinz Schmidt

Ökonomische Ungleichheit und sozialpolitische Ansätze

im Spiegel der ökonomischen Dogmengeschichte – mit Beispielen

aus dem 19. und 20. Jahrhundert ... 155 Rainer Metz

Korreferat zu Karl-Heinz Schmidt ... 171 Hans-Christian Petersen

Gentrifizierung in historischer Perspektive? Aufwertung

und Verdrängung in St. Petersburg, Wien und London (1850–1914) ... 177 Ludwig Steindorff

Korreferat zu Hans-Christian Petersen ... 207 Roman Sandgruber

Die 1.000 reichsten Österreicher im Jahr 1910.

Verteilungsstatistische und kollektivbiographische Auswertungen ... 213 Jörg Baten

Korreferat zu Roman Sandgruber ... 243 Wilfried Rudloff

Würdigkeit, Bedürftigkeit, Wertigkeit. Zum Wechselspiel von Armutsbildern, Armutspolitiken und Armutsregimen

in Deutschland 1880–1960 ... 249 Ewald Frie

Korreferat zu Wilfried Rudloff ... 267 Welf Werner

Von der Einkommensarmut zur sozialen Ausgrenzung.

Sozialpolitischer Paradigmenwechsel im späten 20. Jahrhundert ... 271 Jana Geršlová

„Arm und reich“. Soziale Entwicklung in der Tschechoslowakei

vor und nach 1989 ... 293 Autorinnen und Autoren ... 303

(8)

VORWORT

Die Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (GSWG) hatte ihre Mitglie- der und alle interessierten Kolleginnen und Kollegen zu ihrer 24. Arbeitstagung vom 16. bis 19. März 2011 nach Bonn eingeladen. Das Thema lautete „Arm und Reich“. Der vorliegende Band enthält die Vorträge und Korreferate. Sie wurden für den Druck überarbeitet, teils erweitert, und mit Fußnoten versehen. Auf Grund un- vorhersehbarer Umstände verzögerte sich die Drucklegung. Ich danke allen, die am Zustandekommen des Bandes mitwirkten, insbesondere den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Abteilung Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, für ihre Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung der Tagung, namentlich Herrn Simon Backovsky sowie Frau Dr. Regine Jägers, Frau Dr. Tanja Junggeburth und Frau Annika Wederhake, für die Betreuung der Manuskripte, sowie der Rheini- schen Friedrich-Wilhelms-Universität, dass sie die Tagung im schönen Ambiente des Fest- und Senatssaals ermöglichte, und der Philosophischen Fakultät sowie der Wissenschaftsförderung des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes für finanzi- elle Unterstützung.

Bonn, im Januar 2015 Günther Schulz

(9)
(10)

ARM UND REICH – ZUR EINFÜHRUNG Günther Schulz, Bonn

unter Mitarbeit von David Lanzerath, Bonn

Die Analyse von Arm und Reich und damit von einem der wichtigsten Faktoren sozialer Ungleichheit gilt als Königsweg sozialwissenschaftlicher, sozial- und wirt- schaftshistorischer Forschung: Verteilungsdisparitäten, Standesunterschiede, Klas- sengegensätze, Schichtungsdivergenzen – politisch auf die Zeit der Industrialisie- rung bezogen: die Soziale Frage. 2008 thematisierte beispielsweise der 47. Deut- sche Historikertag in Dresden unter dem Oberthema „Ungleichheiten“ Prekarisie- rung, Gentrifizierung und die gesellschaftlichen Folgen der weltweiten Finanzkrise.

Auch wenn gegenwärtig soziale Konflikte in der deutschen wie internationalen Diskussion gegenüber religiösen und kulturellen in den Hintergrund getreten sind, bleibt die Divergenz von Arm und Reich der untergründige Bestimmungsfaktor, der – gelegentlich unsichtbar, gelegentlich offensichtlich – Themen wie Fremdenfeind- lichkeit, religiöse, kulturelle und gender-Gegensätze bestimmt und ihnen Gewicht und Brisanz gibt.1 Darüber hinaus hat sich die schon seit langem anhaltende Zu- wanderung aus den armen in die reichen Staaten dramatisch verstärkt.

Die Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (GSWG) war deshalb gut beraten, sich anlässlich ihres 50-jährigen Bestehens dieses Themas anzuneh- men und dabei zugleich die Spannweite, Vielfalt und Einheit der Sozial- und Wirt- schaftsgeschichte in inhaltlicher, theoretischer und methodischer, räumlicher und zeitlicher Hinsicht zu nutzen.2 Immer schon waren diese Themen in der Geschichts- wissenschaft präsent:3 Zentrale, oft zeitgenössisch formulierte Sachverhalte waren bzw. sind hierbei der Pauperismus, die Folgen der Industrialisierung, die Entste- hung des modernen Wohlfahrtsstaates,4 politische Radikalisierung im Zeitalter der

1 Als jüngstes Beispiel sei hier nur die Diskussion über Thomas Pikettys Buch genannt: Capital in the Twenty-First Century. Cambridge 2014 (deutsch: Das Kapital im 21. Jahrhundert. Mün- chen 2014). Siehe dazu z. B. Jan-Otmar-Hesse: New „fundamental laws of capitalism“. Tho- mas Piketty and Economic History, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 101 (2014), S. 500–505.

2 David Lanzerath: Tagungsbericht „Arm und Reich. 24. Arbeitstagung der Gesellschaft für So- zial- und Wirtschaftsgeschichte, 16.3.2011–19.3.2011, Bonn“, http://www.hsozkult.de/confe- rencereport/id/tagungsberichte-3662 (Zugriff am 4.2.2015).

3 Beispielhaft seien hier nur aus der älteren, mit der GSWG besonders verbundenen Forschung genannt: Wilhelm Abel: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Deutschland. Göt- tingen 1972; Ders.: Massenarmut und Hungerkrisen im vorindustriellen Europa. Göttingen 1974; Werner Conze: Vom Pöbel zum Proletariat. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 41 (1954), S. 333–364.

4 Siehe z. B. Günther Schulz: Armut und Soziale Sicherung. Zwischen Versorgung und Versiche-

(11)

10 Günther Schulz

Extreme, die Konsequenzen der Globalisierung und die jüngsten Krisen der Ban- ken und der Staatsfinanzen, die Rolle von Bildung und der demographischen Ent- wicklung sowie die Frage nach der differenten Verteilung von Ressourcen und die In- und Exklusion von gesellschaftlichen Gruppen.5

Stefan Hradil (Mainz) thematisiert in seinem Eröffnungsbeitrag die unter- schiedlichen Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster von Armut in der modernen Gesellschaft. Sowohl in breiten Bevölkerungsschichten als auch in der Forschung sei Armut ein brisantes Thema, an dem sich die Geister scheiden. Besonders kont- rovers werde diskutiert, wer als „relativ arm“ gelte, da es dafür keine einheitliche Definition gebe. Auch die Frage, ob Armut eine eigene Gesellschaftsschicht konsti- tuiere, werde kontrovers beantwortet. Hradil erläutert die divergierenden Einschät- zungen. Als Adressaten der Armutsdebatte in Deutschland kennzeichnet er die Mit- telschicht, die sich aus Furcht vor sozialem Abstieg und zur Verteidigung eigener Wertvorstellungen „nach unten hin“ abgrenze. Nicht ohne Grund, so Hradil, sei die Zustimmung zu Thilo Sarrazins Thesen („Deutschland schafft sich ab“) in der Mit- telschicht besonders groß.

Die Herkunft heutiger Wahrnehmungen von Armut und Reichtum thematisiert Bernd Fuhrmann (Siegen). Basierend auf einer Analyse von städtischen Chroni- ken des Spätmittelalters und des frühen 16. Jahrhunderts kennzeichnet er das Ge- gensatzpaar „Arm und Reich“ als charakteristisches Abbild der innerstädtischen sozialen Differenzierung der damaligen Zeit und ordnet es neben Alter und Ge- schlecht den „drei fundamentalen Dimensionen der menschlichen Hierarchisie- rung“ zu. Anhand der untersuchten Quellen macht Fuhrmann darauf aufmerksam, dass im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit die alltägliche Armut in den städtischen Chroniken thematisch kaum aufgegriffen worden sei. Ebenso verhalte es sich mit der Wahrnehmung von generationslangem Reichtum, wohingegen ra- scher sozialer Aufstieg, verbunden mit Akkumulation von Reichtum und Erwerb hoher kommunaler Ämter, in den Chroniken häufig erwähnt und kritisch beurteilt worden sei. Am Beispiel von negativen obrigkeitlichen Bewertungen, u. a. in Bezug auf Bettler, zeigt Fuhrmann, dass sich die Armendebatten des Spätmittelalters so- wie die heutigen Diskussionen um Hartz IV durchaus ähnlich sind.

In Ergänzung der städtischen Perspektive von Fuhrmann betrachtet Petra Schulte (Trier) das Thema „‚Arm und Reich‘ in der politischen Theorie des späten Mittelalters“ aus höfischer Perspektive. Grundlage ihrer Untersuchungen sind Tu- gendlehren und Fürstenspiegel aus dem französischen Sprachraum des späten 13.

bis 15. Jahrhunderts. Schulte legt dar, dass Gerechtigkeit (iustitia) und sozialer Aus- gleich (aequitas) – zwei Kernprinzipien der politischen Ethik – im späten Mittelal- ter an den akzeptierten Unterschied zwischen Arm und Reich gebunden gewesen seien und zugleich das Nachdenken über das Gemeinwesen beeinflusst hätten. Die

rung, in: Reinhard Spree (Hg.): Geschichte der deutschen Wirtschaft im 20. Jahrhundert. Mün- chen 2001, S. 157–177.

5 Siehe dazu inzwischen Daron Acemoglu/James A. Robinson: Why Nations fail. The Origins of Power, Prosperity and Poverty. London u. a. 2012, die auf der Grundlage historisch-empirischer Untersuchungen vornehmlich auf die Faktoren institutionelle Stabilität, Eigentumsrechte und offener, inkludierender Wettbewerb verweisen.

(12)

11

Arm und Reich – Zur Einführung

Gefahr, die sich aus einer zu breiten Schere von Arm und Reich ergeben habe, sei von der Obrigkeit erkannt und mit gesetzlichen Mitteln zu beseitigen versucht wor- den. Allerdings sei die Umsetzung der postulierten Gerechtigkeit schwierig gewe- sen, was nicht zuletzt an der bestehenden ständischen Hierarchisierung und der Tatsache gelegen habe, dass dem König und dem Adel zwar ethisch-moralische Normen auferlegt waren, deren Missachtung aber kaum zu sanktionieren gewesen sei.Sven Rabeler (Kiel) analysiert die Existenz und Perzeption von Armen in der Vormoderne. Dabei geht er besonders den Strukturen spätmittelalterlicher Armut sowie der Frage nach, ob diese Armut zeitgenössisch nicht nur als individuelles bzw. moralisches Problem, sondern in ihrer sozioökonomischen Bedingtheit auch als Massenerscheinung der „labouring poor“ wahrgenommen wurde. Als zentrale These wird herausgestellt, dass „Pauperismus“ in seinen realen, mentalen und dis- kursiven Elementen nicht erst als Begriff im Zeitraum zwischen 1770 und 1850 hervortrat, sondern sich schon in früheren Epochen der Vormoderne auffinden ließ – wenngleich unter Variationen der sozialen Formen, der makroökonomischen Kontexte und der vorgenommenen Deutungen. Auch wenn es in der Regel an einem theoretisch-analytischen Zugang zu den Problemen der Armut im urbanen Milieu des Spätmittelalters noch gefehlt habe, sei, so Rabeler, der Begriff des „Pauperis- mus“ zur Bezeichnung spezifischer Strukturen vormoderner, vorindustrieller Armut und als frageleitendes Arbeitsinstrument bereits mit Blick auf das Spätmittelalter produktiv.

Der Frage, ob Armut im ausgehenden Mittelalter durch Geldentwertung ent- standen sei und somit die Dichotomie „Arm und Reich“ begünstigt habe, geht Phi- lipp Robinson Rössner (Leipzig) nach. Als Hypothese nimmt er an, dass ein Man- gel an gutem und wertstabilem Klein- und Mittelgeld zahlreiche Produzenten be- einträchtigt habe, wodurch der Ablauf des Wirtschaftsprozesses gestört worden sei, mit erheblichen gesellschaftlichen Folgen. Nicht zufällig habe es eine Koinzidenz zwischen Unordnung im Geldwesen sowie bäuerlichen und städtischen Unruhen in der Zeit zwischen der Agrardepression des 14./15. Jahrhunderts und der „Preisrevo- lution“ im 16. Jahrhundert gegeben. Rössner stützt seine Grundannahme auf fol- gende Argumentationskette: Trotz eines Booms in der zentraleuropäischen Edelme- tallgewinnung sei es im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation nach 1500 infolge hoher Silberexporte zu Silberknappheit gekommen. Diese Unterversorgung mit Zahlungsmitteln habe in Zeiten des Bevölkerungsaufschwungs und der real- wirtschaftlichen Expansion zu Deflation geführt. Zudem habe eine Unordnung im Geldwesen, hervorgerufen durch Münzverschlechterung und Mangel an „gutem“

Münzgeld, wertstabile Zahlungsmittel verknappt. Infolge sinkender Reallöhne sei in weiten Bevölkerungskreisen große Unzufriedenheit entstanden und habe sich schließlich in den zahlreichen Aufständen und sozialreformatorischen Bewegungen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit entladen.

Zentraler Gegenstand des Beitrags von Andreas Exenberger (Innsbruck) ist das Problem der globalen Verteilung von Vermögen in langfristiger historischer Perspektive. Ausgehend von einer Diskussion der Frage, wie bestimmte Vertei- lungsmuster zum Problem werden und welche Strategien Gesellschaften entwickelt

(13)

12 Günther Schulz

haben, mit diesen Problemen umzugehen, schlägt Exenberger in seiner komparati- ven Längsschnittanalyse eine Brücke zwischen mehreren empirischen Zugängen hinsichtlich der Frage nach der Wohlstandsverteilung. Neben aktuellen Verteilungs- mustern werden dabei speziell jene im Europa des 19. Jahrhunderts und in koloni- alen Gesellschaften thematisiert und mit außereuropäischen Befunden kontrastiert.

Die Frage, ob Vermögensverteilung „immer dieselbe Geschichte“ sei, beantwortet Exenberger mit „Nein“, schränkt dies allerdings ein: Die Geschichte der Vermö- gensverteilung gestalte sich in vielen wichtigen Nuancen in der Zeit und im Raum immer wieder anders, und auch die großen Trends seien keineswegs ungebrochen.

Zugleich lasse sich jedoch eine erklärungskräftige große Erzählung formulieren, die auch eine Kontextualisierung aktueller Zustände ermögliche und Optionen für weitere Entwicklungen aufzeige.

Der Fragestellung, welche Ursachen ökonomischer Ungleichheit Ökonomen des 19. und 20. Jahrhunderts erkannten und was sie empfahlen, um Ungleichheit zu verringern, geht Karl-Heinz Schmidt (Paderborn) nach. Sein Fokus richtet sich auf die Analyse der Sichtweisen von Johann Heinrich von Thünen (1783–1850), Gustav Schmoller (1838–1917), Lujo Brentano (1844–1931) und Walter Eucken (1891–1950). Schmidt folgert: Im Spiegel der Dogmengeschichte erscheine ökono- mische Ungleichheit als empirisch-historisches und theoretisches Problem. Die Au- toren hätten als Kennzeichen der Sozialen Frage geringe Arbeitsproduktivität, nied- rige Lohnsätze, Angebotsüberschüsse am Arbeitsmarkt sowie das niedrige Niveau der Nachfrage auf den Gütermärkten herausgearbeitet. Ferner seien der unter- schiedliche Organisationsgrad des Arbeitskräfteangebots und die Nachfrage nach Arbeitskräften zu nennen. Gemäß der wirtschafts- und sozialpolitischen Konzepte ihrer Zeit hätten die Autoren in unterschiedlichen Formen und Kombinationen Maßnahmen empfohlen, die der Linderung der „Sozialen Frage“ und der damit verbundenen ökonomischen Ungleichheit dienen sollten. Dabei sei auffällig, dass auch Autoren, die dem Liberalismus nahe standen, angesichts des fortgeschrittenen Konzentrationsprozesses über sozialpolitische Maßnahmen hinaus Eingriffe in die Eigentumsordnung befürwortet hätten. Wie notwendig solche Maßnahmen sein können, hätten schließlich wohlfahrtsökonomische und verteilungstheoretische Untersuchungen gezeigt, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchge- führt wurden.

Nachfolgend stellt Hans-Christian Petersen (Mainz/Oldenburg) die Grund- züge seines Habilitationsvorhabens vor: Ziel sei eine Untersuchung der Sozialen Frage im städtischen Raum des Russländischen Imperiums, wobei er die Betrach- tung struktureller Faktoren mit einer Analyse von individuellem Handeln und dem Entstehen sozialer Räume verbinden wolle. Am Beispiel von Sankt Petersburg von 1850 bis 1914 fragt Petersen, inwieweit die Benachteiligten der Gesellschaft nicht nur Opfer ungleicher sozialer Verhältnisse waren, sondern sich auch – individuell und gemeinschaftlich – durch Deutungen und Aneignungen des sozialen Raums gegen ihre Randständigkeit zur Wehr setzten. Mit seinen Forschungsergebnissen erhofft sich Petersen einerseits, die bislang verkürzte und eher grobkörnige Sicht- weise der Wissenschaft auf die sozialen Randbezirke von Städten erweitern und die Bewohner der Armutsviertel als handelnde Menschen in die allgemeine öffentliche

(14)

13

Arm und Reich – Zur Einführung

Wahrnehmung rücken zu können. Andererseits gehe es ihm in seiner Untersuchung um den Versuch, durch Verknüpfung sozialgeschichtlicher Ansätze und neuerer kulturgeschichtlicher Zugänge einen substantiellen Beitrag zur aktuellen Debatte der Historiker und Historikerinnen über die Soziale Frage zu leisten.

In seinem Vortrag über die „1.000 reichsten Österreicher im Jahr 1910“ legt Roman Sandgruber (Linz) die Ergebnisse seiner verteilungsstatistischen und kol- lektivbiographischen Analyse der Finanzelite der Habsburgermonarchie dar.6 Von der Ausgangsfrage geleitet, wer unter finanziellen Aspekten die „High Society“ in Österreich bildete und welchen Anteil diese oberste Spitze der Einkommensbezie- her an den Gesamteinkommen in Wien und Niederösterreich sowie im Gesamtstaat hatte, entwirft Sandgruber auf der Grundlage detaillierter makroökonomischer Un- tersuchungen ein farbiges Bild der Honoratioren Österreichs. Als Quellen dienen dabei Einkommenssteuerlisten, die zuvor in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Österreichs noch nicht hinreichend genutzt worden waren.

Der Wechsel von Armutsbildern, -politiken und -regimen in Deutschland in der Zeit von 1880 bis 1960 ist das Thema von Wilfried Rudloff (Kassel). Er stellt die These auf, Armutsbilder seien aufgrund ihrer normativen Aufladung meist durch eine binäre Codierung gekennzeichnet, die sie anschlussfähig für die administrati- ven Unterscheidungen der Sozialverwaltungen mache. Im Wandel der armutspoli- tischen Epochen lasse sich dabei eine Sequenz charakteristischer Leitdifferenzen beobachten. Als Abfolge normativer und zugleich administrativer Unterscheidun- gen kennzeichnet Rudloff moralpolitische („Würdigkeit“), sozialpolitische („Be- dürftigkeit“) und biopolitische („erbbiologische Wertigkeit“) Kategorien. Aus den Wechselwirkungen der drei verwandten Analysegesichtspunkte (Armutsbilder, -po- litiken, -regime) ergebe sich in den genannten Unterscheidungskategorien auf der einen Seite eine Widerspiegelung wirkungsstarker Armutsbilder. Auf der anderen Seite konfigurierten die drei Unterscheidungskategorien zugleich die Armutsre- gime als Summe und Essenz der Armutspolitik: Lösung der Sozialen Frage durch erstens soziale Disziplinierung, zweitens soziale Sicherung und drittens sozialutili- taristische Aussonderungen. Im ersten Fall sei Armutspolitik Ausdruck der Durch- setzung moderner Arbeitsgesellschaften (Kaiserreich), im zweiten des wohlfahrts- staatlichen Legitimationsbedarfs moderner Staatlichkeit (Weimarer Republik/Bun- desrepublik), im dritten eines den Eigenanspruch individueller Integrität negieren- den Sozialrassismus (NS-Staat).

Welf Werner (Bremen) analysiert den Paradigmenwechsel in der Sozialpoli- tik. Darin beschreibt er den Übergang von einer Subventions- zu einer veritablen Strukturpolitik in den westlichen Staaten seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- derts. Als Ursache für den Wandel der Betrachtungsweise kennzeichnet er den dra- matischen Anstieg der Arbeitslosenzahlen in den letzten drei Jahrzehnten des 20.

Jahrhunderts. Eine bloß monetäre Arbeitslosenunterstützung habe die Reintegra- tion der Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt erschwert. Darüber hinaus hätten die stei- genden Arbeitslosenzahlen auf lange Sicht die Staatsfinanzen unter Druck gesetzt

6 Siehe hierzu jetzt Roman Sandgruber: Traumzeit für Millionäre. Die 929 reichsten Wienerin- nen und Wiener im Jahr 1910. Wien u. a. 2013.

(15)

14 Günther Schulz

und die Tragfähigkeit der traditionellen Unterstützungsprogramme und -philoso- phien in Frage gestellt. So sei der Paradigmenwechsel der Sozialstaaten zu einem Großteil ökonomischen Notwendigkeiten geschuldet. Aber auch das menschliche Bedürfnis, soziale Schieflagen in den Griff zu bekommen, habe nach Ansicht von Werner eine elementare Rolle gespielt. Wichtigstes Betätigungsfeld des Staates sei eine aktive Arbeitsmarktpolitik, die die Inklusion der Arbeitslosen in den Arbeits- markt fördere. Als Beispiel für eine solche Integrationsmaßnahme nannte Werner die Bildungspolitik.

Abschließend ergänzt Jana Geršlová (Ostrava) den Beitrag von Werner um eine internationale Perspektive, indem sie die soziale Entwicklung in der Tschecho- slowakei vor und nach 1989 analysiert, wobei ihr Schwerpunkt auf dem Transfor- mationsprozess nach dem Ende des Kommunismus liegt. Sie beschreibt die erfolg- reichen sowie die gescheiterten sozialpolitischen Projekte der Jahre zwischen 1989 und 1992 und konstatiert, dass die Tschechoslowakei im Vergleich mit anderen post-kommunistischen Ländern eine günstigere wirtschaftliche Ausgangslage ge- habt habe. Diese habe die Gesellschaft freilich nicht vor einer Verschärfung regio- naler und sozialer Ungleichheit, Einkommensgefällen, hohen Arbeitslosenzahlen und massiver Armutsproblematik bewahrt.

Die Referate und Korreferate, die von lebhaften Diskussionen begleitet waren, zeigen aufgrund ihrer großen zeitlichen Spannweite vom Spätmittelalter bis zur jüngsten Zeitgeschichte, der Brückenbildung zwischen der Sozial- und Wirtschafts- geschichte und in der Verbindung von umfassenden mit beispielhaft auswählenden, von theoretisch-systematischen sowie empirischen Beiträgen den Form- und In- haltswandel der Diskussionen über „Arm und Reich“. Sie verweisen damit die ent- sprechenden Diskussionen, die allzu oft von zeitgenössischer Selbstbezüglichkeit geprägt sind, zugleich auch darauf, dass die historische Betrachtung ein großes Re- servoir und Potenzial von Strategien und Möglichkeiten für Lösungen – freilich verbunden mit je spezifischen Konsequenzen – bereithält.

(16)

ARMUT IN EINER MODERNEN GESELLSCHAFT1 Stefan Hradil, Mainz

Armut ist in modernen Gesellschaften ein brisantes Thema. Die Konflikte um Ar- mut markieren die Grenzen zwischen Parteien und Weltanschauungen. Es gibt da- bei weniger Streit um die Fakten, die recht gut bekannt sind. Es sind die Wahrneh- mungen und Bewertungen der modernen Armut, die weit auseinander gehen. Des- wegen soll in diesem Beitrag vor allem auf die kontroversen Interpretationen der Armut und auf deren politische Relevanz eingegangen werden.

Ganz neu ist der Streit um die Armut nicht. Am Thema Armut scheiden sich die Geister seit Jahrhunderten. Spätestens seit dem Aufkommen des Bürgertums be- werten die Kassenwarte und jene, die Tüchtigkeit und Leistung für sich in Anspruch nehmen, Armut anders als viele Arme und als karitative Einrichtungen. Ein kontro- verser Armutsdiskurs ist also nichts Neues.

Manches spricht aber dafür, dass sich in den letzten Jahren die Debatte polari- siert hat und extreme Meinungen zunehmen. In privaten Stellungnahmen und in der öffentlichen bzw. der veröffentlichten Meinung werden die Töne schärfer. Im Fol- genden sollen diese kontroversen Meinungsäußerungen zur Armut dargestellt, ein- geordnet und, soweit wissenschaftlich begründbar, beurteilt werden.

1. WAS VERSTEHT MAN UNTER ARMUT UND WIE „SCHLIMM“ IST ARMUT?

Menschen laufen heute in entwickelten Gesellschaften nur noch selten Gefahr, in- folge schlechter Lebensumstände zu verhungern, zu erfrieren oder unmittelbar krank zu werden. Daher besteht Einigkeit darüber, dass Armut in modernen Gesell- schaften nur noch selten „absolute“ Armut ist. Kaum jemand bestreitet auch, dass

„absolute“ Armut moralisch abzulehnen ist und für die gesamte Gesellschaft Nach- teile mit sich bringt, da sich beispielsweise infolgedessen Kriminalität und Kon- flikte häufen.

Für moderne Gesellschaften gilt die „relative“ Armut als typisch. „Relativ“

wird sie deshalb genannt, weil sie sich am Lebensstandard und an den Maßstäben der jeweiligen Gesellschaft bemisst. Wer in Schweden als relativ arm gilt, zählt in Portugal nicht unbedingt zu den Armen. Auch über die Definition „relativer“ Armut besteht weithin Einigkeit. Eine Definition der Europäischen Union aus dem Jahre 1984 wird überwiegend akzeptiert: Hiernach werden die als arm angesehen, die

1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine überarbeitete Fassung des Beitrags Stefan Hradil:

Der deutsche Armutsdiskurs, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 51–52/2010, S. 3–8.

(17)

16 Stefan Hradil

„über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar ist.“ Unter diesem Minimum wird immer weniger ein bestimmter materieller Lebensstandard, sondern die Teilhabe an wesentlichen ge- sellschaftlichen Lebensbereichen verstanden.2

Die Kontroversen beginnen aber schon bei der Frage, wie gravierend die „rela- tive“ Armut ist, die mit empirischen Operationalisierungen festgestellt wird. Übli- cherweise gelten in der Bevölkerung und im öffentlichen Diskurs die Menschen als

„relativ“ arm, die so wenig Einkommen haben, dass sie berechtigt sind, öffentliche Leistungen zur Armutsbekämpfung (also etwa „Hartz IV“) in Anspruch zu nehmen.

Dieser Einschätzung stimmen auch die meisten Sozialwissenschaftler zu, weil für sie, wie schon Georg Simmel festhielt, Hilfsbedürftigkeit den Kern der Armut dar- stellt. Vielen Finanzpolitikern leuchtet es jedoch gar nicht ein, Empfänger von ar- mutsbekämpfenden Maßnahmen als arm anzusehen. Denn deren Armut wird ja bekämpft, und zwar mit vielen Steuergeldern. Spätestens dann wird bekämpfte Ar- mut von vielen Finanzverantwortlichen nicht als Armut angesehen, wenn Gerichte, die öffentliche Meinung oder Sozialminister dem Finanzministerium eine Erhö- hung von armutsbekämpfenden Leistungen abtrotzen, wenn demzufolge mehr Niedrigverdiener anspruchsberechtigt und so ausgerechnet eine intensivierte Ar- mutsbekämpfung dazu führt, dass die Zahl der „relativ Armen“ zunimmt.

Meist beruhen die öffentlich diskutierten Armutszahlen jedoch nicht auf der

„Sozialhilfegrenze“. Vielmehr gelten alle Menschen als arm, deren „bedarfsge- wichtetes Pro-Kopf-Haushaltseinkommen“ („Äquivalenzeinkommen“) weniger als 60 Prozent des mittleren3 Einkommens beträgt. Diese Messlatte wird in den Medien meist unhinterfragt übernommen, obwohl sie unter Fachleuten stark umstritten ist.

Viele sehen darin schlichtweg die Armutsgrenze. Unter anderem deshalb, weil sie international akzeptiert ist und daher die Armut in Deutschland mit der in anderen Ländern gut verglichen werden kann.

Andere Wissenschaftler machen jedoch darauf aufmerksam, dass jede „Pro- zentgrenze“ im Grunde willkürlich ist. Zudem misst sie soziale Ungleichheit und nicht Armut. Die Grenze sagt nämlich nichts über Mindestbedarfe und Ausschluss aus bestimmten Lebensbereichen aus, sondern nur über einen bestimmten Abstand zur Mitte. In einer reichen Gesellschaft, so wird kritisiert,4 werden Menschen mit 60 Prozent des mittleren Einkommens recht gut dastehen. In einer Gesellschaft, in der alle hungern, sei nach der 60-Prozent-Grenze dagegen niemand arm. Dieser Armutsgrenze zufolge habe es auch in der ehemaligen DDR kaum Armut gegeben,

2 Vgl.: Stefan Hradil: Soziale Ungleichheit in Deutschland. 8. Aufl., Wiesbaden 2001, S. 242.

3 Zur Bestimmung des mittleren Einkommens wird im Rahmen der Armutsforschung seit eini- gen Jahren der Median und nicht länger das arithmetische Mittel herangezogen. Das Median- einkommen ist so definiert, dass die Hälfte der Bevölkerung ein höheres, die andere Hälfte ein geringeres Einkommen zur Verfügung hat. Der Median und nicht mehr das arithmetische Mittel gilt als Bezugsgröße, weil letzteres durch die extrem hohen Einkünfte weniger Einkommensbe- zieher mittlerweile so sehr nach oben getrieben wird, dass das arithmetische Mittel mit der

„Mitte der Gesellschaft“ nicht mehr viel zu tun hat.

4 Vgl.: Walter Krämer: Werden die Deutschen immer ärmer?, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Po- litik 54 (2005), S. 395–397.

(18)

17

Armut in einer modernen Gesellschaft

obwohl dort viele Bezieher von Mindestrenten auch nach Maßstäben der DDR

„zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel“ hatten. Denn in der DDR waren die Einkommen verhältnismäßig gleich verteilt. Praktisch niemand verdiente weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens.

Gegen die üblicherweise publizierten Armutszahlen wird auch tiefer gehende Kritik laut: Wer eine bestimmte Einkommensgrenze als Armutsgrenze für alle her- anzieht, einerlei ob er die „Sozialhilfegrenze“ oder eine „Prozentgrenze“ verwen- det, der unterstellt im Grunde, dass alle Menschen gleich (gut) mit Geld umgehen.

Sonst wäre nicht zu rechtfertigen, dass unterhalb eines für alle gleichen Einkom- mens die Armut beginnt. In der Realität gibt es jedoch Menschen, die rational und sparsam wirtschaften, und Menschen, die sich unwirtschaftlich verhalten. Die kon- kreten Lebensumstände der Einkommensschwachen, die zum Beispiel viel Geld in Alkohol oder elektronisches Spielzeug umsetzen, sind selbstredend schlechter als die Lage der Sparsamen. Jede fixe Armutsgrenze, so der Einwand, gibt daher wenig Auskunft über die konkrete Lebenslage. Überlegungen wie diese veranlassten denn auch die Europäische Union und die Bundesregierung in ihren letzten Armuts- berichten,5 Menschen die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens ver- dienen, nicht als „arm“, sondern als „armutsgefährdet“ zu bezeichnen.

In ähnlicher Weise wird gegen feste Armutsgrenzen eingewendet, dass die

„Ausgabezwänge“ in der Stadt höher als auf dem Land, als isolierter Single höher als innerhalb eines Netzwerkes sind, etc. Auch in dieser Hinsicht besage die Ar- mutsgrenze also wenig über die konkrete Lebenslage.

Sind diese Kontroversen eher akademischer Natur, so wird in der Bevölkerung oft viel grundsätzlicher darüber gestritten, wie „schlimm“ relative Armut als solche sei. Die einen verweisen darauf, wie viel besser doch die relativ Armen im reichen Europa als die absolut Armen in Afrika leben oder in Notzeiten auch in Europa lebten. Sie stoßen sich beispielsweise daran, dass in entwickelten Gesellschaften heute viele übergewichtige „relativ Arme“ in gut geheizten Wohnungen vor dem Fernsehapparat sitzen, während absolut Arme südlich der Sahara verhungern oder absolut Arme hierzulande noch in der Nachkriegszeit erfroren.

Andere vertreten die gegenteilige Meinung, dass relative Armut in reichen Ge- sellschaften schlimmer als absolute Armut in armen Gesellschaften sei. Vor allem deshalb, weil Armut dort „normal“ sei und niemanden ausschließe. Die reiche Ge- sellschaft jedoch zeige den Armen, wie vielfältig ihre Möglichkeiten sein und wie anders ihre Existenz aussehen könnte. In reichen Gesellschaften werde die Vertei- lung von Geld und anderen knappen begehrten Gütern mit dem Satz legitimiert:

„Jeder ist seines Glückes Schmied.“ Weil Armen in reichen Gesellschaften also we- nig anderes übrig bleibt, als die Schuld für ihre Situation bei sich selbst zu suchen, gehe Armut mit Verachtung und geringer Selbstachtung einher. Armut schäme sich und ziehe sich zurück, während Reichtum selbstbewusst auftrete und die Normen setze, an denen sich die Armut zu messen habe. Es sei somit der Reichtum, der die Armut schaffe. Deshalb sei Armut gerade in reichen Ländern besonders fühlbar.6

5 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hg.): Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Berlin 2008.

6 Vgl.: Franz Hamburger: Abschied von der interkulturellen Pädagogik. Plädoyer für einen Wan-

(19)

18 Stefan Hradil

Auch die Entwicklungstendenz der Armut ist strittig: Die einen – hauptsächlich Ökonomen und Liberale – sagen, hier werde stark dramatisiert.7 Selbst wenn man die üblichen empirischen Grenzziehungen akzeptiere, so habe seit den 1990er Jah- ren Armut kaum zugenommen und werde in den kommenden Jahren im Zuge des demografischen Wandels zusammen mit der Arbeitslosigkeit, ihrer wichtigsten Ur- sache, abnehmen. Die andern – im Wesentlichen Linke, die meisten Sozialdemo- kraten und viele religiös Eingestellte – wehren sich gegen diese Nonchalance. Wenn alle Prognosen besagen, dass soziale Ungleichheit zunehme, so wird argumentiert, dann werde auch Armut nicht geringer werden. Armut sei im Gegenteil dabei, sich zu verfestigen und zu „vererben“.8

Dieses Argument enthält schon eine Antwort auf die Frage, inwieweit sich im Gefolge der Armut eine arme Unterschicht herausbildet. Hier werden die Töne in der Debatte um die Armut nicht selten schrill. Mit parteipolitischer Positionierung und Instrumentalisierung allein ist diese Schärfe nicht zu erklären. Es geht im Un- tergrund vielmehr um finanzielle und kulturelle Konsequenzen, nicht zuletzt für die nicht arme Bevölkerung.

2. GIBT ES EINE UNTERSCHICHT? WAS MACHT SIE AUS?

WIE SOLLTEN WIR MIT IHR UMGEHEN?

Vor einiger Zeit ist Kurt Beck, Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz, mit der Behauptung in die Schlagzeilen geraten, in Deutschland habe sich eine „Unter- schicht“ entwickelt, in der Aufstiegsbestrebungen und entsprechende Bemühungen kaum noch zu finden seien.9 Als „Unterschicht“ wurden in der darauffolgenden Kontroverse denn auch Menschen bezeichnet, die nicht nur einkommensschwach seien, sondern auch eigene Denk- und Verhaltensweisen bis hin zu einer eigenen Kultur ausgebildet hätten. Dieses Verständnis von einer „Unterschicht“ geht über die Feststellung einer bloßen Einkommensarmut weit hinaus.

Die Meinungen, inwieweit Arme in Deutschland eine eigene Schicht darstellen, gehen stark auseinander. Die vorfindlichen Auffassungen lassen sich dabei in vier Stufen wachsender Radikalität einteilen. Erstens findet sich die Meinung, von einer Unterschicht sei bislang kaum etwas zu entdecken. Schon allein deshalb sei der diskriminierende Begriff zu vermeiden.10 Zur Begründung wird unter anderem an- geführt, dass die meisten Armen hierzulande zu kurze Zeit in Armut leben, um sich daran anzupassen und eigene Verhaltensweisen auszubilden.

Will man als Wissenschaftler zu dieser Auffassung Stellung nehmen, so ist zu sagen, dass die verfügbaren Daten diese Behauptung zum Teil durchaus stützen, wenn auch in abnehmender Tendenz. So waren im Jahr 2006 nur noch 37 Prozent

del sozialpolitischer Konzepte (Edition Soziale Arbeit). München 2009.

7 Vgl.: Die Tricksereien machen mich fassungslos, in: Süddeutsche Zeitung vom 26.5.2008.

8 Vgl.: In Deutschland wird Armut vererbt, in: Der Tagesspiegel vom 6.10.2007.

9 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 8.10.2006.

10 Vgl: Der Begriff Unterschicht ist diskriminierend und falsch, in: Frankfurter Rundschau vom 17.10.2006.

(20)

19

Armut in einer modernen Gesellschaft

der Einkommensarmen vorübergehend arm, 2002 noch volle 52 Prozent.11 Die Zahl der kurzfristig Armen, die mangels Anpassungszeit kaum eine eigene Armutsmen- talität und -kultur ausbilden können, also auch keine Unterschicht bilden können, ist also durchaus beachtlich, sinkt aber.

Zweitens findet sich die gemäßigte Auffassung von einer armen Unterschicht, die, wie oben erwähnt, auch Kurt Beck vertrat. Diese Meinung beschränkt sich darauf zu behaupten, es herrsche heute in der armen Bevölkerung Resignation vor.

Insbesondere Aufstiegsbestrebungen seien immer seltener zu finden. Diese These lässt es offen, ob (länger andauernde) Armut den Ursprung der geringen Aufstiegs- bemühungen bildet oder ob umgekehrt Resignation und geringe Aufstiegsbemü- hungen die Quelle der Einkommensarmut darstellen. Kurt Beck empfahl bekannt- lich einem Arbeitslosen, der sich über sein Schicksal beklagte, sich zu rasieren und anständig anzuziehen, dann habe er in spätestens zwei Wochen eine Stelle.12 Er unterstellte also, dass das Verhalten Armut zumindest verlängern könne.

Eine wissenschaftliche Prüfung dieser Behauptungen ergibt, dass an der These von einer resignierten Unterschicht mit Sicherheit „etwas dran“ ist. Insbesondere die vielen gering Qualifizierten unter den Armen haben heute allen Grund, ihre Beschäftigungs- und Aufstiegschancen negativ einzuschätzen. Die Zahl der Ar- beitsplätze für gering Qualifizierte ist gerade in Deutschland sehr gesunken. Ein Fünftel von ihnen ist in Westdeutschland, fast ein Drittel von ihnen ist in Ost- deutschland arbeitslos. Gering qualifizierte Handarbeit wird mehr und mehr über- flüssig, und so fühlen sich die Betroffenen auch. Für Aufstiege sind Qualifikations- nachweise unerlässlich geworden. Weiterbildung wird jedoch für Unqualifizierte wesentlich seltener angeboten als für Qualifizierte. Und die hohe soziale Selektivi- tät im deutschen Bildungswesen ist auch nicht geeignet, in der „Unterschicht“ Zu- versicht und Anstrengungen zu stärken, „damit es die Kinder einmal besser haben“.

Drittens meint eine viel weiter gehende Auffassung von „Unterschicht“, dass sich innerhalb der armen Bevölkerung, ausgehend von längerfristig erfahrener Ar- mut, eine ganze Kultur und ein geschlossenes Syndrom von Denk- und Verhaltens- weisen entwickelt habe, die in vielerlei Hinsicht problematisch sind, nicht nur im Hinblick auf sozialen Aufstieg. So wird von perfektionierten Fertigkeiten gespro- chen, Sozialhilfe zu nutzen und auszunutzen. Der Empfang von Sozialleistungen werde einer Erwerbstätigkeit vorgezogen, weil der Lohnabstand zu gering sei, weil Schulden und fällige Unterhaltszahlungen vom Lohn abgezogen würden, etc. Es werden Dauerfernsehen am helllichten Tag, vernachlässigte Kinder, ungesunde Er- nährungsweisen, Überschuldung, ein Mangel an Vorbildern diagnostiziert.13

Im Lichte der verfügbaren empirischen Befunde trifft auch diese Sichtweise der Unterschicht zweifellos zu, aber seltener als die vorige. Sie trifft vor allem dort die Realität, wo lokal homogene Stadtviertel von Armen und Langzeitarbeitslosen entstanden sind, wo negative Vorbilder dominieren und sich entsprechende Ab-

11 Statistisches Bundesamt (Hg.): Datenreport 2008. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland. Bonn 2008, S. 171.

12 Vgl.: Björn Hengst/Carsten Volkery: Waschen und Rasieren, dann kriegen Sie auch einen Job, 12.12.2006, www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,454389,00.html (Zugriff am 15.5.2012).

13 Vgl. Gabor Steingart: Die neuen Proleten, in: Der Spiegel vom 16.9.2006.

(21)

20 Stefan Hradil

wärtsspiralen herausbilden. Wo Kinder keine Person mehr kennen, die einer gere- gelten Arbeit nachgeht, und vielleicht auch niemanden mehr haben, der morgens früh mit ihnen aufsteht, werden sie nicht mehr lange die Schule besuchen und später kaum erwerbstätig sein. In den angelsächsischen Sozialwissenschaften hat sich für dieses lokal und kulturell verfestigte Syndrom einer sozial erblichen Armut der Ausdruck „underclass“ durchgesetzt.14 In Deutschland gibt es noch nicht viele die- ser Quartiere. Dazu hat im Übrigen das Integrationsprogramm „Soziale Stadt“ viel beigetragen. Immer wieder wird Berlin-Neukölln als typisches Unterschicht-Quar- tier genannt, nicht zuletzt durch die lauten Rufe des dortigen Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky.

Die eben umrissene dritte Sichtweise der „Unterschicht“ erachtet die Einstel- lungen und Verhaltensweisen der „Unterschicht“-Mitglieder als problematisch für diese Menschen, aber auch als schädlich für andere. Meist wird unterstellt, dass es die üblen Lebensumstände sind, die Menschen in ihr Verhalten drängen, dass also (frei nach Karl Marx) „das Sein das Bewusstsein“ prägt. Das sei vor allem dann zu erwarten, wenn Menschen schlechten Lebensbedingungen relativ lange ausgesetzt sind. Diese Auffassung von „Unterschicht“ unterstellt also nicht, dass die Men- schen selbst schuld an ihrer Misere sind.

Brisant ist diese Auffassung dennoch: Wer eine kulturell sich verfestigende Un- terschicht sieht, deren „Vererbung“ im Gange ist, glaubt kaum an die Wirkung von direkten Finanzhilfen und lehnt deren Erhöhung eher ab. Sie scheinen die Men- schen noch weiter in ihre problematische Unterschichtkultur hinein zu treiben. Es sind dagegen personalintensive Familienhilfen, Schuldnerberatungen und Sozialar- beit, die Abhilfe versprechen. Diese Schlussfolgerung ist unbeliebt bei jenen, die den Sozialstaat an seinen direkten Finanzleistungen messen15und optimistischer- weise annehmen, dass sich mit erhöhten regelmäßigen Geldzuwendungen auch ein- geschliffene problematische Verhaltensweisen ändern werden.

Dagegen beklagte der Historiker Paul Nolte eine „fürsorgliche Vernachlässi- gung“ der Unterschicht.16 Er warnte vor der kontraproduktiven Wirkung gut ge- meinter laufender Finanzzuwendungen und schloss daran ein Plädoyer für die „Ver- mittlung kultureller Standards und Leitbilder“ an. Dieser Appell richtet sich nicht zuletzt an Mittelschicht und Bürgertum, die sich nach Noltes Meinung allzu oft untätig im Bewusstsein zurücklegen, mit ihren hohen Steuern doch viel für die Un- terschicht zu leisten.

Die vierte Sicht der Unterschicht unterstellt, dass deren Mitglieder sehr wohl die Entscheidungsfreiheit haben, weniger kalorienreich zu essen, ihren Kindern morgens ein Frühstück mit in die Schule zu geben, die Hausaufgaben der Kinder zu kontrollieren und sich um Erwerbsarbeit zu bemühen, statt sich auf die „Stütze“ zu verlassen. Wer problematisches Verhalten in der Unterschicht so sieht, diagnosti- ziert einen Mangel an (Selbst-)Disziplin und meint, dass die Mitglieder der Unter- schicht an ihrer Lage selbst schuld seien. Diese moralische Verurteilung der Unter-

14 Ken Auletta: The Underclass. New York 1982.

15 So z. B. Christoph Butterwegge/Michael Klundt/Matthias Belke-Zeng: Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland. 2. erw. und akt. Aufl., Wiesbaden 2008.

16 Vgl.: Das große Fressen, in: Die Zeit vom 17.12.2003.

(22)

21

Armut in einer modernen Gesellschaft

schicht ist keineswegs nur an Stammtischen zu hören. Sie wurde in zahlreichen Zeitschriften- und Fernsehbeiträgen vertreten.

So war im „Stern“ zu lesen: In den Problemgebieten „leben manche Leute schon in der dritten Generation von Sozialhilfe – dort herrscht Sozialhilfeadel – die wissen gar nicht mehr, wie das ist: morgens aufstehen, sich rasieren, vernünftig anziehen und zur Arbeit fahren. Die kassieren ihr Geld vom Staat, machen nebenbei noch ein bisschen Schwarzarbeit, wenn sie nicht sogar kriminell werden. Wenn wir etwas bewegen wollen, müssen wir diese Leute aus ihrer Lethargie wecken, ihnen klar machen, dass sie für sich, ihre Stadt und ihr Viertel selbst verantwortlich sind.“

17 – Weiterhin: „Armut macht also nicht krank. Der schlechte Gesundheitszustand der Unterschicht ist keine Folge des Geldmangels, sondern des Mangels an Diszip- lin. Disziplinlosigkeit ist eines der Merkmale der neuen Unterschichtkultur.“ – Schließlich: „Die Unterschicht verliert die Kontrolle, beim Geld, beim Essen, beim Rauchen, in den Partnerschaften, bei der Erziehung, in der gesamten Lebens führ- ung.“18

Wer die Unterschicht moralisch verurteilt, fordert in der Regel drakonische Maßnahmen: Nicht hilfreich erscheinen regelmäßige, unkonditionierte Geldzuwen- dungen oder persönliche Hilfen, die auf Freiwilligkeit bauen. Dagegen scheinen Kontrollen, Strafen, zweckgebundene Gutscheine oder pflichtgemäße Unterwei- sungen Abhilfe zu versprechen.

Aus der Sicht der empirischen Sozialforschung sind die abwertenden Diagno- sen und die dementsprechenden Forderungen zwar nicht völlig gegenstandslos, wohl aber überzogen. Zum einen halten sich die beschriebenen Phänomene schon rein quantitativ in Grenzen. Sie lassen sich keinesfalls für große Teile oder gar für alle der ca. zehn Millionen Einkommensarmen Deutschlands beobachten. Zum an- dern ist der Grad der Freiwilligkeit bzw. der Wählbarkeit von Verhaltens weisen gerade in beengten Lebensverhältnissen geringer, als viele der moralischen Ver- dikte unterstellen. Schon mancher aus bürgerlichen Mittelschichten musste an sich selbst erfahren, wie schnell er in Impulskäufe oder in andere „Disziplinlosigkeiten“

geriet, wenn es finanziell eng wurde. Schließlich werden aus wissenschaftlicher Sicht die Folgen zu negativ gesehen. So stellen für den Soziologen Heinz Bude die Mitglieder der Unterschicht „eine Gefahr für alle dar: Sie verzehren die Grundlagen des Wohlfahrtsstaats, bilden eine unerreichbare Parallelwelt und fungieren als un- berechenbarer Resonanzboden für populistische Bestrebungen.“19 Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass die finanziellen Grundlagen unseres Wohl fahrtsstaats zwar zu erodieren drohen, aber nicht wegen der Armutsbekämpfung. Auch Populis- mus und politischer Extremismus finden weniger in den untersten Schichten der Gesellschaft Widerhall als in jenen, die infolge eigener Qualifikation oder wegen

17 Stern 46/2002, S. 36 f., zitiert nach Karl August Chassé: Unterschichten in Deutschland. Mate- rialien zu einer kritischen Debatte. Wiesbaden 2010, S. 21.

18 Stern 52/2004, S. 158, zitiert nach: Chassé: Unterschichten in Deutschland (wie Anm. 17), S. 25.

19 Heinz Bude: Das Phänomen der Exklusion. Der Widerstreit zwischen gesellschaftlicher Erfah- rung und soziologischer Rekonstruktion, in: Mittelweg 36 (2004), S. 3–15, hier 5.

(23)

22 Stefan Hradil

sozialer Abstiege den Anspruch auf einen bestimmten Status zu haben glauben, der ihnen derzeit verwehrt wird.

Heftiger noch als von Seiten der Wissenschaft fällt die Kritik an der morali- schen Verurteilung der Unterschicht in Teilen der politischen Öffentlichkeit aus.

Viele wenden grundsätzlich ein, dass die oben skizzierten problematischen Lebens- weisen armer Menschen nicht auf deren Willen, sondern auf deren Lebensbedin- gungen zurückzuführen sind. Ganz besonders laut wird die Verurteilung der Unter- schicht aber dann kritisiert, wenn der Verdacht aufkommt, diese Sichtweise sei strategisch motiviert, um wohlfahrtsstaatliche Leistungen zurückzustutzen und die Kassen der Begüterten zu schonen. Damit wird angesprochen, wer nach Meinung vieler im gegenwärtigen Armutsdiskurs der wahre Adressat von Verurteilungen der Unterschicht ist: die Mittelschicht nämlich.

Bevor hierauf näher eingegangen wird, soll noch eine, wenngleich kleine Ni- sche des Armutsdiskurses ausgeleuchtet werden: Vielleicht als Antwort auf über- triebene Abwertungen der Unterschicht sind – in erster Linie innerhalb der Sozial- wissenschaften, aber auch im Bereich der Mode und der Medien – in letzter Zeit nicht minder fragwürdige Aufwertungen der „Unterschicht“ entstanden. Trash-Kul- tur und Adipositas gelten auf einmal als kulturelle Kennzeichen der Unterschicht mit Eigenwert. Schulversagen infolge sprachlicher Mängel und Schulschwänzens werden als „institutionelle Diskriminierung“ durch die Schule interpretiert, die bür- gerliche Standards mit Macht durchsetze. Wer auf die geringe Weitergabe „kultu- rellen Kapitals“ (Pierre Bourdieu) durch Eltern bildungsferner Milieus verweist, wird beschuldigt, die Unterschicht zu diffamieren und die Schule von Schuld ent- lasten zu wollen.

Im Grunde wird so die Jahrzehnte alte, in den 1960er Jahren in der Soziolingu- istik (Basil Bernstein) bekannt gewordene Kontroverse zwischen der Defizit- und der Differenzhypothese wieder aufgewärmt. Letztere besagte, dass die Kultur der Unterschicht gleichwertig und nur anders als die der Mittelschicht sei. Die Defizit- hypothese meinte dagegen, dass Sprache und Kultur der Unterschicht minderwertig seien. Aber schon in den 1970er Jahren war klar geworden, dass weder die reine Defizithypothese haltbar ist, noch die reine Differenzhypothese zutrifft. Heute aber werden beide Sichtweisen, die Wahrnehmung einer minderwertigen und die einer gleichwertigen Unterschicht, wieder in aller Reinheit und Unkenntnis verfochten.

Es gibt auch diskursive Rückschritte.20

3. EINIGE FOLGEN DER ARMUTSDEBATTE IN DER MITTELSCHICHT

Viele Beobachter der Debatte um die Armut in Deutschland haben den Eindruck, dass zumindest die moralischen Verurteilungen der „Unterschicht“ latent an die

20 Stefan Hradil: Die Armut und die Unterschicht. Eine Kontroverse wird härter, in: Gesellschaft – Wirtschaft – Politik 59 (2010), S. 105–110, hier 105 ff.

(24)

23

Armut in einer modernen Gesellschaft

mittleren Schichten gerichtet sind. Dabei werden nach Ansicht kritischer Diskurs- analytiker vielfältige Absichten verfolgt:

– Es geht darum, Leistungskürzungen zu legitimieren.

– Die Mittelschichten sollen die Möglichkeit erhalten, sich nach unten abzugren- zen und sich moralisch als die „bessere“ Schicht zu empfinden.

– Den mittleren Schichten soll ein Feindbild vermittelt und so die Statuskonkur- renz forciert werden.

– Schließlich sollen die Mittelschichten diszipliniert werden, indem die dort im- mer schon vorhandene latente Angst vor dem Abstieg benutzt wird.

Solche durchaus intendierten, aber kaum je artikulierten Zielsetzungen wären nicht neu. Gleiche Absichten wurden in Armutsdiskursen seit Jahrhunderten verfolgt. In- sofern ist es nicht so weit hergeholt, sie auch heute ein Stück weit zu unterstellen.

Die Lage der Mittelschicht hat sich in letzter Zeit verändert. Daher erzeugt der moralische Streit um die Armen jetzt in mittleren Schichten oftmals andere Wirkun- gen als erwartet.

Die neue Lage der Mittelschicht zeigt sich zum Beispiel darin, dass viele Ge- winner in den letzten Jahren aus den Mittelschichten in die Oberschicht aufgestie- gen, viele Verlierer dagegen abgestiegen sind, vor allem jene mit nicht mehr markt- gängiger Qualifikation. Der ungewohnt raue Wind in den Mittelschichten brachte es mit sich, dass dort Ängste vor Abstieg und Arbeitslosigkeit zunehmen und ge- wissermaßen „die Bürotürme hoch kriechen“.21 Daran war übrigens auch die Ein- führung des Arbeitslosengelds II („Hartz IV“) beteiligt. Es sieht bekanntlich vor, dass schon nach wenigen Monaten der Arbeitslosigkeit eine Reduzierung der Be- züge auf Sozialhilfeniveau erfolgt. Dieser Fall ist zwar für Angehörige der Dienst- leistungsmittelschicht unwahrscheinlich, sollte er aber eintreten, dann ist die Fall- höhe tief. Dem entsprechen die nachweislich wachsenden Ängste.

In dieser Situation tut es den Angehörigen der Mittelschicht gut zu wissen, dass auch im Falle eines Abstiegs eine Grenze der moralischen Respektabilität nach un- ten hin zur „Unterschicht“ bleibt. Die wachsenden Ängste in der Mittelschicht stel- len auch eine gute Grundlage dar, um das Feindbild einer disziplin- und verantwor- tungslosen Unterschicht zu entwickeln und so die eigene Disziplin zu stärken. Das waren vermutlich beabsichtigte Effekte. Weniger geplant war es wohl, die Ängste in mittleren Schichten anzuheizen, wodurch sich politisch unerwartete Haltungen und Wahlergebnisse häufen.

So wurde unter anderem vom Michael Vester darauf hingewiesen,22 dass die Ängste derer, die sich als Modernisierungsverlierer fühlen, mittlerweile relativ sta- bile Milieus mit einer politischen Aggressivität (beispielsweise gegen „integrati- onsunwillige“ Zuwanderer) hervorgebracht haben, die man in der Mittelschicht nie

21 Ders.: Die Angst kriecht die Bürotürme hinauf…, in: Herbert-Quandt-Stiftung (Hg.): Die Zu- kunft der gesellschaftlichen Mitte in Deutschland. 26. Sinclair-Haus-Gespräche, Bad Homburg v. d. Höhe 12.–13. Mai 2006. Frankfurt a. M. 2006, S. 34–43.

22 Michael Vester: Soziale Milieus und Gesellschaftspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 44–45/2006, S. 10–17.

(25)

24 Stefan Hradil

vermutet hätte. Zudem zeigt ein Blick in die neuere Geschichte,23 dass Mittel- schichten, die sich in der „Zwickmühle“ fühlen, seit jeher zu politisch erratischem Verhalten neigen. Aus ihrer Pufferfunktion könne sehr leicht politische Instabilität werden.

Aber die durch Armutsdiskussionen geschürte Angst der Mittelschichten droht nicht nur politische Aggressivität und Instabilität zu erzeugen: Verängstigte Mittel- schichten verlieren ihren Glanz und werden als Aufstiegsziel unattraktiv. Fällt es Arbeitern mangels Qualifikationsnachweisen heute ohnehin schon schwer, in die Mittelschicht zu gelangen, so fragen sie sich heute immer häufiger, ob der Versuch die Mühe wert ist. So verstärkt sich die Resignation in den unteren Etagen unserer Gesellschaft, was für die Leistungsbereitschaft und Produktivität nicht förderlich ist.24

23 Hradil: Soziale Ungleichheit (wie Anm. 2), S. 462.

24 Ders.: Anmerkungen zu einer erstarrenden Gesellschaft. Sozialer Auf- und Abstieg in Deutsch- land, in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.): Chancen für alle. Die Perspektive der Aufstiegsge- sellschaft. Freiburg 2008, S. 22–35.

(26)

DIE WAHRNEHMUNG VON REICHTUM UND ARMUT IM SPÄTMITTELALTER UND IM

FRÜHEN 16. JAHRHUNDERT Bernd Fuhrmann, Öhringen Dem Andenken an Ulf Dirlmeier gewidmet

„Arm“ und „reich“ – eine nur scheinbare Konstante der Menschheitsgeschichte?

Die Basis dieser Differenzierung dürfte weit in die Prähistorie reichen, verstärkt durch die neolithische Revolution. Derart wird die soziale Ungleichheit neben Alter und Geschlecht zu den drei universalen, fundamentalen Dimensionen der gesell- schaftlichen Hierarchisierung gerechnet.1 Über die Diskussionen dieser Zeit wissen wir freilich nichts, doch schon die alttestamentarische Erzählung von Kain und Abel verweist auf massive Spannungen, in diesem Fall wohl zwischen sesshaft gewordenen Ackerbauern und nomadisierenden Hirten. Erst für die Antike bessert sich die Überlieferungssituation.

1.

Angesichts der Breite des Themas beschränkt sich dieser Beitrag weitestgehend auf die Städte mit ihrer gegenüber dem Land deutlich besseren Überlieferung. Die wichtigste Quellengattung für diese Studie sind städtische Chroniken, doch diese geben bei allen unterschiedlichen Intentionen und unabhängig vom Standpunkt des Verfassers eher Aufschluss über Reichtum, Fälle von spektakulärem Vermögenszu- wachs und sozialem Aufstieg. Die weit verbreitete, alltägliche Armut wurde hinge- gen tendenziell entweder am Rande oder – deutlich breiter – indirekt in Hinblick auf die Ernten und mögliche Teuerungen thematisiert. Daher müssen normative Quellen herangezogen werden, zumal der Bettel zunehmend zu einem Fall für die Gerichtsbarkeit wurde. Normative Ordnungen zu Reichtum fehlen weitgehend, da Luxus- oder Kleiderordnungen primär der Aufrechterhaltung des sozialen Status der jeweiligen Stadtbevölkerung dienten. Ausgeprägte theoretische Überlegungen zu Armut und Reichtum oder Formen sozialer Ungleichheit lassen sich zumindest in der herangezogenen chronikalischen Überlieferung nicht erkennen. Einen an- schaulichen Bericht über Armut und deren wahrscheinliche Ursachen sowie den Umgang mit den Armen lieferte dagegen der Straßburger Diakon Alexander Berner,

1 Klaus Eder: Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften. Ein Beitrag zu einer Theorie sozialer Evolution. Frankfurt a. M. 1976, S. 178.

(27)

26 Bernd Fuhrmann

als er 1531 im Auftrag des Rats oberdeutsche und eidgenössische Städte bereiste, um aufgrund dieser Erfahrungen eine Almosen- oder Armenordnung erstellen zu lassen.2 Ohnehin hatten sich die Diskussionen um Armut und Arbeitsfähigkeit seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert im Reichsgebiet verschärft. So bestimmte die Nürnberger Almosenordnung von etwa 1370, dass arbeits- oder umzugsfähige Arme kein Anrecht auf ein Bettelzeichen und die damit verbundene Bettelerlaubnis hatten; fremden Bettlern gestand der Rat einen höchstens dreitägigen Aufenthalt zu.

Über die Umsetzung schweigen die Quellen weitgehend.3

Soziale Aufsteiger – und ebenso Absteiger – waren dem Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit keinesfalls fremd, wobei der Aufstieg zumindest zwei Ebenen um- fasste: Zunächst war die Akkumulation von Reichtum die zwingende Vorausset- zung, bevor sich die Frage nach der sozialen Anerkennung durch die etablierten Führungsschichten stellte. Doch diesen zweiten Bereich können wir angesichts des Themas ausklammern. Den Abstieg wiederum fasste der Kaufmann und Chronist, selbst ein Aufsteiger, Burkard Zink prägnant am Beispiel von Ulrich Schön zusam- men:

„Und kam her gen Augspurg in diese stat und kam von stundan zu ainem kramer, genant Ulrich Schön, was auf dasselb mal ain reicher gewerbiger kramer, wiewol er seider über etwa vil jar verdorben ist und zu armuet kommen was.“4

Für den Norden lässt sich Hildebrand Veckinchusen anführen.5

Das Gegensatzpaar „arm“ und „reich“ wurde schon in Früh- und Hochmittelal- ter mit der Formel dives/potens et pauper erfasst, wenngleich diese sich besser mit

„mächtig“ und „machtlos“ übersetzen lässt. Doch auch im Spätmittelalter fand das Begriffspaar „Arme und Reiche“ als Abbild der innerstädtischen sozialen Differen- zierung vielfach Verwendung.6 Grundsätzlich dürfte die Spanne zwischen armen und reichen Stadtbewohnern in den großen oberdeutschen Handelszentren mit ih- ren finanzstarken Fernkaufleuten am stärksten ausgebildet gewesen sein. Die im 12.

und 13. Jahrhundert verstärkt einsetzende Monetarisierung bot zudem einen weite- ren Ansatz zur Bemessung von Reichtum. Selbstverständlich bestand im Spätmit-

2 Otto Winckelmann: Das Fürsorgewesen der Stadt Strassburg vor und nach der Reformation bis zum Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts. Ein Beitrag zur deutschen Kultur- und Wirt- schaftsgeschichte. 2 Teile. Leipzig 1922, ND New York/London 1971, hier Teil 2, S. 266–283.

3 Willi Rüger: Mittelalterliches Almosenwesen. Die Almosenordnungen der Reichsstadt Nürn- berg (Nürnberger Beiträge zu den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 31). Nürnberg 1932, S. 68 f.

4 Chronik des Burkard Zink. 1368–1468, in: Die Chroniken der schwäbischen Städte. Augsburg, Band 2. (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 5) Leipzig 1866, (ND Stuttgart 1965), S. 1–330, hier 126.

5 Franz Irsigler: Der Alltag einer hansischen Kaufmannsfamilie im Spiegel der Veckinchusen- Briefe, in: Hansische Geschichtsblätter 103 (1985), S. 75–99. Vgl. zu Zürich Hans-Jörg Gilo- men: Innere Verhältnisse der Stadt Zürich 1300–1500, in: Stiftung Neue Zürcher Kantonsge- schichte (Hg.): Geschichte des Kantons Zürich, Band 1: Frühzeit bis Spätmittelalter. Zürich 1995, S. 336–389, hier 345–347.

6 Vgl. z. B. Eberhard Isenmann: Die deutsche Stadt im Spätmittelalter, 1250–1500. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft. Stuttgart 1988, S. 245 f.; zur sozialen Schichtung S. 253–267.

(28)

27

Die Wahrnehmung von Reichtum und Armut im Spätmittelalter

telalter eine enge Korrelation zwischen Reichtum und Machtteilhabe, wenngleich die starke Beanspruchung durch Rat und kommunale Ämter häufig weitere Handel- stätigkeiten (vorübergehend) reduzierte oder unterband.7 Allerdings betonten nach dem Chronisten Clemens Jäger die Aufständischen in Augsburg 1368 nicht zuletzt in Hinblick auf die Machtverhältnisse ausdrücklich, dass die Privilegien der Stadt an alle Bürger – arm und reich – verliehen worden seien, und sie daher ein Recht auf Ratssitze besäßen, zumal sie die städtischen Lasten mit zu tragen hätten.8 Einer weiteren Chronik zufolge diente die Errichtung der Zunftherrschaft „dem reichen und dem armen ze nutz und ze eren, und das alt veintschaft und Hass ab sey, die gewesen sind under reich und arm.“9 Das Begriffspaar „arm und reich“ diente da- mit nicht zuletzt der Umschreibung der gesamten städtischen Bürgerschaft oder Einwohnerschaft und ihres spannungsreichen Verhältnisses.10 Selbstverständlich gab es auch unter der dörflichen Bevölkerung eine ausgeprägte soziale Differenzie- rung mit einer kleinen Schicht wohlhabender Bauern. Doch „arme Leute“ o. ä. ver- wies im Spätmittelalter auf dem Land zunächst auf die persönliche Unfreiheit der Hintersassen, weniger auf die konkreten Vermögensverhältnisse. Unter den ver- schiedenen Begriffsinhalten von „arm“ im Mittelalter beschränkt sich der Beitrag auf die materielle Armut.

Einen weiteren Eindruck über die Wahrnehmung von „reich“ und „arm“ in den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften könnten Reiseberichte vermitteln. Doch abgesehen von der verbreiteten Praxis des Almosengebens unter- wegs – und damit der Anerkennung der Bettler als Teil der Gesellschaft – fanden die Armen erneut wenig Berücksichtigung. So erwähnte zwar der weitgereiste kas- tilische Adlige Pero Tafur für Basel, welches er als für deutsche Verhältnisse wohl- habend einschätzte, die Vielzahl der Bettler, doch sah er die Ursache dafür im dort tagenden Konzil, welches Bettler aus allen Landesteilen angelockt habe. Die zahl- reichen Siechenhäuser für Aussätzige am Oberrhein führte der kastilische Adlige ohnehin auf übermäßigen Fischgenuss sowie zu wenig Wein und Essig zurück.

Auch weitere Erwähnungen Armer stehen deutlich hinter den Ausführungen zu hochgestellten Personen oder Städten sowie Befestigungen zurück. Leichte Kritik scheint durch, wenn Tafur in Flandern die große Kleiderpracht, den immensen Auf- wand bei den Speisen sowie die Ergebenheit in alle Formen der Üppigkeit notierte

7 Zur zunehmenden Bedeutung von Amtseinkünften für die Nürnberger Ratsherren in der Frühen Neuzeit vgl. Peter Fleischmann: Rat und Patriziat in Nürnberg. Die Herrschaft der Ratsge- schlechter vom 13. bis zum 18. Jahrhundert (Nürnberger Forschungen 31/1–31/3). Nürnberg 2008, hier Band 1: Der Kleinere Rat, S. 197–201, 204–207.

8 Weberchronik von Clemens Jäger (der erbern Zunft von Webern Herkommen, Cronika und Jarbuch 955–1545), in: Die Chroniken der schwäbischen Städte. Augsburg, Band 9 (Die Chro- niken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 34). Stuttgart/Gotha 1929 (ND Göttingen 1966), S. 3–250, hier 150.

9 Chronik von der Gründung der Stadt Augsburg bis zum Jahre 1469, in: Die Chroniken der schwäbischen Städte. Augsburg, Band 1. (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 4) Leipzig 1865 (ND Göttingen 1965), S. 279–332, hier 309.

10 Vgl. z. B. Chronik des Hector Mülich 1348–1487, in: Die Chroniken der schwäbischen Städte.

Augsburg, Band 3 (Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert 22).

Leipzig 1892 (ND Göttingen 1965), S. 1–273, hier 6.

(29)

28 Bernd Fuhrmann

– freilich früheren Beispielen folgend, denn bereits der Kleriker Jakob von Vitry bezeichnete um 1220 die Flamen als üppig, verschwenderisch und der Fresslust ergeben, weich wie Butter und träge.11 Auch bei Michel de Montaigne, dem be- kannten Essayisten und Schriftsteller, nimmt die Beschreibung der Fugger’schen Wohnkomplexe breiteren Raum ein.12

Bekanntlich war der Erwerb von Vermögen in den Städten fast ausschließlich durch die Teilhabe am Groß- oder Fernhandel möglich, und die deutlichen Verän- derungen in der Organisation des Handels und im Bereich der Geschäftsmethoden sowie das wachsende Handelsvolumen seit dem 13. Jahrhundert ließen zahlreiche Händler aufsteigen und Kapital akkumulieren.13 Doch dass die wachsende Diskre- panz zwischen reichen Kaufleuten und armen Handwerkern, Gesellen oder sonsti- gen nicht immer klaglos hingenommen wurde, belegen nicht nur die zahlreichen innerstädtischen Konflikte vornehmlich im 14. und frühen 16. Jahrhundert.14 Aus- gelöst und entfacht wurden die Aufstände freilich zumeist von nachrückenden, ver- mögenden Kaufleuten, die nach politischer Partizipation strebten, welche ihnen die politische Führungsschicht vorenthielt; im 16. Jahrhundert traten religiöse Motive vor und im Umfeld der Reformation hinzu.

2.

Selbstverständlich wird in der Chronistik prinzipiell das Streben nach Reichtum nicht verurteilt, was schon angesichts der finanziellen Mittel der Führungsschicht unverständlich wäre. Aber längst nicht immer waren die politisch führenden Fami- lien auch die finanzkräftigsten, und nicht selten lässt sich ihr finanzieller Abstieg beobachten. In diese verbreitete Akzeptanz des Reichtums mischte sich aber auch deutliche Kritik an den schnellen und hohen Gewinnen der Kaufleute, vornehmlich im 16. Jahrhundert. Dem ehrlichen Kaufmann stellte beispielsweise der Händler und Chronist Wilhelm Rem 1519 vielfach Betrug und Veruntreuung gegenüber, und er bemängelte die unkritisierte Hinnahme des Geschäftsgebarens der Großkaufleute und ihre Charakterisierung als geschickte Leute statt als Diebe. Bei den Kaufleuten stünde ein in dieser Form nicht mehr zu tolerierender Eigennutz über dem gemei- nen Wohl. Insbesondere drei negative Praktiken nennt die Chronik allgemein und verkürzend, nämlich Wucher, Falschmünzerei und Bankrotte.15 Doch besonders der

11 Karl Stehlin/Rudolf Thommen: Aus der Reisebeschreibung des Pero Tafur 1438 und 1439, in:

Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 25 (1926), S. 45–107, hier 52 f., 55, 71;

Ludwig Schmugge: Über „nationale“ Vorurteile im Mittelalter, in: Deutsches Archiv für Erfor- schung des Mittelalters 38 (1982), S. 439–459, hier 455 f.

12 Peter Godman (Hg.): Michel de Montaigne: Tagebuch einer Reise durch Italien, die Schweiz und Deutschland in den Jahren 1580 und 1581. Frankfurt a. M. 1988, S. 63–65.

13 Zum Begriff der „kommerziellen Revolution“ vgl. Raymond de Roover: The Commercial Rev- olution of the 13th Century, in: Bulletin of the Business Historical Society 16 (1942), S. 34–39.

14 Vgl. z. B. die trotz Unvollständigkeit beeindruckende Übersicht von Evamaria Engel: Die deut- sche Stadt des Mittelalters. München 1993, S. 129 f.

15 Mark Häberlein: „Die Tag und Nacht auff Fürkauff trachten“. Augsburger Großkaufleute des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts in der Beurteilung ihrer Zeitgenossen und Mitbürger, in:

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Diese Frage kann nur dann umfassend und richtig beantwortet werden, wenn geprüft worden ist, in welchem Umfang den Schulen Lehrer-Ist-Stunden zur Erteilung des Pflichtunterrichts

Da Strom immer zu dem Zeitpunkt, in dem er verbraucht wird, produziert (d. in das Ver- bundnetz eingespeist) werden muss, kommt es bei höherem Verbrauch zu einem leichten Absinken

• Spitze mit Vorspannung rastert leitende Oberfläche Tunnelstrom wird gemessen.. • Information über Topographie und

This work has been digitalized and published in 2013 by Verlag Zeitschrift für Naturforschung in cooperation with the Max Planck Society for the Advancement of Science under

Der zweite Teil der Novelle zum Baugesetzbuch (BauGB), der zurzeit auf Bundesebene abge- stimmt wird, sieht voraussichtlich eine Änderung des § 35 Abs. 4 BauGB vor, mit der die

Da es ange- sichts dieser Mengen unrationell gewesen wäre, wie bisher Denare zu schlagen, prägte man nach west- oder südeuropäischem Vorbild eine neue größere Münze, den

[r]

Um die Schnittstelle zwischen ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen und weiterge- henden Hilfsangeboten für die betroffenen Kinder und ihre Familien andererseits zu verbessern, wurde