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Der Täter in mir

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Academic year: 2022

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ENICUM

Heute musste ich wirklich mal in den Spie- gel schauen, ob ich eine «sale gueule»

habe. Nun, der erste Schmelz ist dahin, ein mittelalterliches Antlitz mit allem, was dazu gehört (Tränensäcke, Krähenfüsse, scharfe Nasolabialfalten, Querfalten Stirn, Blepharoachalasie), sieht mich besorgt aus dem Spiegel heraus an. Aber ich bin recht gut rasiert, habe keine stechenden, zusammenstehenden Augen und auch die Halbglatze wirkt nicht drohend. Trotz- dem scheint man mich für einen – wie man im Aktenzeichen XY…zu sagen pflegt – «mutmasslichen Täter» zu halten.

Es fing schon morgens an, als ich meine MPA bat, beim Status bei einer 53-jähri- gen neuen Patientin dabei zu sein. Miss- trauisch musterte uns die Patientin. Ich er- klärte ihr, dass ich sie jetzt abhorchen und abtasten müsse und dass die Palpation der Mamma zum ersten Status, den ich, ihr neuer Hausarzt, mache, dazugehört.

«Na, ich weiss nicht!», sagte sie und fi- xierte uns. «Man hört ja so einiges. Und Sie könnten ja auch so einer sein. Sie wis- sen schon, was für einer. Das könnte ich mir schon vorstellen. Nehmen Sies nicht persönlich, aber ausschliessen würde ich es nicht bei Ihnen.» Ich verklemmte mir die Bemerkung, dass dies kein gutes Omen für ein vertrauensvolles hausärztli- ches Gespräch sei … Weiter ging es mit einem Brief des Kantonsarztes, der mir unter Androhung strafrechtlicher Konse- quenzen für mich selbst (im Unter- lassungsfall) befahl, ihm meine Patienten mit Schuss- und Stichverletzungen unver- züglich zu melden. Vorsichtshalber warf ich einen Blick ins Wartzimmer, aber da

sass niemand mit rauchenden Colts oder blutgetränkter Kleidung. Und die Körper- verletzung, die der MPA-Lehrling mittels der Blutentnahme gerade beging, wurde vom Patienten geduldet. Mitten in der Sprechstunde verlangte ein Vertrauens- arzt fernmündlich, aber barsch, mich zu sprechen. Er belehrte mich über einige Feinheiten der MiGel, die mir nicht be- kannt waren, und forderte mich auf, die Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit nicht zu verletzen. Seufzend wandte ich mich der Korrespondenz zu. Doch auch in der Post war nichts Gutes: Der Kaminfe- ger zieh mich der Umgehung der Abgas- bestimmungen, falls ich ihm nicht binnen vier Wochen einen Termin gäbe. Der Tier- schutzverein stellte mich im Spendenauf- ruf als potenziellen Dulder von Tierquäle- reien dar, wenn ich nicht subito etwas überweisen würde. Und der Vertrauens- arzt einer anderen Krankenkasse belehrte mich, dass die galenische Form, die ich verschrieben hätte, nicht auf der Spezia- litätenliste sei. Geknickt ging ich zum Mit- tagessen zu Arztfreunden. Die labten sich an geschmuggeltem Wein und geklauten Kirschen und gaben sich Tipps, wie man im Tarmed Positionen «häufelt». Dann fragten sie mich, wie ich denn den Steuer- kommissär austricksen würde. Meine Be- teuerung, ich gäbe alles ehrlich an, wurde mit homerischem Gelächter quittiert.

Kaum zurück in der Praxis, krallte sich eine erzürnte Patientin in mein Revers und hielt mir eine Rechnung vor die Nase. Tatsäch- lich, ein Versehen – sie hatte an jenem Tag keinen Blutzuckercheck gehabt. Mit schneidenden Bemerkungen über Reiche,

die sich noch zusätzlich an armen Kran- ken bereichern, segelte sie hinaus. Dann kam Herr L. in Begleitung seiner Schwie- germutter, die in der Schweiz auf Besuch weile. Leider sei sie in ihrer Heimat nicht krankenversichert, aber ich solle sie doch bitte untersuchen und alles «auf ihn schreiben», er zahle schliesslich genug Krankenkassenprämien. Auf taube Ohren stiess meine Erklärung, dass ich die alte Dame gratis untersuchen, aber ge- wiss keine falsche Rechnung ausstellen würde. Verständnislos reagierte auch der Nächste, ein IT-Consultant, als ich es ab- lehnte, ihn rückwirkend krankzuschrei- ben. Ich solle doch nicht so dumm tun, er müsse sonst den Flug zahlen, den er wegen einer durchzechten Nacht verpasst hatte.

Irgendwie muss ich wie einer wirken, der ständig und lustvoll das Gesetz bricht und sich als Komplize geradezu anbietet. An der Visage kanns nicht liegen – zu gutbür- gerlich. Wobei ja gerade die schlimmsten Verbrecher wie Chorknaben aussehen. Ich jammerte am Feierabend meiner Frau vor, dass man mir unterstellte, ein sexueller Ausbeuter, potenzieller Patientinnenmiss- braucher, Verschleuderer von Prämiengel- dern, Tierquäler, Komplize von Körperver- letzern, Umweltsünder, Steuerhinterzieher und Tarmed-Abzocker zu sein. «Waaaaas, du?», prustete sie los und schüttete sich aus vor Lachen. «Ausgerechnet duuuuuu?

Du kannst doch keiner Fliege ein Härchen krümmen!» Das fand ich dann aber auch schon wieder fast beleidigend – denn so ein Hauch von Zwielicht schmückt einen Mann eben doch …

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Der Täter in mir

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