490 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 108|
Heft 28–29|
18. Juli 2011M E D I Z I N
DISKUSSION
Behandlungsqualität fast gleich
In dieser Arbeit wurde ein Zusammenhang gesucht zwischen dem (Leitlinien-)Bildungsstand der Haus- ärzte und ihrer Behandlungskompetenz. Das der Ar- beitsthematik entsprechende Ergebnis hätte lauten können: Unzureichend fortgebildete Hausärzte (in- adäquates Leitlinienwissen) kommen zu insuffizien- ten Behandlungsergebnissen. Die Arbeit weist aber ein anderes Ergebnis aus: Ob der Arzt seine Leitlini- en gut genug beherrschte oder ob nicht, in beiden Ärztegruppen war die Behandlungsqualität fast gleich.
Dennoch resümiert man: „So sollten künftig ver- stärkt Anstrengungen unternommen werden – wie zum Beispiel in Projekten der Integrierten Versor- gung bereits umgesetzt wird – Leitlinienempfehlun- gen als Steuergrößen in prozessbegleitende standar- disierte EDV-Systeme zu implementieren.”
Diese Studie soll, wie das in dieser Formulierung deutlich wird, die Notwendigkeit solcher EDV-Ein- gabekorridore begründen, tut es aber nicht.
Und ein ebenfalls inkongruentes Ergebnis wurde dann gleich gar nicht bei den Kernaussagen aufge- führt: In vier Bereichen (Indikatorenauswertung) wa- ren sogar die im Wissenstest schlechteren Ärzte bes- ser in den Therapiekriterien, als ihre ausgewiesen besser fortgebildeten Kollegen. Der wichtigste Indi- kator war der Blutdruck der Patienten, von insuffi- zient fortgebildeten Ärzten besser eingestellt, als der von entsprechend zertifizierten Kollegen. Und das, obwohl gerade im Leitlinientest zum Blutdruck nur 11 % der Ärzte leitliniengerechte Kenntnisse hatten.
Die 89 % Hausärzte, die ihre Leitlinienkenntnisse nicht korrekt nachwiesen, hatten ihre Patienten bes- ser eingestellt.
Die Ergebnisse der Studie wurden in wichtigen Teilen ignoriert und mit der Forderung nach den Än- derungen der Praxis-EDV verbunden. Die Herleitung des Einen aus dem Andern ist unschlüssig, das Motiv sollte hinterfragt werden.
DOI: 10.3238/arztebl.2011.0490a
LITERATUR
1. Karbach U, Schubert I, Hagemeister J, Ernstmann N, Pfaff H, Höpp HW: Physicians’ knowledge of and compliance with guidelines: an exploratory study in cardiovascular diseases. Dtsch Arztebl Int 2011;
108(5): 61–9.
Kein vertrauensvolles Gespräch
Leitlinien werden von Experten und Spezialisten er- stellt, die nur ihr eigenes Fachgebiet im Auge haben.
Eine Berücksichtigung anderer Fachgebiete findet nicht statt. Dies hat zur Folge, dass bei multimorbi- den Patienten mit beispielsweise fünf Krankheiten (was im Zeitalter von ICD, AKR und DRG nicht sel- ten ist) leitliniengerecht wohl mindestens 15 Medi- kamente verabreicht werden müssten. Wechselwir- kungen und Nebenwirkungen sind in solchen Fällen nicht mehr überschaubar, ganz zu schweigen von der fehlenden Compliance. Bei geriatrischen Patienten wird häufig eine Priorisierung notwendig sein. Für über 75-Jährige gibt es nur wenige Leitlinien. Medi- kamente sind in dieser Altersgruppe in aller Regel nicht geprüft.
In dem Artikel heißt es: „Die Einführung von Leit- linien ist eine der Strategien, mit welcher Gesund- heitsorganisationen qualitätsbezogenen und ökono- mischen Defiziten in der Gesundheitsversorgung be- gegnen wollen.“ Das Problem wird sein, dass für Hausärzte nicht mehr das vertrauensvolle Gespräch mit dem Patienten, sondern Überlegungen zur Erfül- lung von fremdgesteuerten Vorgaben („Qualitätsin- dikatoren“) im Mittelpunkt der Arzt-Patient-Bezie- hung stehen werden.
Es ist richtig, dass im Rahmen der Evidence- based-medicine randomisierte, kontrollierte Studien unverzichtbares Instrument der Evaluation sind.
Doch Signifikanz ist nicht immer gleich klinische Relevanz. Was für einen gesunden 20-Jährigen gilt, muss nicht für einen multimorbiden 85-Jährigen gel- ten. Trotz unseres immer größer werdenden Wissens über molekulare und genetische Zusammenhänge im menschlichen Organismus, trotz unserer Erkenntnis- se über Rezeptoren, Ionenkanäle oder Signaltrans- duktion stochern wir mit unseren (medikamentösen) Therapien häufig relativ blind in komplexen Netz- werken unseres Körpers und unserer Psyche herum, ohne dass wir die möglichen langfristigen Konse- quenzen solcher Therapien erkennen können.
DOI: 10.3238/arztebl.2011.0490b
LITERATUR
1. Karbach U, Schubert I, Hagemeister J, Ernstmann N, Pfaff H, Höpp HW: Physicians’ knowledge of and compliance with guidelines: an exploratory study in cardiovascular diseases. Dtsch Arztebl Int 2011;
108(5): 61–9.
zu dem Beitrag
Ärztliches Leitlinienwissen und die Leitliniennähe hausärztlicher Therapien: Eine explorative Studie am Beispiel kardiovaskulärer Erkrankungen
von Dr. rer. pol. Ute Karbach, Dr. rer. soc. Ingrid Schubert, Dr. med. Jens Hagemeister, Dr. rer. medic. Nicole Ernstmann, Prof. Dr. phil. Holger Pfaff, Prof. Dr. med. Hans-Wilhelm Höpp in Heft 5/2011
Klaus Lischka Villingendorf lilamed@gmx.de
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Deutsches Ärzteblatt
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18. Juli 2011 491M E D I Z I N
Barrieren bei der Umsetzung von Leitlinien
Um Ursachen für die hohe Prävalenz kardiovaskulärer Risikofaktoren in der Region Münster trotz bestehen- der Leitlinienempfehlungen in der Sekundärprävention der KHK näher zu untersuchen (1), führten wir in den Jahren 2002 bis 2004 am Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin der Universität Münster die COSIMA- Studie durch (2). Im Rahmen dieses Projekts wurden 1 023 niedergelassene Ärzte im Verwaltungsbezirk Münster der Ärztekammer Westfalen-Lippe zu den wichtigsten kardiovaskulären Risikofaktoren und zur Kenntnis und Akzeptanz von Leitlinien bei der Sekun- därprävention der KHK befragt. Unsere Ergebnisse be- stätigen weitgehend die im Artikel beschriebenen Be- funde (3), nämlich die überwiegende Akzeptanz einer leitlinienorientierten Medizin sowie eine bessere Kenntnis und höhere Akzeptanz von Leitlinien bei jün- geren Kollegen, Internisten und Ärzten, die an einem Qualitätszirkel teilnehmen.Unsere Ergebnisse weisen aber auch auf wichtige Gründe hin, die eine Umsetzung der Leitlinieninhalte erschweren. Die befragten Ärzte bezeichneten als Gründe vorrangig organisatorische Faktoren wie man- gelnde Vergütung (84 % Zustimmung) beziehungswei- se Mangel an Zeit (51 %). Darüber hinaus wurden die schlechte Compliance der Patienten (70 %) und wider- sprüchliche Aussagen in Leitlinien verschiedener Fach- gesellschaften (54 %) genannt. Hauptkritikpunkte an Leitlinien als Instrument einer evidenzbasierten Medi- zin fokussierten wiederum auf Kostenaspekte und eine vermeintliche Inflexibilität der Behandlungsempfeh- lungen.
Für eine erfolgreiche Implementierung von Leitlini- en in die Praxis scheint ein Vorgehen auf verschiedenen Ebenen entscheidend zu sein. Lokale Gegebenheiten, Wertevorstellungen niedergelassener Ärzte und wahr- genommene Barrieren könnten zum Beispiel durch
‚Audits’ im Rahmen lokaler Qualitätszirkel diskutiert werden, um gemeinsame Strategien für eine bessere Leitlinienimplementierung zu entwickeln. Von heraus- ragender Bedeutung ist darüber hinaus die Akzeptanz der Leitlinieninhalte durch die behandelnden Ärzte, die mit Leitlinien von hoher wissenschaftlicher Qualität und Transparenz erreicht werden könnte.
DOI: 10.3238/arztebl.2011.0491a
LITERATUR
1. Kotseva K, Wood D, De Backer G, De Bacquer D, Pyörälä K, Keil U:
EUROASPIRE Study Group. Cardiovascular prevention guidelines in daily practice: a comparison of EUROASPIRE I, II, and III surveys in eight European countries. Lancet 2009; 373: 929–40.
2. Heidrich J, Behrens T, Raspe F, Keil U: Knowledge and perception of guidelines and secondary prevention of coronary heart disease
Wesentliche Charakteristika
Die Vermittlung ärztlichen Leitlinienwissens stellt nur einen Baustein für die praktische therapeutische Anwen- dung von Leitlinienwissen dar. Der Weg zur klinischen Handlungskompetenz führt vom reinen Faktenwissen über die Begründung der Fakten, die Demonstration von Fertigkeiten bis hin zu deren selbstständiger Anwendung (1). Daher ist die Schlussfolgerung der Autoren, ärztli- ches Leitlinienwissen sei keine relevante Bezugsgröße höherer Leitlinienumsetzung, aus didaktischer Sicht eher selbstverständlich als eine Überraschung.
Die Autoren folgern, ärztliche Therapieentscheidun- gen seien weniger von medizinischen Daten als von Or- ganisationsroutinen, finanziellen Rahmenbedingungen und patientenbezogenen Aspekten geprägt. Diese Schlussfolgerung bildet wesentliche Charakteristika hausärztlicher Tätigkeit ab: die Einbeziehung von Patien- tenpräferenzen und mitbehandelnder Fachärzte in eine gemeinsame therapeutische Entscheidungsfindung (2).
Von einer Gleichverteilung dieser Faktoren in den unter- suchten Praxen von Ärzten mit adäquatem oder inadäqua- tem Leitlinienwissen kann nicht notwendigerweise ausge- gangen werden. Bedauerlicherweise wurde weder die Pa- tientenperspektive der vorgestellten Leitlinienumsetzung erhoben, noch wurden Daten zu harten patientenrelevan- ten Endpunkten (Mortalität, Hospitalisierung) ermittelt.
Zur Untersuchung des Gesamtprozesses von verschie- denen Strategien zur Leitlinien-Implementierung bis hin zur Auswirkung auf die Patienten sind cluster-randomi- sierte Studien geeignet, in denen die unterschiedlichen Implementierungsstrategien den Arztpraxen randomi- siert zugewiesen werden und eine standardisierte Be- handlung der Patienten in den Vergleichsgruppen gege- ben ist. Solche Studien existieren für die Behandlung und Sekundärprophylaxe kardiovaskulärer Erkrankun- gen in ausreichender Anzahl und Qualität (3). Vor der Er- probung neuer Implementierungshilfen wäre eine ziel- gruppen- und indikationsbezogene systematische Zu- sammenfassung und Diskussion des bereits vorhandenen Wissens sinnvoll.
DOI: 10.3238/arztebl.2011.0491b Dr. med. Robert Hector
Simmersfeld roberthector@t-online.de
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
among general practitioners and internists. Results from a physi - cian survey in Germany. Eur J Cardiovasc Prev Rehabil 2005; 12:
521–9.
3. Karbach U, Schubert I, Hagemeister J, Ernstmann N, Pfaff H, Höpp HW: Physicians’ knowledge of and compliance with guidelines: An exploratory study in cardiovascular diseases. Dtsch Arztebl Int 2011; 108(5): 61–9.
PD Dr. med. Thomas Behrens
Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin, Bremen behrens@bips.uni-bremen.de
Prof. Dr. med. Ulrich Keil
Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin, Münster
Dr. med. Jan Heidrich
Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin, Bremen
Interessenkonflikt
Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht.