A 2412 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 108|
Heft 45|
11. November 2011ALGERIEN
Lebendiges Geschichtsbuch
Seit gut 100 Jahren graben französische und algerische
Archäologen bedeutende Funde aus. Dabei ist das nordafrikanische Land touristisch kaum erschlossen.
L
iebevoll füttert die Jungfrau einen lüsternen Stier, der sie, von Fischen umwimmelt, über das Meer trägt, und umschlingt eines seiner Hörner. Es ist der griechische Göttervater und Verwandlungs- künstler Zeus bei der nach dem My- thos gewaltsamen Entführung der kleinasiatischen Königstochter Europa nach Kreta. Die Szene ist auf einem römischen Mosaik zu se- hen im Museum von Djemila in Al- gerien. Auf einem anderen Mosaik leckt der „Entführer“ zärtlich die auf seinem Rücken sitzende Europa. Nirgends sonst findet man im ehemals riesigen Römischen Reich derart ungewöhnliche Dar- stellungen dieser bekannten Szene.Überhaupt ist alles so ganz an- ders im touristisch noch wenig er- schlossenen Algerien, dessen Mit- telmeerküste seit der Zeit der Phö- nizier vor 3 000 Jahren dicht besie- delt ist. Französische und algeri- sche Archäologen graben seit 100 Jahren große historische Stätten aus und verwandeln sie in ein lebendi- ges Geschichtsbuch. Nie gehörte Ortsnamen wie Tipasa, Cherchel,
Guelma, Timgad, Djemila und Con- stantine überraschen mit sorgfältig restaurierten Theatern, Triumphbö- gen und ganzen Stadtanlagen.
Tipasa, ein phönizischer Han- delsplatz westlich der Hauptstadt Algier auf einem Felsplateau hoch über dem Meer gelegen, beein- druckt durch seine Lage und seine kaum überschaubare Größe. Bis in die byzantinische Zeit blieb der Ort ein wichtiger Hafen. Sogar die Be- cken phönizischer Färberei sind noch zwischen römischen Bauten erhalten. Nur selten trifft man an den Ausgrabungsstätten und in den Museen auf ausländische Besucher.
In der Hauptstadt Algier über- rascht das nostalgische Viersterne- hotel El-Djazaïr, in dem früher Kö- nige, Politiker, Schauspieler und andere illustre Größen wohnten.
Auch heute ist es mit seinem Charme für Touristen und Ge- schäftsleute die Nummer eins ne- ben den nüchternen Hotels interna- tionaler Ketten. Die engen Gassen der Kasbah von Algier oder Con- stantine zu durchstreifen, grenzt an ein Abenteuer. In den oberen Ge-
schossen stoßen die Häuser fast an- einander.
Beim ehemals numidischen Dorf Djemila wurde 97 nach Christus unter Kaiser Nerva eine große Vete- ranensiedlung angelegt, die Männer mit den dortigen Frauen verheiratet, um stabile Verhältnisse zu schaffen.
Theater, Forum, Tempel, Triumph- bögen und große Wohnkomplexe beeindrucken. Auf dem Marktplatz sind außer Gesetzesinschriften sogar noch die Messtische mit Hohlmaßen erhalten, wo Beamte etwaigen Be- trug beim Abwiegen kontrollieren konnten. Nicht schlecht müssen sie gelebt haben in ihren Villen. Gleich überdimensionalen Wandteppichen bedecken die fast unzerstörten Fuß- bodenmosaike heute die Wände des Museums wie der „Triumph des Dionysos“, Szenen seiner Geburt oder Kämpfe von Gladiatoren gegen wilde Tiere.
In der über einer dramatischen Schlucht gelegenen Großstadt Con- stantine ist zwar nichts mehr zu se- hen von der phönizischen Grün- dung, den Numidern und Römern.
Doch das Archäologische Museum birgt erstaunliche Funde, darunter feinste chirurgische Instrumente aus römischer Zeit und ein Mosaik, auf dem ein Arzt mit kritischem Blick den Puls eines vor ihm sitzen- den Patienten prüft – dem eleganten Mobiliar nach zu urteilen – in einer gut gehenden Privatpraxis.
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Renate V. Scheiper
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Informationen: www.orientaltours.de Picknick vor his -torischer Kulisse:
Tipasa war schon zu phönizischer Zeit ein bedeutender Handelsplatz.
Foto: Renate V. Scheiper