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Reislamisierung und Familienrecht in Algerien

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Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt

Digitale Bibliothek des Sondersammelgebietes Vorderer Orient

Reislamisierung und Familienrecht in Algerien

Kuske, Silvia Berlin, 1996

urn:nbn:de:gbv:3:5-78487

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ISLAMKUNDLICHE UNTERSUCHUNGEN • BAND 205

Silvia Kuske

Reislamisierung und Familienrecht in Algerien

Der Einfluß des malikitischen Rechts auf den

Code Algerien

de la Familie "

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ISLAMKUNDLICHE UNTERSUCHUNGEN • BAND 205

begründet von Klaus Schwarz

herausgegeben von Gerd Winkelhane

KLAUS SCHWARZ VERLAG

BERLIN

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ISLAMKUNDLICHE UNTERSUCHUNGEN • BAND 205

Silvia Kuske

Reislamisierung und Familienrecht in Algerien

Der Einfluß des malikitischen Rechts auf den

Code Algerien de la Familie "

KLAUS SCHWARZ VERLAG • BERLIN

1996

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DieDeutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kuske,Silvia:

Reislamisierung und Familienrechtin Algerien:der Einfluss des malikitischen Rechts auf den Code Algerien delafamille"

/ Silvia Kuske.- Berlin :Schwarz,1996

(Islamkundliche Untersuchungen ;Bd.205) ISBN3 -87997 -257-5

NE :GT

AlleRechte vorbehalten .

Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages

ist es nicht gestattet ,das Werkoder einzelne Teiledaraus nachzudrucken oder zu vervielfältigen .

©GerdWinkelhane ,Berlin 1996.

Klaus Schwarz Verlag GmbH,Postfach 410240, D -12112Berlin ISBN3 -87997-257-5

Druck:Offsetdruckerei Gerhard WeinertGmbH, D -12099 Berlin

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Vorwort ... 1

t.Historischer Rückblick:Islam und Rechtsentwicklung inAlgerien ... 3

1 . 1.Algerien bis zur Annexion durch dieOsmanen ... 4

1 . 1 .2 .Der Islam maghrebinischer Ausprägung ... 6

1 .2 .Algerien als Teil des Osmanischen Reiches ... 8

1 . 3.Französische Besetzung und Kolonial isierungAlgeriens ... 11

1 . 3 . 1.Verwaltung der "neuen französischen Provinzen" ... 14

1 . 3 .2 .Die Gesetzgebung unter der französischen Kolonialherrschaft ... 16

1 . 3 . 3.Veränderungen im Rechtssystem ... 17

1 . 3 .4 .Der Rechtsstatus muslimischer Algerier ... 20

1 . 3 .5.Auswirkungen der Kolonialzeit auf die Situation derFrauen ... 21

1 . 4.Beginnender Nationalismus ... 23

1 .5 .Der Wegin dieUnabhängigkeit ... 28

1 . 6.Resümee ... 30

2 .Rahmenbedingungen für die Entstehung eines algerischen Familienrechts ... 33

2 . 1 .Historische Entwicklung ... 33

2 . 1 . 1.Versuch einer Neudefinition der Rolle derFrauim unabhängigen Algerien 33 2 . 1 .2 .Die Gesetzentwürfe für ein algerisches Familienrecht ( 1963 - 1984) ... 35

2 .2.Der religiös -historische Hintergrund ... 40

2 .2 . 1 .Die Bedeutung derSarta ... 40

2 .2 .2 .Die mälikitische Rechtsschule ... 43

3 .Vergleich des Code de la Familie mit den entsprechenden Passagen des mälikitischen Rechts ... 49

3 . 1 .Juristische Definition derEhe ... 51

3 .2.Verlobung Qjitba) ... 52

3 . 3.Voraussetzungen und Grundelemente der Heirat ... 54

3 . 3 . 1 .Heiratsalter ... 54

3 . 3 .2 .Die konstitutiven Elemente derTrauung ... 56

3 . 3 .2 . 1 .Zustimmung der Ehepartner (ridä') ... 56

3 . 3 .2 .2.Der Vormund (walt) ... 58

3 . 3 .2 . 3 . Die Zeugen (Sähidän ) ... 63

3 . 3 . 2 .4.Mitgift (mahr oder sadäq ) ... 64

3 .4 .Polygynie ... 67

3 . 5.Akt und Bestätigung der Heirat ( 'aqd az-zawäg wa -itbät) ... 70

- I -

(11)

3 .6 .Zusatzklauseln im Ehevertrag (furüt) ... 70

3 . 7.Hinderungsgründe für eineHeirat ... 72

3 .7 . 1.Absolute Hindernisse ohne zeitliche Beschränkung (mawäni'mu'abbada) . 72 3 . 7 . 2 .Temporäre Hindernisse (mawäni'mu 'aqqatä) ... 74

3 . 8.Mangelhafte und nichtige Ehen (ankihafäsidawa -ankiha bätila ) ... 78

3 .9 .Rechte und Pflichten derEhegatten ... 81

3 . 10.Auflösung der Ehe durch Scheidung ... 90

3 . 10 . 1 .Die Verstoßung (taläq) ... 91

3 . 10 . 1 . 1.Die Haltung des CF zur Verstoßung ... 93

3 . 10 .2 .Die richterliche Scheidung (tatlrq) ... 96

3 . 10 .2 . 1.Richterliche Scheidung auf Initiative des Mannes ... 96

3 . 10 .2 .2 .Richterliche Scheidung auf Initiative derFrau ... 97

3 . 10 . 2 . 3.Scheidungsgründe,die beide Ehepartner dazu berechtigen,vor Gericht die Auflösung der Ehe zubeantragen ... 101

3 . 10 . 2 . 3 . 1.Scheidung bei gegenseitigem Einverständnis derEhepartner (taläqridä 'i) ... 101

3 . 10 .2 . 3 .2.Scheidung auf Grund eines unbotmäßigen Verhaltens (nufaz ) einesEhepartners ... 102

3 . 10 .2 . 3 .3 .Scheidung bei Streit (h, isäm )zwischen denEhepartnern ... 102

3 . 10 . 3 . Der«« /' ... 103

3 . 10 .4 . Verbindlichkeit der richterlichen Urteile ... 105

4 .Reaktionen auf den CF vor undnach1984 ... 107

4 . 1.Die Position der Islamisten ... 108

4 . 1 . 1 .Die islamistische Frauenbewegung ... 112

4 . 2 .Die Position der nichtislamistischen Frauenbewegung ... 113

5 . Fazit ... 119

Abkürzungsverzeichnis ... 121

Literaturverzeichnis... '23

Index ... 140

-II-

(12)

Vorwort

Die hiervon mir vorgelegte wissenschaftliche Untersuchung zum algerischen Familienrecht, insbesondere zudem1984 verabschiedeten sogenannten Code delaFamilie,wurde angeregt durch einen Vortrag von KhalidaMessaoudi, einer in der algerischen Frauenbewegung engagierten algerischenProfessorin, zum Thema"Le Code de la Familie : une dicision politique" ,densie1992inTübingen hielt.

Durch diesen Vortrag wurde mir die Bedeutung von Gesetzestexten für die Lage der muslimischen Frauen deutlich.Bei den derzeitigen Diskussionen inEuropa zum Thema 'Frau

im Islam' ,die sich überwiegend anSchlagwörtern wie Schleierzwang,Unterdrückung derFrau

etc .festmachen,wurde der rechtliche Aspekt meines Erachtens bisher vernachlässigt.Besonders deutlich macht dies folgendes Zitat von Frau Messaoudi:

La boucle est bouclie.LeCode de la Familiefaitdu Statutd'infMoritdde la femme ,de son enfermement et de son exclusion delavie sociale un tUment fondamental. Uncadre juridiqueligitime äjamaisl'infiriorisationdelafemme algirienne .

Um diese Behauptung auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen,entschied ich michdazu, die Situation der algerischen Frauen detailliert am Beispiel des algerischen Code de laFamilie und seiner Entstehungsgeschichte zuuntersuchen.Als Quelle dienten mir der Text des Codede la Familie selbst sowie mälikitische Rechtswerke. Zusätzlich habe ich Rechtskommentare zum algerischen Familienrechtherangezogen 1und von Europäern verfaßte Kommentare zum mälikitischenRecht . Leider ist die Quellenlage nur unzureichend, da durch die bürgerkriegsähnlichen Zustände in Algerien zurZeit weder Literatur vor Ortbeschafft noch Einsicht inRechtsakten genommen werden kann.

Die im algerischen Familienrechtfestgelegten Gesetze sind nur vor dem Hintergrund der vorangegangenenhistorischen Entwicklung der Rechtssituation in Algerien zu verstehen. Deshalb gebeich zuerst einen Überblick über die islamische Geschichte Algeriens.Daszweite Kapitel stellt die der Verabschiedung desCode de la Familie vorangegangenen Diskussionen

dar .Um dieHeftigkeit dieserDiskussionen verständlich zumachen , lasse icheinen kurzen Abriß über die Bedeutung der iart'a für islamische Länder folgen .Anschließend zeige ich die wichtigsten Merkmale der mälikitischen Rechtsschule auf .Fürden Vergleich selbst habe ich diejenigen Themengewählt ,dieimWesten als Ausgangspunkt für die Beurteilung der Stellung derFrauim Islam herangezogen werden :dasEhe -und das Scheidungsrecht.Dieser Vergleich bliebe aber unvollständig,wenn er nichtinseinem sozialen Kontext betrachtet würde .Deshalb

An dieser Stelle möchte ich Herrn Prof.Dr.Martin Forstner danken , der mir freundlicherweise diealgerischen Rechtskommentare zum Code de la Familie zur Verfügung gestellt hat . Ohne diese Hilfe hätte der Vergleich viel von seinerAussagekraft eingebüßt.

(13)

2

stelle ich zum Schluß die Bedeutung dieses Rechts für die beiden Gegenpole der algerischen Gesellschaft dar :Frauenbewegung und Islamisten.

Ich habe dieses Thema zum Gegenstand meiner Untersuchungen gemacht ,weiles ein zentrales Konfliktfeld der aktuellen Auseinandersetzungen inAlgerien behandelt.Die Diskussion umdie rechtliche Stellung der Frau wird sehr emotionalgeführt .Fürdie westliche Weltist eseinesder plakativsten Themen ,um unbesehen Vorurteile gegenüber derislamischen Welt tradieren zu

können . In Algerien selbst ist es Teil des blutig geführten Kampfes um die zukünftige Ausrichtung derPolitik ,die auch die künftige Stellung der Frau inder algerischen Gesellschaft bestimmen wird .

Die Umschrift des Arabischen orientiert sich an den Regeln der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, mit Ausnahme von Zitaten sowie im Deutschen geläufigen Begriffen und Ortsbezeichnungen . Arabische Pluralbildungenwerden , wo es aus Gründen der leichteren Lesbarkeit angebrachtist, entsprechend der deutschen Schreibweise wiedergegeben(z . B. Hallfas statt hulafa').

Allen Koranzitaten liegt die Übersetzung von Rudi Paret zugrunde.

(14)

2

1.

Historischer Rückblick

:

Islam und Rechtsentwicklung

in

Algerien

Die ehemals sozialistischeRepublikAlgerien, im zentralen Maghrebgelegen , weist viele geographische und kulturelle Parallelen zuihren Nachbarstaaten Libyen ,Tunesien, Marokko und Mauretanien auf .Gemeinsam sinddiesen Ländern auch diegroßen historischen Einschnitte: Islamisierung und Arabisierung seit der Eroberung durch die Araber Ende des7 .Jahrhunderts sowie die Kolonialisierung durch europäische Staatenseit dem 18 .Jahrhundert.Inwesentlichen Punkten allerdings unterscheidetsich die historischeEntwicklung Algeriens von der seiner Nachbarstaaten.Sounterstanddas heutige algerische Staatsgebiet vor der Kolonialherrschaft der Franzosen nie einer Zentralregierung .Erstgegen Ende des18 .Jahrhundertskann voneinem staatsähnlichen Gebilde gesprochenwerden .2 Hinzu kommt , daß Algerien als erstes nordafrikanisches Land kolonialisiert wurde und am längsten unter dem europäischen Kolonialismus zu leidenhatte .Erst1962 , nach einem achtJahredauernden Kampf, der eine Million Menschenleben forderte,erlangte Algerien die Unabhängigkeit.

Der neue algerische Staat entschied sich für die Staatsform einer sozialistischen Republikunter Führung der Einheitspartei Front de Libiration Nationale (FLN). Die sozialistische Orientierung führte außerhalb der islamischen Welt vielerorts zu der Einschätzung, daß Algerien weniger religiös geprägt sei als andere Länder mit überwiegend islamischer Bevölkerung unddaß der IslaminAlgerien keinen politischen Machtfaktor darstelle.Spätestens der Wahlerfolg der Front Islamique du Salut( FIS )bei den Kommunalwahlen 1990 hatgezeigt , daß dies- zumindest was einen Teil derBevölkerung betrifft- einegrobe Fehleinschätzung

war.3

Religion spielt inAlgeriens Geschichte4nicht erst seit heute eine entscheidende Rolle inder

Politik .Um zu verstehen ,inwelchem Maße religiöse Faktoren die historische und damitauch

diejuristische Entwicklung in einem Land mitbestimmthaben ,dessen Verfassung bis heuteden Islam als Staatsreligion festschreibt, ist ein Überblick überdie in dieserHinsicht relevanten historischen Ereignisse seit der Invasion durch die Araber notwendig.

: S. dazu S il dieser Arbeit.

1 Bei den Kommunalwahlen am 12.6 .90 erreichte die erst im September 1989 legalisierte FIS 54,25 % der abgegebenen Stimmen bei den Gemeinderatswahlen und 57 ,44 % der abgegebenen Stimmen bei den Wahlen zu den Provinzparlamenten .

4 Unter Algerien ist im folgenden immer das Gebiet des heutigen Staates Algerien zu verstehen .

(15)

4

1 . 1.Algerienbiszur Annexion durch dieOsmanen

Das heutige Staatsgebiet Algeriens war in vorislamischer Zeit vonzahlreichen, politisch zersplittertenBerberstämmen bevölkert, auf deren soziale und politische Organisation weder Römer noch Wandalen oder Byzantiner,die nacheinander Teile dieses Gebietes beherrschten , größeren Einfluß ausüben konnten.

Die Araber, die seit dem Jahr 647 mehrmals Vorstöße nach Nordafrikaunternahmen, scheiterten zunächst am Widerstand der berberischenStämme . Erst mit der Eroberung Karthagos und dem Sieg über al -Kähina5imJahr 698 wurde Nordafrika alsProvinz"IfrTqiya"

Teil des umaiyadischen Herrschaftsbereichs . 6Allerdings beschränkten sich dieVeränderungen unterden umaiyadischen Gouverneuren auf dieEinführung islamischer Rechtsprechung unddas Erheben von Steuern - und das nur dort, wo die neue Verwaltung über ausreichende Durchsetzungsfähigkeit verfügte.SowarendieKonsequenzen fürdie einheimische Bevölkerung zunächst gering :

theconquest . .. meantneither Islamization nor Arabization.Arabization required tnany centuries and Islamization was the workofthe Berbers themselves .7

Die Islamisierung der Berber vollzog sich anfänglich inGestalt eines massiven Übertritts der Berber zurIbädiyya, einem Zweig derhärigitischen Bewegung. 8Deren egalitäre Prinzipien fanden unter der berberischen BevölkerungAnklang , dadiese, gegenüber den arabischen Einwanderern ohnehin benachteiligt,sich auch im Fall ihrer Bekehrung als "Muslimezweiter

Klasse "empfand .Aufgrund der Opposition derHärigiten zurumaiyadischen Herrschaft war dasibäditische Bekenntnis auch alsislamische Legitimation für den Widerstand gegen die Maßnahmen der umaiyadischenVerwaltunggeeignet.9Im Jahr 740 erhoben sich mehrere ibäditische Berberstämme gegen die Umaiyaden und gründeten unter 'Abdarrahmän b .Rustam das theokratisch regierte Reich um die Stadt Tähert (761- 909 / 10 ) ,dem die Berber desAures

s Al-Kähina (arab ., Seherin , Wahrsagerin ) führte eine Konföderation von Berberstämme des Aures bei ihrem Kampf gegen die Araber an . Vgl . Singer , Maghreb , S.264 .

6 Eine neuere Studie zur Ausbreitung des Islam im Westen ist ' Abdulwähid Dhanun Tähä , The Muslim conquest and settlement of North Africa and Spain, London 1989.

' Laroui , History , S.87 .

■ Näheres zu Anfängen und Auswirkungen der härigilischen Revolte bei Le Tourneau , North Africa, S.215f .

9 Die Rolle der Ibädiyya für den Selbstbehauptungskampf der Berber ist gut dargestellt bei Ulrich Rebstock , Die Ibäditen im Magrib (2 ./8.-4 ./ IO.Jh) . Die Geschichte einer Berberbewegung im Gewand des Islam, Berlin 1983. Zur frühen Geschichte der Ibädiyya vgl . auch Werner Schwärt/., Die Anfänge der Ibäditen in Nordafrika . Der Beitrag einer islamischen Minderheit zur Ausbreitung des Islams , Wiesbaden 1983.

(16)

5

tributpflichtigwaren. 10Nachdem ihr Reich von denFätimiden11zerschlagen wordenwar, ließen sich die Ibäditen imM 'zabnieder ,wo sie bis heute sieben Oasen bewohnen.12 Die Auseinandersetzungen der orthodoxen sunnitischen Bevölkerung mit der härigitischen Häresie und dem von den Fätimiden propagiertenismä'Tlitischen Bekenntnis13führten schließlich dazu, daß in Ifriqiya die"Orthodoxie malikitischer Observanz dieunangefochtene Oberhand gewann "u

Diese Entwicklung wurde im 11 .Jahrhundert durch die politischen Ereignisseforciert. In Marokko waren die Almoraviden (al -muräbitäri),eine religiöse Erneuerungsbewegung ,andie Macht gekommen. 15Ihre bedeutendste Hinterlassenschaft war die endgültige Durchsetzung der mälikitischen Rechtsschule,die von nun an zum religiösen Bindeglied fürNordafrika wurde . Davon ausgenommen blieb nur dieM ' zab -Region . 16Die Almoraviden übergaben diereligiöse Autorität mfuqahä \ die überall im Land für die praktischeUmsetzung der mälikitischen Rechtsprechung sorgten.17

Als im 12Jahrhundert dieAlmohaden18die Herrschaft in Nordafrikaergriffen, erlitt die

10 Zu Struktur und Rechtssystem im theokratischen Staat der Rustamiden vgl . Abun-Nasr , History , S.75f.

11 Die ismä ' TlitischeDynastie der Fätimiden (909- 1171 n .Chr .) beherrschte vom tunesischen Mahdiyya aus Nordafrika . Nach ihrer Eroberung Ägyptens wurde Nordafrika von 972 bis 1048 von den Ziriden , fitimidischen Vizekönigen , regiert . Vgl . Halm , Fätimiden , S. 170ff.

13 Zur Organisation des religiösen Gemeindelebens vgl . Schmucker , Sekten , S.507f .

13 Das isma ' flitische Bekenntnis war schon während der Herrschaft der Fätimiden in Nordafrika auf die unmittelbare Umgebung des Hofs und einige berberische Stämme beschränkt , die die militärische Elite stellten, und hat keine bleibenden Spuren im Maghreb hinterlassen . Alle Aspekte der fätimidischen Herrschaft in Nordafrika sind ausfuhrlich dargestellt bei H .Halm , Das Reich des Mahdi , München 1991.

14 Singer , Maghreb , S.272 . Neben dem "Muwatta " des Mälik b . Anas wurde die "Mudawwana ", eine Rechtssammlung des Sahnün (QädT in Qairawän , gest . 864) zum wichtigsten Werk der Mälikiyya . Sahnüns streng mälikitische Auslegung der Rechtsquellen wurde sehr bald wegweisend für Ifriqiya und al-Andalus .

13 Als erste berberische Dynastie Nordafrikas beherrschten die Almoraviden , die aus der mauretanischen Sahara stammten , von Marrakesch aus 1060- 1147 n.Chr . den Maghreb und das muslimische Spanien . Westalgerien wurde 1082 n .Chr . erobert . Zu den Almoraviden s. F . Meier , Almoraviden und Marabute , in : WI (21), 1981, S.80- 163; A. Noth, Das Ribat der Almoraviden , in : W .Hoenerbach (Hg .) , Der Orient in der Forschung : Festschrift für Otto Spieszum S.April 1966, Wiesbaden 1977, S.499-511 ; Jacinto Bosch Vilä", Los Almoravides , Tetuan 1956.

16 Zur Geschichte der Ibäditen im M 'zab vom 8 .Jahrhundert bis zur Unabhängigkeit Algeriens vgl . die Arbeit von Sigrid Faath , Die Banü MTzäb: eine religiöse Minderheit in Algerien zwischen Isolation und Integralion , Schleessel 1985.

17 Aufgabenbereich , Machtpotential und Innovationen der fiiqahä ' sind ausführlich dargestellt in : Laroui , History , S. 160ff.

Die Konsequenz , mit der die Almoraviden Religionspolitik betrieben , unterstreicht Laroui : er bezeichnet sie als den "western coumerpart to the seljuks ofthe east ". Ebd ., S.160.

11 Die Almohaden (ql-muwahhidiln; 1147- 1269 n.Chr .) lösten die Herrschaft der Almoraviden im Maghreb und in Spanien ab . Ihr rascher Erfolg beruhte einerseits darauf , daß die Almoraviden ihrem Anspruch auf religiös-konservative Lebensführung und entsprechende Gestaltung ihrer Politik nicht mehr gerecht wurden , andererseits auf der Rivalität zwischen den Konföderationen der Sanhaga- und Masmüda-Berber , auf die sich Almoraviden und Almohaden jeweils stützten . Vgl . dazu : R . Le Tourneau , The Almohade movement in North Africa in the 12lh and 13th centuries , Princeton 1969, sowie A. Huici Miranda , Historia poh'tica del imperio almohade , Tetuan 1956-57 .

(17)

1

Dominanz dermälikitischen Rechtsschule allerdings einen Einbruch. IhrMahdT IbnTümart

(gest. 1130 ) hatte sich bei seinen Studienreisen nach Cordoba und in den Orient der Rechtsdogmatik (usülal-flqh)zugewandt und stand damitimGegensatzzu den maghrebinischen fuqahä ', dieihr Hauptaugenmerk auf die angewandte Jurisprudenz gerichtet hatten .Der von

Ibn Tümart propagierte moralische und juristische Rigorismus - er lehnte u . a. alle Rechtsschulen ab-überlebte jedoch das Ende der Almohadenherrschaft nicht.

Nachdem die Almohaden im Verlauf des 13 .Jahrhunderts ihre Machtbasis inSpanien verloren, fiel auch Nordafrika wieder indie Hände verschiedener Kleinherrscher .In Algerien kämpften

imOsten die'Abdalwädiden undimWestendieHafsidendarum ,Nordafrika wieder unter einer Herrschaft zu vereinen . Unter den Hafsiden erlebten -trotz ihreralmohadischen Herkunft" - der mälikitische Rigorismus und die islamische Mystik einen Aufschwung. Auch im Herrschaftsbereich der 'Abdalwädiden erhielten die mälikitischenfiiqahä ' wieder ihre Machtposition zurück . Beide Dynastien mußten jedochschon im Verlauf des14 .Jahrhunderts bedeutende Einschränkungen ihres Herrschaftsbereichs hinnehmen.

So konnte Ende des15 .Jahrhunderts von einer stabilen politischen Lage nicht mehr die Rede

sein: neben den beiden einflußreicheren Dynastien existierten unzählige kleine autonome

Staaten , die sich häufig um Marabuts20oder religiöse Bruderschaftengebildethatten . Die Küstenstädte hatten sich selbständig gemacht und waren zu Basen für Piraten geworden .Die Aufteilung des Landes schwächte die Widerstandskraft gegen die Spanier , die nach dem Fall Granadas1492unterdem Vorwand eines religiösen Kreuzzuges begannen, dieKüstenstädte anzugreifen.Innerhalb weniger Jahre wurdedie gesamte algerische Küste von ihnen beherrscht.

1 . 1 . 2.Der Islam maghrebinischer Ausprägung

Im Unterschied zu den arabischen Kernländern und den östlichen islamisierten Gebieten ging im Zentralmaghreb der Einfluß des Islam nicht direkt von Medersen(arab.:madrasa, PI. madäris )und 'ulamä 'aus . Vielmehr bestimmten hierreligiöse Bruderschaften(turuq) 21und

19 Die selbständige hafsidische Herrschaft (1228- 1574) wurde vom Enkel des Almohadenscheichs Abu Hafs ' Umar , eines Genossen des MahdT, mit dem Anspruch gegründet , den Verfall der almohadischen Lehre und Macht rückgängig zu machen .

20 Arab . "murabil ", im eigentlichen Wortsinn ein Verteidiger der Grenzen des Islam . Später auf Heilige und deren Nachkommen übertragen , die die Segenskraft (baraka ) des Heiligen weitervererben . Zu ihrer Rolle als neutrale Vermittler zur Konfliktlösung in einer segmentarischen Gesellschaft ohne Staatsmacht s. E .Gellner , Saints of the Atlas, London 1969.

21 Turuq , Sg . tarfqa (arab .) eigentlich : Weg , Methode , aber auch die Bezeichnung für religiöse Bruderschaft , Derwischorden . De Jong definiert turuq "als hierarchisch organisierte initiatorische Verbände , die auf einem mystischen Konzept des Islams beruhen ... Das Maß der formellen Organisation ... kann variieren von einem mystischen Lehrer mit einer kleinen örtlichen Gruppe von Anhängern , die nicht selten in einer Art von Klostergemeinschaft (khanaqah , tekke , zawiya) und ohne formalisierte Funktionen zusammenwohnen , bis zu einer supranationalen hierarchischen Struktur mit allen Merkmalen einer bürokratischen Organisation ."

(18)

Während Tunesien und Marokko immerhinmit der Zaytüna und der Qarawiyyln über religiöse HochschulenalsZentren des scholastischen Islams verfügten,existierteeine derartigeInstitution

in Algerien nicht .Auch hier nimmt Algerien wieder eine Sonderstellung ein.

In demMaß, wie diepolitische Einheit desMaghreb zerfiel, wuchs der Einfluß religiöser BruderschaftenaufKosten der fiiqaha ' und 'ulamä', deren Autorität nicht zuletzt auf der Unterstützung durch diejeweilige Zentralmacht beruhthatte .

Byjoiningthese Orders Muslims alsoparticipatedinacommunal life that wasespecially rewarding at a time when the general MuslimCommunity to which they belonged wassplit into warring states . In the lodgesoftheSufl Orders the Muslimsgraduallycametofind a

home ,spiritually and physically.24

Die Bruderschaften entwickelten schon früh einen spezifisch maghrebinischen Doppelcharakter : Sie waren sowohl Träger sufischer und volksislamischer Praktiken25als auch gleichzeitig Vertreter der Orthodoxie in nur oberflächlich islamisierten Regionen.

Einerseits entsprachen sie den aus der ganzen islamischen Welt bekannten sufischen Gemeinschaften,wobei dem Aspekt der Heiligenverehrung besondere Bedeutungzukam .Diese Verehrung konzentrierte sich auf Marabuts und ihre Nachkommen,die entweder Gründer oder prominente Mitglieder vonBruderschaften mitnationaler Bedeutung und Gefolgschaft sein konnten oder eine rein lokale Anhängerschaft um sich scharten:

Engverknüpft mitder Stammesstruktur . .. bilden siehinsichtlich ihrerBedeutung eine

Skala , dievon dem reinlokalen Heiligen dervielleicht von einem halben Dutzend Frauen imJahr besuchtwird, bis zueinem Heiligenwie Mulai Idrisreicht , den alle Marokkaner . .. gleichermaßen verehren . '"'

Dies., Bruderschaften , S.487 .

22 Sg . iarff : Titel der Nachkommen des Propheten , deren soziales und religiöses Prestige auf ihre Abstammung zurückgeht . Vgl . EP , Art . Sharif .

11 Die Themen Magie und Heiligenverehrung in Nordafrika sind ausfuhrlich dargestellt bei E. Dornte, Magie & Religion dans l' Afrique du Nord , Paris 1984 (repr . der Ausg. Alger, 1908) und E . Dermenghem , Le culte des saints dans l' lslam maghre'bin , Paris 1954.

" Abun-Nasr , History , S.l 19.

13 Diese umfassen u .a . die Verehrung von Heiligengräbern , jährlich stattfindene Wallfahrten und Feste (mausim) zu Ehren der Heiligen . Häufig werden die Verehrten auch mit bestimmten Orten wie Bäumen oder Quellen in Verbindung gebracht . Eine Vielzahl solcher Praktiken finden sich bei E . Westermarck , Ritual and Bclief in Morocco , London 1926.

M Crapanzano , Die Hamadla , S.24 . Crapanzano bezieht sich hier auf Marokko , der geschilderte Sachverhalt gilt aber ebenso för die anderen maghrebinischen Länder .

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a

Andererseits waren die Mitglieder von Bruderschaften in Regionen, dievonden städtischen Zentren des orthodoxen Islams entfernt lagen ,als religiöse "Experten"konkurrenzlose Träger derIslamisierung. Geradein Algerien, wokeine bedeutende theologische Ausbildungsstätte existiert( e ), waren Lernwilligegezwungen, zu diesem Zweck an die Zaytüna oder die QarawiyyTn zugehen .Weniger Ambitionierte konnten sichin einer der vielen Zäwiyas in die Grundlagen ihrer Religion einweisen lassen.Somit erfüllten Angehörige von Bruderschaften in Nordafrika Funktionen , diein den islamischen Kernländern in den Händen von 'ulamä'und fuqahä 'lagen:

dansl'histoiredu Maghreb. .. tous les ordresse sontprisentis comme missionaires de

l'Orthodoxie ,noncomme porteursde deviance.27

In diesen Zäwiyas wurde ein scholastischer orthodoxer Islamgelehrt.28In dieser Hinsicht durchzieht die mälikitische Ausprägung des algerischen bzw.maghrebinischen Islam auch die Bruderschaften.

Die Funktion der Bruderschaften war nicht, analog zum heutigen westlichen Verständnis von Religion, auf dieBefriedigung religiöser oder geistigerBedürfnisse beschränkt. Angesichts einer häufig fehlenden oder schwachen Zentralmacht und aufgrund der Verehrung, die bestimmte regionale oder Stammesgemeinschaften einzelnen Marabuts und ihrenNachkommen entgegenbrachten, beschränkte sich deren Einfluß nicht auf die religiöseSphäre , sondern umfaßte häufig auch soziale ,ökonomische und politische Belange . Daherentstanden um die Zäwiyas, die Zentren religiöserBruderschaften, oder um die Wirkungsstätten einzelner Marabuts häufig regionaleHerrschaften, dietheokratisch vom Vorsteher einer Bruderschaft

(muqaddam, iaih)oder einem Marabut beherrscht wurden.Zwischen solchen Gemeinschaften bestanden häufig Rivalitäten um Grundbesitz,Einflußbereich und politische Macht .

1 . 2.Algerienals Teil des Osmanischen Reiches

Anfang des16 .Jahrhundertsannektierten dieOsmanen Algier .Mit Ausnahme von Marokko geriet bald das gesamte Nordafrika unterosmanische Oberhoheit.Die als Barbarossa-Brüder bekannten Piraten 'Arüg und Hairad -Dln baten 1516 den osmanischen Sultan SelimI .um Hilfe beim Kampf gegen die Spanier und boten ihm als GegenleistungAlgieran. Hairad -DIn

" Colonna , Prdsence , S.246 .

" Vgl . dazu Artoun , Algeria , S. 177C

(20)

2

unterstellte sich der direkten Autorität desSultans , der ihn dafür zumBeylerbey 29ernannte.30 Algerien wurde in drei Provinzen (Constantine, Medea und Oran) unter osmanischen Statthaltern eingeteilt, wobei Algier den Rang einerHauptstadt erhielt . Die nahezu einzige Verpflichtung,die dieStatthalter der osmanischen Regierung dem Sultan gegenüberhatten ,war der Einzug derSteuern . Davonabgesehen, regierten sie in ihren Provinzen mit absoluter Souveränität.31Diese weitgehende Autonomie Algeriens manifestierte sich auch in der rechtlichen Situation:Es galt weiterhin die mälikitische Rechtsschule,nur über dieinAlgerien eingesetzten Osmanen wurde nach der im Osmanischen Reich geltenden hanafitischen Rechtsschule Rechtgesprochen. Für jede der beiden Bevölkerungsgruppenwaren eigene Polizisten zuständig.32

Die folgenden drei Jahrhunderte waren geprägt von Auseinandersetzungen umMachtbereiche und Steuereinnahmen33 zwischen den Deys,34die von den wü/jza/i-Stämmen 35unterstützt

wurden ,und den Stämmen ,die sich der osmanischen Herrschaftnicht unterordneten. Einen weiteren Unruhefaktor stellten die religiösen Bruderschaften dar ,die sich auf letztere stützten . Vorübergehend gelangesdenOsmanen ,den Einfluß der Bruderschaften zurückzudrängen.Die Bevölkerung akzeptierte allerdings weiterhin nur die Führer der Bruderschaften,Suraß' ,Mt}s des Militäradels sowie dieguwacP6als Führer.37

In der zweiten Hälfte des 18 .Jahrhunderts verschlechtertesich allerdings die ökonomische Situation rapide .Als Reaktion darauf versuchten die Deys, ihre finanziellen Einbußen durch ständig steigende Steuerforderungen an die Bevölkerung auszugleichen.Vor dem Hintergrund des sich dagegen formierenden Widerstandes gewannen die Bruderschaften wieder an Bedeutung : Neue Ordenentstanden,schon existierende wurden neu belebt. Sie wurden zum Artikulationsmittel und Sammelbecken für die unzufriedenen Untertanen:

29 In der osmanischen Verwaltungshierarchie die Bezeichnung für die höchsten Beamten der drei nordafrikanischen Provinzen Algerien , Tunesien und Tripolis . Aus Beylerbey wurde später Pascha, dann Aga und schließlich Dey . Vgl . dazu E. Pröbster , ' Abdalqadir , S. 132.

30 Zur Stellung der Paschas gegenüber dem osmanischen Sultan einerseits und ihren Untergebenen andererseits vgl . Julien , Histoire , S.265ff .

31 Einen guten Überblick über die Organisaton des algerischen Staates zur Osmanenzeit bietet der Art . Algeria, in: EP , S.368 . Vgl . auch Julien , Histoire , S.294ff .

* Julien , Histoire , S.292f .

31 Sowohl die Gouverneure als auch spätere Kleinherrscher verzichteten auf die Eroberung angrenzender Gebiete ; in Algerien unterstand nur ca . ein Sechstel des heutigen Staatsgebietes ihrer direkten Herrschaft . Vgl . von Grunebaum , Islam II, S.398 .

34 Zu den Machtbefugnissen der Deys vgl . Julien, Histoire , S.2921T.

33 Stämme , die für ihre Unterstützung der Regierung (mafjzan) von allen Steuern befreit waren . Zu weiteren Privilegien s.

EP , Art . Algeria : The Turkish period , S.367ff . Näheres zum maf}Zan am Beispiel Marokkos in EP , Art . Makhzan .

M Im algerischen Dialekt Bezeichnung für Stammesmitglieder , die durch hervorragende kriegerische Leistungen zu Rang und Namen gekommen waren . Vgl . Dozy , Supplement , S.231 .

37 Agenin , Algeria, S.4f .

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10

thesefraternitiescatalysedthe discontent of thepopulation and gaveaformidable religious Interpretation to itsanti-Turkish sentiments.n

Die einflußreichsten Orden waren die Darqäwiyya,*' die Tig'dniyya,"' und die Rahmäniyya *'1. Diese Bruderschaften tratenauch in den offenen Kampf gegen die Deys und damit die osmanische Herrschaft.So organisierten die Darqäwiyya Ende des18 .Jahrhunderts Aufstände inder Provinz Oran undin der Kabylei ,die TtgäniyyaimSüden Algerien,beidemit marokkanischer Unterstützung.Der Dey konnte sie erst kurz vor derAnkunft der Franzosen niederschlagen.

Die politisch instabileLage ,die schlechte wirtschaftliche Situation, unteranderem verursacht durch den Niedergang des Sklavenhandels, und die sinkende Bevölkerungszahl durch Hungersnöte und Seuchen führten zu einem Niedergang Algeriens.

Zusammenfassend ergeben sich ausder über Jahrhundertehinweginstabilen Geschichte des vorkolonialen Algerien deutliche Unterschiede zur historischen Entwicklung der beiden Nachbarstaaten Marokko und Tunesien:

First , . .. Algeria afiertheflrstArab-Muslim conquest of the Maghreb didnothave the experienceof acentralizing Islamic State ona continousbasis .As a result ,tribal structures and solidarities . .. did not experience the tension between aunifying Islamic State andthe segmentary society as strongly as did other Maghreb societies . ..For Msreason different social communities in Algeria . .. maintain a strong and distinct cultural and even institutionalidentity . Second , there have beendiscontinuities in thediffusion ofArabic language and culture andofimportantaspects of Islamic thought and teachings inAlgeria.

Thus , Berberisstill widelyspoken.Ibadi lawis applied in Mzab,together with pre -Islamic Berber institutions.InKabylie , Islamic law. ..wasnotfullyapplied until 1962.42

Raymond , North Africa , S.280 .

w Die Bruderschaft der Darqäwiyya wurde Ende des 18.Jahrhunderts in Nordmarokko von Müläy al-' ArbTad-DarqäwT, einem Scherifen idrisidischer Herkunft , gegründet , der sich von der Sädiliyya hatte inspirieren lassen . Näheres dazu bei E . Dermenghem , Essai sur la mystiquc musulmanc , in: ders ., Khamriyya , Paris 1931, 64, n .I .

40 Gegründet 1781/82 von Abü' l-' Abbäs Ahmad b . Muhammad b . al-Muhlär Ihn Saläm at-Tigäm (1737/8 - 1815) . Verbreitete sich ausgehend von Temacin und ' Ain MahdTbei Oran und ist heute v .a. in Marokko , Algerien und dem subsaharischen Afrika anzutreffen . S. auch Depont /Coppolani , Confrcreries , S.413ff . und Abun-Nasr , The Tijaniyya : a Sufi Order in the modern World, London 1965.

41 Zweig der Halwatiyya in der Kabylei , benannt nach Muhammad b . ' Abd ar-Rahmän al-Gustuü al-Gurguri at-Azhari Abu Qabrain (gest . 1793/4) . Seine abgeänderte Form der Halwati-Doklrin , die u .a . Befreiung vom Höllenfeuer durch Eintritt in seinen Orden versprach , brachte ihm eine große Anhängerschaf) , aber auch den Neid der mälikitischen 'ulamB' ein . Vgl . El2, Art . Rahmäniya , sowie Depont /Coppolani , ConfrSries , S.503 .

,! Arkoun , Algeria, S. 179.

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1 .3.Fran zösische Besetzung und Kolonialisierung Algeriens

U

Zu den entscheidenden Veränderungen unter der Herrschaft der Osmanen gehörtedie Einteilung des Landes in drei Provinzen mit Algier als Hauptstadt,die das Gebiet des heutigen Algerien

ergeben .43Die zunehmende Unabhängigkeitder Deys von der formalen Oberhoheit des osmanischen SultansinIstanbul und die wachsende Vermischung von Arabern und Berbern bis zum Vorabend derKolonialisierung sind Gründe , diedafürsprechen, ersteAnzeichen eines Staatswesens und eines pränationalen Gefühls der Zusammengehörigkeit ins frühe

19 .Jahrhundert zu datieren.44

Die Frage , ob Algerien1830 schon ein Staatsgebilde war odernicht, ist nicht eindeutig zu beantworten. Ebenso vehement, wie die Algerier dies bejahen ,45 verneinen es die Franzosen.4* Als gesichert gilt jedoch , daß Algerien den Status eines selbständigen Völkerrechtssubjekteshatte. 47 Die Franzosenstießen , als sie Anfang des 19 .Jahrhunderts begannen,die Geschichte Algeriens zu bestimmen, nicht in ein Vakuum vor ,sondern inein bevölkertes,regional begrenztes und zur dar al -isläm gehörendes Land,dessen Bewohner sich den Eindringlingen widersetzten.

Sonahmen die Franzosen im Juli 1830 Algierein. Anfängliche Überlegungenseitens der französischenRegierung, das Land dem Osmanischen Reich zurückzugeben oder einen arabischen Machthaber einzusetzen,wurden rasch fallengelassen.

Aus dem sich formierenden Widerstand gegen die französische Okkupation gingen vor allem zwei einflußreiche Führerhervor:Ahmad , der Bey von Constantine, und'Abd al -Qädir im Westen des Landes.Der Einfluß 'Abdal -Qädirs beruhteauf der hervorgehobenen Position,die er als Sohn Muhylad -DTnseinnahm , der Scheich der Zäwiya Bei Qaitna und Führer

4i Die Grenzen der osmanischen Provinzen entsprachen weitgehend dem heutigen Grenzverlauf zu Marokko und Tunesien . Lediglich die saharischen Gebiete wurden erst 1962 mit der Unabhängigkeit dem heutigen Staatsgebiet Algeriens eingegliedert .

44 Algeriens Geschichtsschreibung weist, auch bezüglich dieser Frage , noch immer große Lücken auf . Dies ist größtenteils auf die schlechte Quellenlage zurückzuführen , da sich die französische Regierung bis heute weigert , ihr umfangreiches Archiv in Aix-en-Provence der Öffentlichkeit zugänglich zu machen . Zu den dort befindlichen Unterlagen zur algerischen Geschichte ist nach wie vor nur ein eingeschränkter Zugang möglich .

M Dieser Standpunkt ist offiziell in der Nationalcharta verankert . Eine ausführliche Darstellung der algerischen Sichtweise mit Begründungen algerischer Historiker findet sich bei H . Walter, Selbstverständnis , S.30-42 .

46 So schreibt z .B. Emile Felix Gautier : "L' Algerie de 1830 n' ätait guere qu ' une caserne et un port Iure, maigre' la pnSsence de quelques immigres andaloug ... " in: ders ., Leg siecles obscurs du Maghreb , Paris 1927, S.23 . Und noch 1962 stellt der französische Historiker Robert Aron fest: "la conscience d' unc nationalite' alge'rienne n'clail jamais apparue .-.avant que la colonisation francaise n 'cn cut reuni les conditions et facilile reveil . .." in: ders ., Les origines de la guerre d ' Algenc , Paris 1962, S. 123.

" Valin , Resistance , S.95 .

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12

(muqaddam)der Qädiriyya war," zu dieser Zeit die einflußreichste Bruderschaft in Algerien.

Die Fähigkeit,seine religiöse Autorität innerhalb der Qädiriyya bei Bedarf für seinepolitischen Zwecke einzusetzen,hat bedeutend zu seiner Führungsposition beigetragen.49Zusätzlich hatte er die Unterstützung des marokkanischen Sultans beim Widerstand gegen die Franzosen ,der sowohl um seinen EinflußinWestalgerien fürchtete alsauchein Übergreifen derfranzösischen Expansionsbestrebungen auf sein Land verhindernwollte . Zum Führer einer Konföderation westalgerischer Stämme aufgestiegen ( 1832 ) und von den Franzosen vertraglich als rechtmäßiger Herrscher über den westlichen Teil Algeriensanerkannt, konnte er in den folgenden Jahren seine Macht ausbauen und ein gut organisiertes Staatswesenerrichten.50 Vertragsbrüche seitens der Franzosen führten zu bewaffneten Konflikten.ImJahr 1835fügte er den Franzosen eine erhebliche Niederlage bei Macta zu und galt fortan in ganzNordafrika als Retter desIslam ."

Sowohl von algerischen als auch von französischen Historikern wird'Abdal -Qädir meist als Nationalistdargestellt. Die Algerier wollen damit beweisen, daß ihr Land Anfang des

19 .Jahrhunderts schon eine Nationwar.Die Franzosen versuchen , ihn als ersten Nationalisten Algeriens darzustellen,der eine algerische Nation schaffen wollte ,die bis dahin nichtexistiert

habe.

Einen von beiden abweichenden Standpunkt vertritt Peter vonSivers .Er meint,'Abdal -Qädir als ein Vertreter der traditionellenGesellschaftsordnung52habe sich nie als Führer einer Bewegunggesehen ,dieeinen algerischen Staatin nationalen Grenzen schaffenwollte .Vielmehr habeer als Stammesführer,wie andere Führer desWiderstandes auch,für"die Errichtung eines potentiellunbegrenzten Reiches unter der Fährung einer Dynastie"gekämpft.53

Nachdem der 1837 zwischen'Abdal -Qädir und der französischen Regierung geschlossene Vertrag von Tafna übereine friedliche Koexistenz zwischen dem vonihmbeherrschten und dem Frankreich unterstehenden Teil Algeriens nicht eingehaltenwurde ,rief'Abdal -Qädir 1839 zumöihädgegen die Franzosen auf .Er konnte den Franzosen so lange erfolgreich Widerstand

41 Benannt nach ' Abd al-Qädir al-GilänT(gest . S61/ 1166) . Der Orden ist heute in wohl allen islamischen Ländern vertreten ; vgl . dazu Depont /Coppolani , Confrenes , S.301-318 . In Nordafrika ist v .a . der Zweig der Giläliyya verbreitet , in der der Kult um ' Abd al-Qädir bis zu dessen Vergöttlichung gehen kann ; vgl . Michaux -Bcllaire, Gharb , S.235 .

49 "This person was able to ulilize thc religious Organization of his Order in Order to establish the sovereignty which the French had accorded to him , and when his sovereignty was threatened could fall back on his rank as muqaddam of his Order to win fresh recruits ." Garrrot , Histoire , S.888; s. auch ebd ., S.863ff .

w Zu den wichtigsten Grundzügen des von ' Abd al-Qädir errichteten Staatsgebäudes vgl . Pröbster , ' Abdalqadir , S. 140f.

11 Näheres zur Person ' Abd al-Qädirs (1808-1883) als religiöse Figur in : ' Aini, Mchmed Ali, Ungrand Saint de l' Islam : Abd- Al-Kadir Guilani 1077- 1166 / in Zs .arbeit mit F .J . Simore-Munir , Paris 1967.

" Die Herrschaftsstruktur unter ' Abd al-Qadir entsprach der aristokratischen Struktur der nordafrikanischen Stämme . Vgl . Christelow , Law , S. 12. Abun-Nasr zeigt bei seinem Vergleich die Parallelen auf . Ders ., History , S.241-44 .

31 Sivers , Nordafrika , in; Der Islam II, S.4I2 .

(24)

12

leisten , bis die Marokkaner1844 nach einerNiederlage gegen die französische Armee ihre Unterstützung einstellten.Zu seiner Schwächung trug auch die Haltung vieler Bruderschaften

bei, die ihm aus eigenem Machtkalkül ihre Unterstützung verweigerten und teilweise mitder französischenBesatzungsmacht kooperierten. So mußte'Abd al -Qädir im Dezember 1847 kapitulieren. 34Ein Jahr später unterwarf sich auch AhmadBey .

Der Widerstand gegen die französische Kolonialmacht war damit nicht gebrochen,aberdurch seine Verlagerung auf die lokale Ebene der Stammesführer und der Führerreligiöser Zentren stellte er keine wirkliche Gefahr mehr für diefranzösische Herrschaftdar . Die anfängliche Weigerung der Franzosen, die islamische Rechtsprechung als gleichberechtigt neben demcode napoteon zu akzeptieren,verhinderte zunächst eine Zusammenarbeit der traditionellen,religiös legitimierten Elite mit den neuenMachthabers 55Zudem war dieFührungsschicht von der Herrschaft der Franzosen zunächst am meisten betroffen,da sie nun besteuert und große Teile ihrer Ländereien enteignet wurden .56

So kam es ab 1848 , meist imZusammenhang mitSteuererhöhungen u . ä ., zu einem guten Dutzend meist kleiner und ineffektiverAufstände, die im Küstengebiet bis 1871 , in den entlegeneren Wüstengebietenbis 1917andauerten. Der Widerstand organisierte sich auf Stammesbasis, die ideologische Grundlage bildete aber der Islam . An der Spitze der Aufständischen standen Surafü 'oderMarabuts.Wie schon unter der osmanischen Herrschaft setzten sie ihr Ansehen nicht nur zur Vermittlung zwischen verschiedenen Fraktionenein, sondern auch um Widerstand gegen den äußeren Agressor zu initiieren.57Eine Schlüsselrolle kam den religiösenBruderschaften zu, "both in sustaining the morale of resistance and in providingaframework ofCooperation between tribes . "**Die Einflußsphären der genannten

drei Gruppenwaren dabei nicht scharf voneinander abgegrenzt, in ländlichen Gebieten zum Beispiel standen Marabuts oft gleichzeitig Bruderschaften vor.59

Den bedeutendsten Aufstand initiierten 1871 Muhammad al -Hägg al -Muqränl , lokaler Führer einesmatjzan -Stammes , und Scheichal -Haddäd von der Bruderschaft der Rahmäniyya.'0 Angefeuert von Briefen eines Sohnes von'Abdal -Qädir breitete sichdieRevolte schnellinder

M Nach seiner Kapitulation siedelte er nach Damaskus über , wo er sich bis zu seinem Tod 1883 dem Studium der Religion widmete . Vgl . Sivers , Nordafrika , S.554 .

51 Laroui , History , S.304 .

* Ebd ., S.251 .

37 Zu den von taktischem Kalkül bestimmten Beziehungen der Marabuts zum Osmanischen Reich und später zur französischen Kolonialverwaltung siehe Lucette Valensi , Le Maghreb avant la prise d ' Alger, Paris 1970.

" Christelow , Law, S. 14.

Ä Zur Beteiligung verschiedener Marabuts an Aufständen vgl . Sa' d Alläh, Muhädarät , S.85-96 .

w Schätzungen zufolge sollen mehr als zwei Drittel der Bevölkerung am Aufstand beteiligt gewesen sein . Laroui , History , S.304 .

(25)

14

ganzen ProvinzConstantine aus, fand aber mit dem TodMuqränTsein raschesEnde. Die Franzosen verhängten über ca. 300 Stammesfraktionen immense Geldstrafen und beschlagnahmten riesige Ländereien. Die Enteignungen waren von so verheerendem

Ausmaß , 61 daß sie Verarmung und eine große Auswanderungswellenach sichzogen ; die rücksichtslose und großflächige Bodennahme durch die Franzosen begann .

Als weiteres Beispiel für eine religiös motivierte Revolte sei hier die des Sidi'Amäma angeführt.Sidi'Amäma gehörte zuden Nachkommen des Heiligen Sidi Scheich und baute ihm zu Ehren ein Religionszentrum,um sein Erbe universalistisch zu erneuern.

Die Vereinigung aller Muslime in einer Gemeinschaft, so predigte er, sei eine Vorbedingung für die Vertreibung der sich immer tiefer in der Sahara festsetzenden Franzosen.62

Damitsteht er in der Traditionähnlich motivierter GruppierungeninNordafrika, die einen universalen Islam als Waffe gegen dieUsurpatoren einzusetzen versuchten.63 Der Aufstand brach1871aus,erst1884 konnten ihn die Franzosen endgültig niederschlagen.

Die Unruhen in Algerien gingen folglich nie von den Städten aus, wo die von den Franzosen eingesetzten fuqahü'saßen:

L'Islam des marabouts etdes confriries aginiralementassumi,pendantun demi-siecleau moins apres la conquite d'Alger,une risistanceviolenteousournoise,dontl'Islam citadin , par la forcedes choses ,6taitginfralementincapable. 6*

1 .3 . 1.Verwaltung der "neuen französischenProvinzen"

Frankreich stand nun vor derEntscheidung, ob es die"algerischenProvinzen" direkt oder indirekt regierenwollte . Der Direktor für arabischeAngelegenheiten, Daumas, konnte die

61 Zum Ausmaß der von der französischen Verwaltung angeordneten Sanktionen vgl . Sivers , Nordafrika , S.555 .

" Ebd ., S.556 .

63 So z .B. die Sanüsiyya-Bruderschaft , gegründet von Muhammad b . ' All as-SanösT( 1791- 1859) . Sic hatte im heutigen Libyen und den Sahara-Gebieten wirtschaftliche und damit auch politische Macht erlangt . Das staatsähnliche Gebilde wurde von den Osmanen noch anerkannt . Als aber die Franzosen ihren Einflußbereich auf die Sahara ausdehnen wollten und als die Italiener 1912 Libyen besetzten , organisierte der Orden unter Ausnutzung seiner religiös-politischen Macht militärischen Widerstand gegen sie.

Vgl . N .A. Ziadeh , SanusTya- A study of a revivalist movement in Islam , Leiden 1958.

" Berque , Interieur , S.426 .

" Die Änderungen in der Verwaltung beim Übergang von der osmanischen zur französischen Herrschaft sind beschrieben bei Sa' d Allah, Muhädarät , S .47-63 .

(26)

Regierung davon überzeugen,daß es dasbestesei ,das Machtmonopol indirekt übermilitärische und religiöse Würdenträgerauszuüben, denn "the aristocracy still have great power and influence over the natives , andmust always be given greatconsideration. "MDieser Vorsatz mußte jedoch mit den wirtschaftlichen Interessen der Franzosenkollidieren, die große Ländereien beschlagnahmen unddas ganze Land ausbeutenwollten .Diebestehenden Strukturen der Stämme und Bruderschaften67mit ihren Hierarchien und ihrem gemeinschaftlichen Besitz an Ländereien verhinderteneine umfassende Einflußnahme. Sowurden nach und nach die territorialen Besitzverhältnisse durch Neueinteilung des Landes verändert, dieneugeschaffenen Gebiete unter französische oder französisch dominierte Verwaltung gestellt .68

Die unter der osmanischen Herrschaft in der algerischen Verwaltung und im Militär geschaffenen Titel bliebenerhalten.69Sie wurden jedochausschließlich anAngehörige der einheimischen Elite vergeben,die sich den Franzosen gegenüber loyal verhielten.Damitsollten sie für den Machtverlust als Folge der Landenteignungen entschädigt werden . 70Zu ihren Aufgaben gehörte es, die Bevölkerung unter Kontrolle zu halten unddie'impötsarabes ', die SteuernfürAraber,einzuziehen . Dafür erhielten sie ein Zehntel der Steuern und das Recht , ihre Untergebenen für Arbeiten in der Landwirtschaft einzusetzen.

Die Methode der Franzosen,loyale Würdenträger in ihren Positionenzubelassen,illoyaleaber

zu entmachten, führte gegen Ende des19 .Jahrhunderts dazu,daß Stammesführer undMarabuts entweder kollaborierten oderihren Einfluß völlig verloren.Zwischen der Kolonialherrschaft und dem Marabutismus entstand eine auf wechselseitiger Anerkennung beruhende Allianz .Der instrumentalisierte marabutistische Islam unterstützte die koloniale Autorität Frankreichs,wofür dieses den Marabutismus förderte.

Als Vermittler zwischen den einheimischen Führern und der französischen Verwaltung fungierten 'Büros für arabische Angelegenheiten' und ihnen untergeordnete'arabische

Büros' .71Ihnen oblag unteranderem die Kontrolle derStammesführer ihrerBezirke . Diese

" Daumas , zitiert nach : Agcron , Algeria, S.22 .

87 Die Zerstörung traditioneller Herrschaftsslrukturen schuf ein Machtvakuum , das mit neuen Hierarchien gefüllt werden mußte, die naturgemäß instabiler waren . Diese Erfahrung der französischen Kolonialmacht in Algerien machte sich der Generalresident Marschall Lyautey in Marokko zunutze , wo er großen Wert darauf legte, daß unter dem französischen Protektorat (1912-56) die traditionellen politischen und sozialen Strukturen intakt blieben .

61 Einschneidende Wirkung hatte der sinauts -constilu von 1863. Er ermöglichte die Umwandlung von stammeseigenem Landbesitz in Privateigentum . Durch die Aufteilung des Landes wurden auch die Stammesstrukturen durchbrochen . Vgl . de Hanhol , Grundlagen , S. 186 und Christelow , Law, S. 176 u . S.286 .

M Dazu gehörten HalTfa, Basaga, Aga, Qaid und Saib Christelow ordnet sie in folgende Kategorien ein : Hatifas als oberste Stammesführer , Bägagas als Stammesführer zweiten Ranges , Agas als Stammesführer dritten Ranges , Qaids als Stammesführer vierten Ranges und Saihs als Führer von religiösen Bruderschaften , Zäwiyas oder Stammesuntergruppen .

70 Zur Vorgehensweise der französischen Verwaltung bei der Auflösung von Stammesstrukturen vgl . Kennelh Perkins , Qaids , Captains , and Colons : French Military Administration in the Colonial Maghrib , 1844- 1934, New York 1981.

71 Zum System der "bureaux arabes " liegt eine neuere Studie von Jacques Frdmeaux vor . Er untersuchte die Archive der Büros und zeichnet so ein Bild ihrer täglichen Arbeit nach . Ders ., Les Bureaux arabes dans l' Algcne de la conquete , Paris 1993.

(27)

16

Mischungaus Herrschaft und Protektorat führtezueiner Assimilation der Verwaltung Algeriens

an dieder französischen Provinzen.Als Amtssprache wurde Französisch eingeführt.Nebender frühenKolonialisierung, der langenKolonialzeit und der spätenUnabhängigkeit haben die direkt ausgeübte Herrschaft und die kulturelle Assimiliation maßgeblich dazu beigetragen,daß Algeriens koloniale Erfahrungen gravierender warenals dieirgendeines anderen Landes mit Ausnahme Indiens .

1 .3 . 2.Die Gesetzgebung unter der französischen Kolonialherrschaft

Der Einfluß der europäischen Kolonialmächte auf die Gesetzgebung in ihren Kolonien orientierte sich vor allem an zwei Richtlinien,72wie sie bis heute auch für fast alle Regierungen inislamischen Ländern gelten. Auf dem Gebiet desHandels -undEigentumsrechts sowie des Strafrechts war eine europäische Gesetzgebung notwendig , die es ermöglichte ,die eigenen wirtschaftlichen und herrschaftsstabilisierenden Interessen durchzusetzen.Dafür wurde dem Gewohnheitsrecht auf Gebieten,die die eigenen Machtinteressen am wenigsten tangierten, größtmögliche Gültigkeit eingeräumt um der sozialen und politischen Stabilität willen . In Kolonialstaaten, in denen ein geschriebenes Gesetz existierte, sahen sich die neuen Gesetzgeber mit größeren Problemenkonfrontiert. Hierfür ist Algerien einParadebeispiel. Erstensgalt seit Jahrhundertendie iarta " alsGesetzesgrundlage, dieauf demKoran , dem unveränderlichenWortGottes , undden Traditionenbasiert . Eingriffe in dieGesetzgebung, zumal von einer nichtmuslimischen Kolonialmacht,wurden folglichalsAngriffauf die religiöse wie auf die kulturelleAutonomie empfunden, die gesetzgeberischen Machthaber mußten bei Änderungen mit Unruhen oder gar Aufständen rechnen.74

Erschwerend kamhinzu , daß in Algerien traditionell die Mehrzahl der Inhaber politischer Macht religiöse Legitimität für sich beanspruchte,die ihnen wiederum juristische Befugnisse verlieh.Politische und juristische Autorität waren auf diese Weise eng miteinander verknüpft. Veränderungen im Rechtssystem wirkten sich unmittelbar auf das Hierarchiegefüge aus.Eine Zusammenarbeit der etablierten religiös legitimierten Machthaber -Surafä ' ,Marabuts undturuq - mitderneuen Regierung war nurmöglich , wenn diereligiöse und damitauchjuristische Selbstbestimmung gewährleistet blieb .

12 Bezüglich der Gesetzgebung zur Zeit der französischen Kolonialherrschaft in Algerien stütze ich mich v .a . auf Christelow , Law , 1985 und Borrmans , Statut, 1977.

" Wörtl . der deutliche , zu befolgende Weg . Vgl . EI ' , Art . Shari' a .

14 Max Weber zufolge stellt die iarta alle Regime vor Probleme , da es ihr an der formalen Rationalität fehlt, die zum Aufbau eines modernen Staates und einer kapitalistischen Ökonomie unerläßlich sind . Vgl . ders ., Wirtschaft und Gesellschaft , Teil 3 , Kap .6 , 1922. Diese Einschätzung berücksichtigt nicht, für welche Staats- und Wirtschaftsform sich die islamischen Länder selbst entscheiden wollen .

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12

Die Franzosen sahen sich einer paradoxen Situation gegenüber:Einerseits mußten von ihnen traditionelle Hierarchien zerstört werden ,wo sie ihr Machtpotential einschränkten,andererseits waren sie zur Vermeidung größerer Unruhen und mangels einer eigenen politischen Infrastruktur darauf angewiesen,mit den traditionellen Machthabern zu kooperieren.

1 .3 . 3.Veränderungen imRechtssystem

Zur konsequenten KolonialisierungAlgeriens gehörte nach französischer Vorstellung eine größtmögliche Kontrolle über diemaßgeblichen religiösen undjuristischenInstitutionen und

Amter . Den Anfang machte die Konfiszierung der Güter aus frommen Stiftungen (hubüs ; frz .

habous)imJahr 1844.Deren Verwaltung ebensowie die Bezahlung religiöser Amtsinhaber und der Unterhaltungskosten für Moscheen wurde durch Gesetze der französischen Kolonialverwaltung organisiert.75

Das größte Problem für die französischen Kolonialherren stellte der für sieundurchschaubare Aufbau derjuristischenInstanzen darsowie deren oft nurlokal begrenzte Zuständigkeit.So wurden schwierige Rechtsfragen von den Qädlsandie'ulamä'weitergereicht,die wiederum in nächster Instanz im Maglis76darüber diskutierten . An den klaren hierarchischen Aufbau des Justizwesens inEuropa gewohnt,machte das Fehlen desselben in Algerien ein Eingreifen von französischer Seite schwer . So begannen die Franzosen, das gesamte Rechtswesen umzustrukturieren . Mit dem Entschluß von 1854 , ein einheitliches und zentralisiertes Gerichtssystem zu schaffen , wurden tiefgreifende Veränderungen eingeleitet.Ziel wares,auf der Basis derSari'aein-notgedrungen -religiös legitimiertes Justizwesen unter französischer Kontrolle zu schaffen.

Die französische Kolonialverwaltung betrachtete das muslimische Recht alseinen Zweig des französischen Rechts,der auf die muslimische Bevölkerung anzuwenden war. 77Die Qädlsund ihreGehilfen ,die Baghadels , wurden unter französischer Schirmherrschaft ausgebildet.78Der

Diesen Weg verfolgten auch fast alle islamischen Regierungen , als sich mit Beginn dieses Jahrhunderts die gesellschaftlichen , wirtschaftlichen und historischen Verhältnisse verändert hatten . Zudem konnte auf diese Weise dem Mißbrauch von Stiftungen für (macht)politische und persönliche Zwecke Einhalt geboten werden . Zur Entwicklung der Stiftungsverwaltung m diesen Ländern vgl . den Artikel "Fromme Stiftungen " im LIW.

76 F .C .R .Robinson bezeichnet den Maglis als "eine beratende Versammlung mit genau festgelegten Vollmachten ". Ders -, EI3.

Art. Maglis , S. 1031. Zur Institution des Maglis in Algerien während der französischen Herrschaft vgl . ebd ., S. 1070- 1072.

77 Für ein detailliertes Studium der Rechtssituation während der französischen Kolonialherrschaft sei hier verwiesen auf G .-H.

Bousquet. Prccis de droit musulman , Paris 1953; l .P.Chamay , La vie musulmane en Algene d ' aprcs la jurisprudence de la Premiere moitic du XXe siede , Paris 1965 und M .Morand , Etudes de droit musulman et le droit coulumicr berbere , Alger 1931.

Eine ausgezeichnete Bibliographie mit einer umfangreichen kritischen Einleitung bietet J .R .Henry /F .Ealique , La doctrine coloniale du droit musulman algenen , Pari« 1979.

71 Vgl . Gordon , Women , S.37 .

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