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Doris Schaeffer, Martin Moers Ambulante Pflege von HIV-und Aids-Patienten Veröffentlichungsreihe

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Academic year: 2022

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Veröffentlichungsreihe der Arbeitsgruppe Public Health

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung ISSN-0948-048X

P95-201

Ambulante Pflege von HIV- und Aids-Patienten

von

Doris Schaeffer, Martin Moers

Berlin, Februar 1995

Publications series of the research unit Public Health Policy

Wissenschaftszentrum Berlin fur Sozialforschung D-10785 Berlin, Reichpietschufer 50

Tel.: 030/25491-577

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Abstract

Der vorliegende Bericht handelt von den positiven und negativen Reaktionen der ambulan- ten Pflege auf HTV und Aids.* Er kommt in weiten Zügen einer Defizitanalyse gleich. Die- ses eher negative Fazit mag erstaunen, denn auch in diesem Versorgungssektor wurden erhebliche Anstrengungen unternommen, um das Krankenversorgungswesen an Aids und Aids-Patienten anzupassen. Beispielsweise wurden im Rahmen des Sofortprogramms der Bundesregierung zur Bekämpfung der Immunschwächekrankheit Aids finanzielle und strukturelle Spielräume eröffnet, um eine den Anforderungen der Krankheit wie der Situa- tion der Patienten entsprechende ambulante Pflege zu ermöglichen. Desweiteren wurden Qualifikationsprogramme aufgelegt und Supervisionsmöglichkeiten bereitgestellt, um den durch Aids hervorgerufenen Kompetenzproblemen zu begegnen und auch auf personeller Ebene die erforderlichen Voraussetzungen für eine krankheitsangemessene Pflege Aids- Erkrankter zu schaffen. Dennoch war der Erfolg all dieser Maßnahmen begrenzt. Noch heute - nach mehr als einem Jahrzehnt Erfahrung mit Aids - stoßen Aids-Patienten in diesem Versorgungsbereich daher auf Meidungstendenzen, Abwehr, selektive Problembe- arbeitung und auch Inkompetenz.

Das bestätigt die sich derzeit durchsetzende Erkenntnis, daß in diesem Berufszweig der Krankenversorgung zwingend Innovationen geboten sind. Gleichzeitig zeigen die Ausfüh- rungen, vor welche Schwierigkeiten Veränderungen im Bereich der ambulanten Pflege ge- stellt sind und welch vielfältigen Hindernissen sie ausgesetzt sein können. So gesehen ist Aids ein lehrreiches Pilotprojekt, das allein deshalb studiert werden sollte, weil es zeigt, was zu beachten ist, wenn Veränderungsprozesse in der Pflege eingeleitet werden und wenn sie von Erfolg gekrönt sein sollen.

Er enthält Ergebnisse der Studie "Versorgung und Betreuung von Patienten mit HIV-Symptomen im Berliner Gesund- heitswesen. Präventive Potentiale kurativer Institutionen", die vom Bundesministerium für Forschung und Technolo- gie und der Senatsverwaltung für Wissenschaft und Forschung, Berlin, gefördert wurde (FKZ: V03492).

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Inhalt

1. Fragestellung und methodisches Vorgehen 3 2. Das Modellprogramm "Sozialstation": Aufgaben - Umsetzung -

Ergebnisse 6

2.1 Programmziele und -Umsetzung 7

2.1 Programmergebnisse 14

3. Normalisierung als Leitmotiv: Ambulante Pflege von Aids-

Patienten in der Regelversorgung 20

3.1 Das Aids-Pflegeteam - ein "von oben" erfolgender Anpassungsversuch

an HIV und Aids 20 3.2 Ziele und Aufgaben des Aids-Pflegeteams 21

3.3 Modellverlauf 21 3.3.1 Die Rekrutierung des Teams 21

3.3.2 Die Etablierungsphase 25 3.3.3 Wissensaneignung 26 3.3.4 Wissens Weitergabe und Erfahrungsakkumulation 27

3.3.5 Klientensuche 31 Exkurs: Patientenorientierung 34

3.3.6 Auswirkungen der Anpassung an die Normalisierungsstrategie 35

3.4 Das Ende des Aids-Pflegeteams 38 3.5 Lehren aus der Arbeit des Aids-Pflegeteams 40

4. Innovation als Leitmotiv: Analyse eines Aids-Spezialpflegedienstes 43

4.1 Der Aids-Spezialpflegedienst - ein "grass-root project" 43

4.2 Die Geschichte des Pflegedienstes 44

4.3 Das Pflegekonzept 46 Exkurs: Einige Begriffsklärungen 47

4.4 Das Serviceprofil und die Aufgaben der Berufsgruppen 50 4.5 Krankheitsverlauf und Auswirkungen auf die Pflege 52

4.6 Funktions- und Arbeitsweise 53 4.6.1 Vermittlung der Patienten und Aufnahme der Betreuung 53

Exkurs: Patientenorientierte Pflege nach dem Pflegeprozeßmodell 55 4.6.2 Beginn des Vollstadiums - gesundheitssichernde/aktivierende Pflege 56 4.6.3 Krisen, De- und Restabilisierungen - aktivierende/rehabilitierende Pflege 59

- 1 -

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4.6.4 Beginn der Abwärtsentwicklung - rehabilitierende/erhaltende Pflege 63

Exkurs: Schwerstkrankenpflege bei Aids-Patienten 63

4.6.5 Sterben - erhaltende/begleitende Pflege 67

Exkurs: Die Hospizidee 68 4.6.6 Einbeziehung und Betreuung der Angehörigen und Lebenspartner 71

4.6.7 Supervision 73 4.7 Organisation der Arbeit und Kooperation 76

4.7.1 Interne Organisation der Arbeit 76

4.7.2 Externe Kooperation 80 4.8 Lehren aus der Arbeit des Aids-Spezialpflegedienstes 86

Exkurs: Krankheitsverlauf. Pflegeerfordernisse bei Aids 90

5. Ambulante Pflege auf der Basis gewachsener Professionalisierung:

Die Reaktion der US-amerikanischen Pflege auf HIV und Aids 94

5.1 Die Stellung der Pflege im amerikanischen Gesundheitswesen 94 5.2 Ambulante Pflege von Aids-Patienten in Santa Clara County 96

5.3 Serviceprofil und Berufsgruppen 97 5.4 Organisationsstruktur und Arbeitsweise 99 5.5 Die Versorgungsgestaltung bei Aids-Patienten 102

Exkurs: Public Health Nursing 103 5.5.1 Public Health Nursing in der Praxis; Der Fall Aids 104

5.5.2 Anregungen und Lehren für deutsche Diskussion 107

6. Zwischenbilanz 109 7. Zwei Sondermodelle 114

7.1 Koordinationspflege: Ein Modell zur Regulation von Schnittstellen-

problemen zwischen stationärer und ambulanter Versorgung 114

7.1.1 Modellkonzept und -Umsetzung 115 7.1.2 Ursachen der Modellrealisierungsschwierigkeiten 117

7.1.3 Schlußfolgerungen und Lehren 125

7.2 Das Mobile Team Aids 127

7.2.1 Aufgabenstellung des Modells 1 128

7.2.2 Modellrealisierung 129 7.2.3 Diskussion der Modellerfahrungen 135

8. Zusammenfassende Betrachtung: Aids als lehrreiches Pilotprojekt 142

Literatur 148

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1. Fragestellung und methodisches Vorgehen

Der Bericht entstand vor dem Hintergrund der Studie "Versorgung und Betreuung von Patienten mit HIV-Symptomen im Berliner Gesundheitswesen. Präventive Potentiale ku- rativer Institutionen"1, innerhalb derer die professionelle Reaktion auf Aids in den unter- schiedlichen Aggregaten der Krankenversorgung untersucht wird. Während die Analyse der stationären Versorgung und der ambulanten Medizin bereits vorgelegt wurde (Schaeffer/Moers 1992), wird nunmehr ein dritter für die Versorgung Aids-Kranker wichtiger Bereich in Augenschein genommen.

Generell richtet sich das Interesse der Untersuchung auf die professionellen Akteure der Krankenversorgung und die von ihnen unternommenen Anstrengungen, um die Ver- sorgung an HIV und Aids anzupassen und eine dem Charakter der Krankheit und der Si- tuation der Patienten angemessene Betreuung zu ermöglichen. Spezielle Aufmerksamkeit gilt der Frage, welche Bemühungen erfolgten, um die Leistungen der Professionellen so zu verschränken, daß eine ineinandergreifende und kontinuierliche Versorgung der Er- krankten gewährleistet ist und den Patienten während aller Phasen des Krankheitverlaufs integrierte Versorgungspfade zur Verfügung stehen (siehe dazu Schaeffer/Moers 1992, 1993). Konkret sah die Vorgehensweise so aus, daß die einzelnen Bestandteile der Aids- Krankenversorgung - hier die ambulante Pflege - hinsichtlich

a) ihrer Binnenstruktur, der Konzeptualisierung der Aufgabenstellung, der Funktions- und Arbeitsweise sowie der institutionsinternen Kooperation und Kommunikation und vor allem

b) der Regulation der jeweiligen Naht- bzw. Schnittstellen zwischen den mit der Ver- sorgung befaßten Institutionen wie auch zwischen den Leistungen der unterschiedli- chen Berufe sowie

c) der Einbindung in das Netz versorgender Instanzen und der institutionsübergreifen- den Kooperations- und Kommunikationsmodi

untersucht wurden. Angesichts der Schwierigkeiten, vor die die Herstellung integrierter Versorgungspfade für chronisch Kranke aufgrund der Defizite des hiesigen Gesundheits-

wesens gestellt ist, wurde darüber hinaus analysiert, welche Innovationsbemühungen sei- tens der professionellen Akteure zur Ermöglichung einer ineinander greifenden und

darüber hinaus krankheitsangemessenen und der Situation Aids-Erkrankter entsprechen- den Versorgung erfolgten und wie tragfähig diese sind. Ebenso wurde untersucht, auf welchen Möglichkeitsspielraum und auf welche Probleme Veränderungsversuche im Krankenversorgungssystem stoßen und welches Innovationspotential auf der Ebene pfle- gerischen Handelns unter dem gegebenen strukturellen und institutionellen Bedingungs- gefüge mobilisierbar ist.

I Die Studie wurde vom Bundesministerium für Forschung und Technologie und der Senatsverwaltung für Wissen- schaft und Forschung, Berlin, gefördert.

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Das methodische Vorgehen ist in seinen Grundzügen bereits an anderer Stelle darge- legt worden (Schaeffer/Moers 1992) und soll hier nur soweit beleuchtet werden, wie es zum Verständnis des vorliegenden Berichts notwendig ist. Grundsätzlich war die Unter- suchung an dem von Strauss (1987) und Glaser/Strauss (1962, 1974) dargelegten Verfah- ren der empirisch gesättigten Theoriebildung orientiert. Die gewählte methodische Vor- gehensweise war also im wesentlichen induktiv, wechselte kontinuierlich zwischen Erhe- bung und Auswertung und dabei zwischen minimal und maximal kontrastierenden Fäl- len.

Die Datenerhebung erfolgte mittels offener Interviews, die den Befragten breiten Raum zur Entfaltung ihrer Sichtweise einräumen und daher stark narrativen Charakter haben. An den meisten Interviews sind mehrere Personen beteiligt, so insbesondere bei denen von spezialisierten Aids-Pflegeprojekten. Hier handelt es sich also um Gruppenin- terviews, die jedoch nicht den Charakter von Gruppendiskussionen haben. Gemäß der Fragestellung der Untersuchung standen bei der Befragung folgende Themenkomplexe im Mittelpunkt: Einschätzung des Pflegebedarfs bei Aids, Konzeptualisierung der Pflege, Organisation der Arbeit und der Arbeitsabläufe, interne Kooperation und Kommunika- tion, externe Kooperation und Kommunikation, Kooperation mit anderen Aids-Projekten, Interaktion mit Patienten und Angehörigen bzw. informellen Helfern, Schwierigkeiten im Versorgungsalltag.

Ähnlich wie bereits bei der Untersuchung der stationären Versorgung, mußte auch bei der Teiluntersuchung zur ambulanten Pflege besonderen Erhebungsbedingungen Rechnung getragen werden. Da die Untersuchung auf Berlin beschränkt ist (Kühn 1989), erfolgte gewissermaßen eine Totalerhebung. Befragt wurden alle hier vorhandenen Aids- Pflegeteams der Wohlfahrtsverbände und zusätzlich einige private Pflegeorganisationen, die Aids-Patienten pflegen. Die Aids-Pflegeteams wurden - soweit möglich - zweimal befragt, so daß das Datenmaterial auch Einblick in den Zeitverlauf gewährt. Da die An- zahl dieser Fälle nicht ausreichend war, um kontrastierende Vergleichsgruppen zu bilden und das Datenmaterial hinreichend abzudichten, wurden zusätzliche Interviews in Frank- furt und München durchgeführt. Desweiteren wurde aus. den gleichen Gründen ein im Kontext eines anderen Projekts erhobenes Datenmaterial hinzugezogen.2 Auf diese Weise wurde intendiert, die Validität und Generalisierungsfähigkeit zu erhöhen.

Erwähnt werden muß eine weitere Datenquelle. Im Rahmen zweier Forschungsauf- enthalte in San Francisco (Moers/Schaeffer 1993b) wurden unter anderen drei dort ansäs- sige Pflegeanbieter befragt. Dieses Datenmaterial diente ebenfalls zur Kontrastierung.

Außerdem wurden zwei " Sondermodelle" im Bereich ambulanter Pflege in die Erhe- bung einbezogen: das Koordinationspflegemodell und das Mobile Team Aids.

Insgesamt umfaßt die Datenbasis 23 Interviews, die sich wie folgt aufgliedern:

11 Interviews mit Aids-Pflegeteams der Wohlfahrtsverbände, 9 Interviews mit privaten Pflegeanbietern,

3 Interviews mit Mitarbeitern aus Sondermodellen.

2 Bei dem ergänzend herangezogenen Datenmaterial handelt es sich um Gruppendiskussionen und Einzelinterviews mit Pflegeprojekten des Modellprogramms "Sozialstaüonen" und deren Supervisoren. An dieser Stelle möchten wir uns ausdrücklich bei den Mitarbeitern des Projekts "Supervision in der Aids-Arbeit" für die Kooperation bedanken.

, 4 -

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Von diesen 23 Interviews wurden 17 in Berlin, zwei in Frankfurt, eines in München und drei in den USA durchgeführt.

Die 20 in der BRD durchgeführten Interviews wurden alle protokolliert und transkri- biert und anschließend textanalytisch ausgewertet. Lediglich die US-amerikanischen In- terviews wurden nicht transkribiert. Hier erfolgte statt dessen eine ausführliche Protokol- lierung, die Grundlage der Auswertung bildete zur Erhebung und Auswertung (siehe Schaeffer/Moers 1992).

Der Aufbau des Berichts sieht folgendermaßen aus: Nach einem Überblick über die Programmatik und die Erfahrungen des im Rahmen des Sofortprogramms der. Bundesre- gierung zur Bekämpfung der Immunschwächekrankheit Aids geförderten Modellpro- gramms "Sozialstationen" und die bundesweite Situation der ambulanten Aids-Pflege, re- konstruieren wir zwei typische Anpassungsversuche. Auf der einen Seite analysieren wir die Arbeit eines Aids-Pflege-Teams und auf der anderen die eines Aids-Spezialpflege- dienstes eines Wohlfahrtsverbands. Dabei konzentrieren wir uns auf allgemeine Struktur- merkmale, die insgesamt für die Reaktion der ambulanten Pflege auf HIV und Aids cha- rakteristisch sind. Weil beide Versuche unserer Meinung nach entscheidend durch die Si- tuation des Pflegeberufs in der BRD geprägt sind, kontrastieren wir sie mit US-amerika- nischen Erfahrungen. Ausbildung, Professionalisierung, Status und Standards dortiger Pflegekräfte unterscheiden sich erheblich von den hiesigen, so daß aus dieser Kontrastie- rung wichtige Erkenntnisse für die bundesdeutsche (Aids-) Pflege gezogen werden kön- nen. Abschließend analysieren wir zwei unter Innovationsgesichtspunkten interessante Sondermodelle: das "Koordinationspflegemodell", dessen Aufgabe darin bestand, bei der Entlassung der Patienten aus dem Krankenhaus den Transfer in die Obhut ambulanter Pflegedienste sicherzustellen und dafür Sorge zu tragen, daß Schnittstellenprobleme zwi- schen stationärer und ambulanter Verorgung ausgeräumt werden und das "Mobile Team Aids", das den Transfer aidsspezifischen Wissens in die ambulante Pflege garantieren und neue wissenschaftliche Erkenntnisse diffundieren und so aufbereiten sollte, daß sie in der Praxis verwendungsfähig sind. Beide Modelle reagieren auf zentrale Strukturproble- me im Krankenversorgungswesen: die Schnellet)igkeit der Wissensproduktion und die ge- wachsene Desintegration von stationärer und ambulanter Versorgung. Aufgrund ihrer über Aids hinausreichenden Bedeutung schenken wir ihnen besondere Aufmerksamkeit

(siehe Kapitel 6 und 7).3

3 Doris Schaeffer zeichnet für die Kapitel 1, 2, 7 und 8 verantwortlich, Martin Moers für die Kapitel 3, 4 und 6. Das Kapitel 5 wurde gemeinsam verfaßt.

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2. Das Modellprogramm "Sozialstationen":

Aufgaben - Umsetzung - Ergebnisse

Als Mitte der achtziger Jahre vermehrt Aids-Erkrankte im Krankenversorgungswesen, in Erscheinung traten, wurde alsbald deutlich, daß damit auch auf die ambulante Pflege neue Aufgaben zukommen würden. Seit einigen Jahrzehnten, hatte die ambulante Pflege nicht mehr mit Epidemien zu tun gehabt. Außerdem war sie nicht ausreichend auf letale Erkrankungen eingestellt und verfügte über relativ wenig Erfahrung mit jungen Patien- tengruppen und schon gar nicht mit solchen, die in subkultureUe Milieus eingebunden sind. Hinzu kam, daß die Behandlung und Versorgung schwerwiegender Erkrankungen - trotz der seit den siebziger Jahren verfolgten Maxime "ambulant vor stationär" - nach wie vor weitgehend dem Krankenhaussektor vorbehalten war. Aids-Erkrankte aber soll- ten so lange wie möglich in ihrem privaten Lebensumfeld bleiben können und ihre Kran- kenhausaufenthalte so beschränkt wie möglich sein - darüber bestand Konsens. War schon die Entwicklung wirksamer therapeutischer Interventionsmöglichkeiten nicht ab- sehbar, so sollte ihnen auf diese Weise wenigstens für die verbleibende Lebenszeit ein Höchstmaß an Lebensqualität gewährt werden. Um das zu realisieren, waren eine Reihe von Anpassungsleistungen und Umstrukturierungen in der Krankenversorgung notwen- dig, die auch die Pflege nicht unberührt lassen konnten. Unübersehbar war, daß ohne Aufwertung der Bedeutung der ambulanten Pflege für die Krankenversorgung und ohne Schaffung entsprechender qualifikatorischer und infrastruktureller Voraussetzungen die Pflege die mit einer weitgehend extramuralen Versorgung schwer bzw. letal Erkrankter verbundenen Aufgaben nicht wahrnehmen konnte. Und ebenso bedurfte es neuer Pflege- konzepte und -modelle und einer engeren Vernetzung pflegerischer Dienste mit allen an- deren mit der Betreuung der Erkrankten befaßten Einrichtungen.

Deshalb wurde im Rahmen des Sofortprogramms der Bundesregierung zur Bekämp- fung der Immunschwächekrankheit Aids ein spezielles Modellprogramm geschaffen. Sein Titel "Ausbau ambulanter Hilfen für Aids-Erkrankte im Rahmen von Sozialstationen"

gibt bereits Auskunft über die mit ihm verbundenen Intentionen. Durch personelle Er- gänzung ambulanter Pflegedienste und Ausweitung des Angebots an ambulanten Hilfen sollten eine den Bedingungen der Erkrankung entsprechende Versorgung voa Aids-Pa- tienten ermöglicht und Erkenntnisse darüber gesammelt werden, "ob auf den Bedarf die- ser Patienten zugeschnittene ambulante Hilfen von sozialen Diensten ... die häusliche Versorgung sicherstellen können, um eine ggf. notwendig werdende stationäre Unter- bringung zu vermeiden" (Bericht der Bundesregierung 1989-, S. 18).

Insgesamt wurden 206 und eine viertel Stellen für die Dauer von vier Jahren (1987 bis 1991) bereitgestellt. Mit ihnen wurden vorhandene Pflegedienste/Sozialstationen per- sonell ergänzt oder neue auf die Besonderheiten der Betreuung von Aids-Patienten zuge- schnittene Pflegedienste und Hilfeangebote geschaffen (Aids-Spezialpflegedienste, Wohnangebote sowie Projekte, die ihre Aufgabe primär in der Koordination und Integra- tion von Versorgungsleistungen sahen).

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Die mit dem Modellprogramm gesammelten Erfahrungen sollen hier soweit darge- stellt werden, wie es zum Verständnis der im Anschluß erfolgenden Fallanalysen not- wendig ist (ausführlicher vgl. Besselmann u.a. 1990, 1991, 1992; Wyns/Borchers 1992).

2.1 Programmziele und -Umsetzung

Im einzelnen bestanden die Ziele des Modellprogramms, das gemeinhin unter dem Kurz- titel "Sozialstationen" firmiert, darin:

- die krankenpflegerische und hauswirtschaftliche Versorgung Aids-Erkrankter sicherzustellen und die dazu notwendige Konzeptarbeit zu leisten, - Modelle zur psychosozialen Hilfe und Begleitung der Erkrankten und ihrer Angehörigen zu

entwickeln und umzusetzen,

- gegebenenfalls auf den Bedarf von Aids-Patienten zugeschnittene neue ambulante Hilfen zu konzipieren und erproben, so z.B. Wohnmodelle oder Hospize,

- zur Verknüpfung der Pflege mit anderen ambulanten Diensten/Hilfen und zum Aufbau eines ineinandergreifenden Versorgungsnetzes für Aids-Erkrankte beizutragen,

- Fortbildung und Information von Beschäftigten in Pflege- und Sozialberufen, die nicht am Modellprogramm beteiligt sind, durchzuführen.

Bundesweit variierte die Ziel- und Aufgabenrealisierung relativ stark. Das hat seinen Grund unter anderem darin, daß das Modellprogramm an gewachsene regionale Struktu- ren anknüpfen und diese ergänzen sollte, sei es dergestalt, daß Aufgaben wahrgenommen wurden, die durch das bestehende Versorgungsangebot nicht abgedeckt waren, oder aber existierende Versorgungsstrukturen in die Lage versetzt wurden, dem mit dem Auftau- chen von Aids neu entstehenden Versorgungs- und Betreuungsbedarf adäquat zu begeg- nen. Über alle Unterschiede hinweg läßt sich aber feststellen, daß die im Rahmen des Programms bereitgestellten Stellen an den meisten der 35 Modellstandorte gebündelt und sogenannte "Aids-Pflegeteams" geschaffen wurden, die sowohl betreuende wie auch ver- sorgungsstrukturelle Aufgaben wahrnahmen und dabei je nach regionalen Gegebenheiten und Patientenaufkommen unterschiedliche Aufgabenschwerpunkte setzten.1

Fast überall stellte sich die Umsetzung der Programmziele nicht einfach dar. Ausschlag- gebend dafür sind unterschiedlich gelagerte Gründe.

1. Zunächst ist anzuführen, daß mit Aids eine bis dahin unbekannte Krankheit aufge- taucht war. Die Mitarbeiter des Programms waren folglich, was die krankheitsspezi- fischen Besonderheiten ihrer Tätigkeit anbetraf, mit einer neuen Problematik kon- frontiert, wußten zwar aus amerikanischen Erfahrungen, daß eine ambulante Versor-

1 Unter diese sehr allgemeine Charakterisierung läßt sich auch die Situation in Berlin subsumieren. Hier wurden ins- gesamt 36 und eine halbe Stellen bereitgestellt. Mehrheitlich wurden sie zum Ausbau der existierenden Pflegedien- ste genutzt: Die in der ambulanten Pflege tätigen Wohlfahrtsverbände erhielten jeweils fünf zusätzliche Stellen (vier Pflegekräfte und eine Sozialarbeiterstelle). Diese Mitarbeiter wurden zu Aids-Pflegeteams zusammengefaßt und sollten sozialstationsübergreifend für die Betreuung aller Aids-Patienten des jeweiligen Trägers zuständig sein (sie- he Kapitel 4). Des weiteren wurden ein Aids-Spezialpflegedienst gefördert (siehe Kapitel 3), ein Pflegeteam, das sich auf die Zielgruppe "aidskranke Kinder" konzentrierte, ein Wohnprojekt, das von einem der geförderten Aids- Pflegeteams aufgebaut und begleitet wurde, sowie die zwei eingangs erwähnten Sondermodelle (Kapitel 7).

Im Vergleich zu anderen Regionen wies die Situation in Berlin eine Besonderheit auf: Die Arbeit der Aids-Pflege- teams wurde in Berlin trägerübergreifend begleitet und koordiniert. Es wurden regelmäßig stattfindende Treffen organisiert, in denen relevante Entwicklungen im Bereich der Aids-Krankenversorgung erörtert wurden und die außerdem dem Erfahrungsaustausch dienten.

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gung bei Aids prinzipiell möglich ist, hatten aber keine Vorstellung davon, welche Aufgaben im einzelnen auf sie zukommen würden und wie diese konzeptualisiert sein könnten bzw. wie ihnen begegnet werden könnte. Besonders hinsichtlich des Ver- laufs der Krankheit und des mit ihr einhergehenden Betreuungs- und Pflegebedarfs lagen zu Beginn des Modellprogramms wenig Erfahrungen vor, und selbst diese wa- ren auf Einzelerfahrungen begrenzt. Auch der Bestand an gesichertem Wissen war gering und vermochte wenig Anhaltspunkte zu bieten. Die Arbeit war also gerade zu Beginn mit einem hohen Maß an Unsicherheit und Vagheit behaftet: Konzeptuelle Überlegungen hatten hypothetischen, Interventionen erprobenden Charakter, und beide bedurften stetiger Reflektion und Anpassung an neue Gegebenheiten.

2. Gleichzeitig waren gerade zu Beginn Stigmatisierungs- und Marginalisierungstenden- zen von HIV-Infizierten, doch auch von jenen, die mit HIV und Aids befaßt sind, sowie Ängste vor Ansteckung noch sehr viel weiter verbreitet als heute, und das trug dazu bei, daß sich die Implementation des Programms schwierig gestaltete. Zumeist stießen die Aids-Pflegeteams auf enorme Akzeptanzprobleme. Nicht selten wurden sie mit eben jenem Stigma belegt, das auch der Krankheit anhaftet, hatten mit massiven Widerständen und Vorbehalten zu kämpfen und wurde ihnen - teils unterschwellig, teils offen - die Unterstützung verweigert.

Als Beispiel kann die Beschaffung geeigneter Räumlichkeiten herangezogen werden. Sie ent- puppte sich mancherorts als nicht eben leichtes Unterfangen: "Das Ministerium oder besser die Süssmuth gab eine Menge Geld, und wir bekamen den Keller", In dieser sarkastischen Feststellung einer im Modellprogramm tätigen Pflegekraft scheint durch, daß die Teams zu- nächst ein beträchtliches Maß an Energie und Zeit dafür einsetzen mußten, um überhaupt geeignete Voraussetzungen für die Realisierung ihrer Aufgaben zu schaffen: Räume zu er- halten, Schreibtische zu organisieren, Telefonanschluß zu bekommen etc.

Vielerorts waren die Aids-Pflegeteams lange Zeit mit der Herstellung von aufgaben- angemessenen Arbeitsbedingungen befaßt und hatten sich ihrem Gefühl nach damit bereits nahezu erschöpft, bevor sie mit der Umsetzung ihrer eigentlichen Aufgaben beginnen konnten.

3. Nicht minder problematisch stellte sich die institutionelle Verankerung dar. Denn auch die Träger standen dem neuen Aufgabengebiet zumeist skeptisch gegenüber, sa- hen sich zwar genötigt, auf Aids zu reagieren, wußten aber nicht, ob sie sich auch wirklich engagieren sollten. Die Ambivalenzen der Träger gegenüber dem neuen Aufgabengebiet paarten sich mit Aversionen auf kollegialer Ebene. Vielfach wurden die Teams daher nur irgendwie an bestehende Strukturen angebunden, nicht aber in- tegriert. Dadurch verfügten sie auf der einen Seite über ungeahnt große Freiräume, waren aber zugleich immer auch "ein Stück ausgebootet". Faktisch waren sie weitge- hend auf sich selbst gestellt. Das gilt auch für die Aufgabenrealisierung. Von Aus- nahmen abgesehen fehlte es den Teams an fachlicher Begleitung und Unterstützung seitens der Träger, und dort, wo diese anfänglich noch gewährt wurde, versandete sie alsbald.2

2 Ebenso häufig konnte das gegenteilige Phänomen beobachtet werden: Mancherorts sahen sich die Teams plötzli- chen Übergriffen auf üir Aufgabengebiet und Eingriffen in ihre Arbeit ausgesetzt, und zuweilen wurde sogar ver-

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4. Der mangelnde institutionelle Rückhalt sowie die fehlende fachliche Unterstützung wogen um so schwerer, als sich in fast allen Pflegeteams bald Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Modellaufgaben einstellten. Diese waren zu einem erheblichen Teil inhaltlicher Natur. Mag die Auflistung der zuvor genannten Programmziele und Aufgaben auf den ersten Blick einleuchtend erscheinen, so wird bei genauerer Be- trachtung sichtbar, daß es sich um Aufgaben unterschiedlichen Charakters handelt.

Auf der einen Seite sollten klientenbezogene Aufgaben wie Kranken- und Hauspfle- ge, psycho-soziale Begleitung und Angehörigenarbeit durchgeführt, auf der anderen nicht-klientenbezogene Funktionen wahrgenommen werden: Aufbau von Versor- gungsstrukturen, Vernetzung und Fortbildung. Beide Aufgabenbereiche differieren nicht nur hinsichtlich ihres Gegenstands, ihrer Ziele und der ihnen zugrundeliegen- den Handlungslogiken, sondern bedürfen auch unterschiedlicher Problemlösungs- und Umsetzungsstrategien. Das stellte sich nicht nur als eine der besonderen und in ihrer Bedeutung unterschätzten Herausforderungen für die Mitarbeiter des Modell- programms dar, sondern war auch Ursache vieler Handlungsprobleme.

5. Betrachtet man das Verhältnis von Aufgaben- und Qualifikationsprofil, wird ein wei- teres Problem offenbar. Zum überwiegenden Teil waren die Stellen mit Krankenpfle- gekräften (ca. 65 Prozent) und Sozialarbeitern (ca. 25 Prozent) besetzt. Darüber hin- aus gehörten auch Hauspflegekräfte (ca. 10 Prozent) und vereinzelt Diplompädago- gen zum Spektrum der Programmitarbeiter (Besselmann u.a. 1992). Aber gerade die Pflegeberufe waren hier mit Aufgaben konfrontiert, die mit ihrem Qualifikationspro- fil nicht in Übereinstimmung stehen. Insbesondere für die Bearbeitung der nicht- klientenbezogenen Aufgaben des Programms waren ihre Qualifikationsvoraussetzun- gen unzureichend. Fortbildung, Vernetzung, Versorgungsorganisation etc. sind Auf- gaben, die eines anderen Kompetenzprofils bedürfen als Pflegeausbildungen es ver- mitteln. Doch auch mit den klientenbezogenen Aufgaben waren die Pflegekräfte par- tiell überfordert: psycho-soziale Betreuung, Angehörigenarbeit, Sterbebegleitung und generell Konzeptualisierungsaufgaben finden in den Ausbildungen nicht die ihrer Be- deutung im Pflegealltag entsprechende Berücksichtigung.3 Zwar wurde für die Mitar- beiter der Modellprogramme eigens ein Qualifikationsprogramm4 bereitgestellt, doch konzentrierte sich das auf aidsspezifische Themen. Die soeben angedeuteten Kompe- tenzprobleme hingegen hatten - so dürfte deutlich geworden sein - aidszwspezifische Ursachen.

Diesen Diskrepanzen zwischen Aufgabenstellung und Qualifikationsprofil wurde bei der Konzipierung des Modellprogramms zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Bei der Programmrealisierung aber spielten sie eine nicht zu unterschätzende Rolle. Auf sich selbst verwiesen und nicht eben förderlichen Kontextbedingungen ausgesetzt,

sucht, die bereitgestellten Ressourcen für andere, als sinnvoller empfundene Aufgaben zu nutzen (z.B. um Kapazi- tätsengpässen zu begegnen).

3 Nicht wesentlich anders war es allerdings um die Qualifikationsvoraussetzungen der Sozialarbeiter bestellt: Fragen des Versorgungsmanagements und der Vernetzungsarbeit innerhalb des Versorgungssystems sind - obschon sie den sozialarbeiterischen Berufsalltag in hohem Maß determinieren - nicht regulärer Bestandteil der Ausbildung.

4 Es war Bestandteil des Sofortprogramms der Bundesregierung zur Bekämpfung der Immunschwächekrankheit Aids und sah bundesweit für die Mitarbeiter der sieben Modellprogramme begleitend Fort- und Weiterbildungen vor.

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pendelten die Teams zuweilen zwischen den verschiedenen Aufgaben hin und her:

konzentrierten sich zeitweise auf nicht-klientenbezogene Aufgaben und wandten sich - drohten sie sich dabei in Schwierigkeiten mangels konzeptueller Klarheit, geeigne- ter Umsetzungsstrategien oder hinreichender Unterstützung seitens der Träger zu ver- stricken - vermehrt der Klientenbetreuung zu. Dann wieder besannen sie sich ihrer Fort- und Weiterbildungsaufgaben. Stießen die dazu gestarteten Aktivitäten auf Hin- dernisse, kehrten sie zu den klientenbezogenen Aufgaben zurück etc. Viele Teams gaben also gerade zu Beginn ein unklares Bild ab, und das wiederum erschwerte die Verankerung im Versorgungssystem und die Ausbildung tragfähiger Kooperations- strukturen. Sie waren zwar engagiert, doch konnte das nicht die Diffusionen, die aus den Schwierigkeiten der Aufgabenumsetzung und den vielfältigen Implementations- mängeln erwuchsen, ausräumen.

6. Ein anders gelagertes Problem wird deutlich, betrachtet man die personelle Situation, Von den insgesamt 206,25 bewilligten Stellen des Modellprogramms waren Mitte

1990 87 Prozent besetzt (Besselmann u.a. 1990, S. 13), und das entspricht ungefähr dem Besetzungsdurchschnitt über den Verlauf der Zeit. Insgesamt war die Personal- fluktuation relativ groß. So wechselte bereits in den ersten beiden fahren durch- schnittlich jeder vierte Mitarbeiter die Stelle, im letzten lahr des Förderzeitraums schieden sogar 50 Prozent der Mitarbeiter aus (dies. 1992). Zwar konnten anfänglich die freigewordenen Stellen relativ schnell wieder besetzt werden, gleichwohl beein- trächtigte die Personalfluktuation die Aufgabenrealisierung. Einarbeitungszeiten, die Suche nach neuen Kooperationsarrangements, Um- und Redefinitionen des Selbst- und Aufgabenverständnisses kosteten die Teams Zeit und Energie.5

Versucht man auf der Basis der vorliegenden Daten Rückschlüsse auf die Ursachen der Fluktuation zu ziehen, zeigt sich, daß Mitarbeiterwechsel dort am häufigsten wa- ren, wo Teamkonflikte und Schwierigkeiten der Aufgabenrealisierung den Modellall- tag bestimmten. Gleichzeitig potenzierte der häufige Mitarbeiteraustausch die Proble- me der Aufgabenrealisierung, führte meist - selbst wenn Teamkonflikte Ursache des Ausscheidens waren - nur zwischenzeitlich zur Entspannung der Situation und zog dann neue und andere Probleme nach sich, was die Arbeitsfähigkeit der Teams er- neut lähmte und neue Diskontinuitäten zur Folge hatte.

7. Wieder andere Schwierigkeiten resultierten aus der epidemiologischen Entwicklung.

Die bereitgestellten Stellen des Modellprogramms wurden flächendeckend auf der Basis grober epidemiologischer Schätzungen verteilt. Diese aber erwiesen sich par- tiell als unzutreffend, so daß manche Regionen an der Zahl der Erkrankten gemessen überausgestattet, andere hingegen unterausgestattet waren. Betrachten wir dazu eini- ge Daten:

5 Solche Personalwechsel trafen nicht alle Aids-Pflegeteams gleichermaßen. Einige blieben davon nahezu unberührt, in anderen Teams hingegen wechselten zwischenzeitlich alle Mitarbeiter, so daß sich völlig andere Personalkon- stellationen ergaben (dies. 1989). Nicht immer waren diese Austauschprozesse nach kurzer Zeit vorbei. Oft kün- digten Mitarbeiter in intervallförmigen Kettenreaktionen, die langandauernde Labilisierungen nach sich zogen und die Arbeitsfähigkeit über einen langen Zeitraum empfindlich minderten.

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In Schleswig-Holstein wurden bis zum Ende des Förderzeitraums seit 1982 insgesamt 128 Aids-Fälle (inklusive der bereits Verstorbenen) gemeldet (Bericht des Aids-Zentrums des BGA 12/91). Ihnen standen in der Zeit von 1986 bis 1990 acht modellfinanzierte Pflegekräf- te gegenüber (Besselmann u.a. 1991). Für Niedersachsen sieht dies ähnlich aus: Hier gab es 327 Fälle und 22,25 modellfinanzierte Pflegekräfte. Als Kontrast dazu sei die Situation in anderen Regionen dargestellt: Bis zum Dezember 1991 gab es in Berlin 1566 Meldungen und 36,5 Pflegekräfte (von denen allein sieben nicht direkt in die Pflege involviert waren), Nordrhein-Westfalen meldete 1 677 Fälle und verfügte über 25 Pflegekräfte im Modellpro- gramm Sozialstationen. Von den Modellpflegekräften wurden während des Gesamtförder- zeitraums in Schleswig Holstein insgesamt 77 Personen betreut, in Niedersachsen 80, in Berlin 803 und in Nordrhein-Westfalen 572 (Besselmann u.a. 1992). Um eine Vorstellung von der durchschnittlichen Betreuungszahl zu erhalten, seien ergänzend einige Zahlenanga- ben aus dem Jahr 1990 angeführt. In diesem Jahr wurden beispielsweise in Schleswig-Hol- stein 19 Personen betreut, von denen sieben Krankenpflege erhielten. Demgegenüber wur- den in Berlin 196 Klienten betreut, von denen 108 krankenpflegerische Versorgung erhielten (Besselmann u.a. 1991, S. 10).

Diese Zahlen mögen ausreichen, um zu zeigen, daß bei der Verteilung der Stellen des Modellprogramms insgesamt eine Tendenz zur Fehlausstattung zu verzeichnen ist. Für die Pflegeteams erwuchs daraus eine mißliche Situation. Waren die Pflege- teams in den Zentren der Pävalenz alsbald meist überfordert, so die anderen unter- fordert. Besonders die Pflegeteams außerhalb der Zentren der Prävalenz waren zwar motiviert, Betreuungs- und Pflegefunktionen wahrzunehmen, mußten sich aber ge- zwungenermaßen angesichts des Mangels an Patienten auf klientenferne Aufgaben verlegen und damit weitgehend auf fachfremde Gebiete begeben, die sie mit dem ih- nen zur Verfügung stehenden Problemlösungspotential nicht ohne weiteres bearbeiten konnten. Einige nahmen auch Aufgabenverlagerungen vor (boten z.B. Bildungsmaß- nahmen für HIV-Infizierte an) und suchten auf diese Weise nach Möglichkeiten, die bereitgestellten Ressourcen sinnvoll zu nutzen.6 Hingegen waren die Pflegeteams in den Zentren der Prävalenz und vor allem die Aidsspezialpflegedienste nur zu Beginn der Laufzeit des Modellprogramms mit einer überschaubaren Zahl an Patienten kon- frontiert. Schon bald sahen sie sich vor Kapazitätsprobleme gestellt und verfügten über zu wenig Ressourcen, um den an sie gestellten Anforderungen begegnen zu können (siehe Kapitel 3).

Diese Situation blieb nicht ohne Folgen auf die Atmosphäre und das Verhältnis der Pflegeteams. Konkurrenz, Mißgunst, Ärger und Legitimationsprobleme tauchten auf.

Sie wurden durch den Druck, der seitens der Träger und der Begleitforschung auf den Teams lastete, verstärkt. Als Reaktion begannen vor allem die unter Patienten- mangel leidenden Pflegeprojekte damit, ihre Situation zu verschleiern und ihre Mi- sere zu kaschieren. Doch auch das zeitigte ungewollte Konsequenzen: verhinderte ra- tional angemessene Problemlösungen und verunmöglichte notwendige Korrekturen sowie die Suche nach diversifizierten, den unterschiedlichen regionalen Bedingungen entsprechenden Strategien der mit dem Modellprogramm verbundenen Intentionen.

Aufgrund der gemessen an den epidemiologischen Realitäten unproportionalen Stel- lenverteilung entstanden also eine ganze Reihe von Folgeproblemen, die sich im Ver- lauf der Realisierung des Modellprogramms mehr und mehr verselbständigten und

6 Diese Situation teilten sie in den Zentren der Prävalenz (nicht nur in Berlin) mit manchem der bei den Wohlfahrts- verbänden angesiedelten Aids-Teams, wobei deren Patientenferne andere Ursachen hatte, wie wir zuvor andeute- ten, nämlich hauptsächlich Resultat von Implementationsdefiziten war.

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den Verlauf des Modellprogramms beeinträchtigten. Außerdem unterminierten sie die Ausbildung problemangemessener Versorgungsstrukturen. Viele der heute außer- halb der Zentren der Prävalenz speziell existenten Versorgungsdefizite im Bereich ambulanter Pflege hätten vermieden werden können, wäre den sich hinter den atmo- sphärischen Dissenzen und den sich hinter den unterschiedlichen Entwicklungen und Schwierigkeiten der zum Modellprogramm gehörenden Teams verbergenden Proble- men mehr Beachtung geschenkt worden.

Diese wirkten sich um so nachhaltiger aus, als während des Programmverlaufs die Pflegeerfordernisse insgesamt stiegen und sich zugleich qualitativ veränderten.

Obschon die Zuwachsrate nicht so dramatisch ist, wie zu Beginn des Auftauchens von HIV und Aids angenommen, nimmt die Zahl der HIV-Infizierten wie auch der Aids-Erkrankten absolut betrachtet weiterhin zu. Folglich erhöht sich nach wie vor der Bedarf an ambulanter pflegerischer Betreuung, wie sich im Verlauf der Modellförderung bereits zeigte. Prognosti- ziert wird, daß diese Entwicklung zukünftig auch vermehrt Regionen betreffen wird, in de- nen bislang nur geringer Versorgungsbedarf bestand (Besselmann u.a. 1991).

Doch nicht nur mit einer in Korrespondenz zur epidemiologischen Entwicklung stehen- den quantitativen Zunahme der ambulanten Versorgungserfordernisse wurden die Teams konfrontiert. Gleichzeitig veränderte sich die Qualität des Bedarfs, denn bereits während der Laufzeit des Programms setzte die Chronifizierung von Aids ein und änderten sich die an die Pflege gestellten Anforderungen.

Ursächlich dafür sind die verbesserten medizinischen Prophylaxe- und Therapiemöglich- keiten. Aufgrund dieser Entwicklung sind einige der zum Krankheitsbild Aids gehörenden opportunistischen Infektionen, die noch vor einiger Zeit meist zum Tod führten, heute be- handelbar. Verbunden damit hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung nach der Dia- gnosestellung Aids verlängert (von ca. sechs Monaten ist sie auf ca. 1,5 Jahre gewachsen).7 Allerdings ist die gewonnene Lebenszeit nicht unbedingt gesunde Lebenszeit, denn an die Stelle der früher dominierenden Infektionen sind andere getreten: Zytomegalien, Toxoplas- mosen mit neurologischen Folgen, unhehandelbare Durchfälle» Auszehrung etc. Damit be- stimmen heute vielfach andere und zudem kompliziertere Krankheitsbilder das Krankheitsge- schehen, und das ist nicht ohne Rückwirkung auf die Dynamik des Krankheitsverlaufs ge- blieben. Zunehmend deutlich kristallisiert sich heraus, daß der Krankheitsverlauf einer ande- ren Phasierung unterliegt als zu Beginn des Auftauchens von Aids. War zunächst davon aus- gegangen worden, daß Aids eine relativ kurze ambulante pflegerische Betreuung erfordert, in der es überwiegend um Sterbebegleitung geht, so änderte sich das mit der Chronifizierung von Aids. Der Krankheitsverlauf beginnt nunmehr mit einer zwar von Krisen durchbroche- nen, aber doch noch relativ stabilen Phase, der sich instabile Phasen anschließen, die zuwei- len langsam, zuweilen sehr plötzlich in eine krisenreiche Abwärtsentwicklung münden, die mit dem Tod endet. Bereits in den instabilen Phase kommt es oft zu irreversiblen Funktions- einbußen und sonstigen Autonomiebeeinträchtigungen und folglich einem wachsenden und dabei sehr wechselhaften Versorgungs- und Betreuungsbedarf. Diese Entwicklung verdichtet sich in dem anschließenden Stadium, ja kulminiert geradezu.

Verbunden damit ist ein längerfristiger Unterstützungsbedarf entstanden - ein Bedarf, der Betreuungskonzepte erfordert, die den komplexer werdenden Problematiken durch Mehrdi- mensionalität und Flexibilität Rechnung tragen und in denen der Pflege über begleitende Funktionen hinaus eine ganze Reihe von Aufgaben zuteil werden, die nicht zum Standardre- pertoire ambulanter Pflege gehören (dazu Damkowsky u.a. 1988; Garms-Homolovä/Schaef- fer 1992). In Anbetracht der therapeutischen Erfolge der Medizin ist davon auszugehen, daß sich diese Entwicklung zukünftig fortsetzt, so daß sich der Pflegebedarf noch deutlicher, als es derzeit schon bemerkbar ist, erhöht und die Pflege längeren und schwierigeren Krank- heitsverläufen zu begegnen haben wird.

Geht es um versorgungsepidemiologische Aspekte, ist eine dritte Entwicklung zu erwäh- nen, die ähnliche Folgen zeitigte. Die Behandlung von Aids-Kranken folgt mittlerweile - zu-

7 Bei den der BGA-Aids Zentren gemeldeten Fällen ist sie von 0,5 auf 1,5 Jahre gestiegen. Die Statistik zeigt jedoch nicht die tatsächlichen, sondern nur den gemeldeten Verlauf, so daß anzunehmen ist, daß die reale Überlebenszeit höher ist.

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mindest in den Zentren der Prävalenz - in weitaus höherem Maße der Prämisse "ambulant vor stationär" als zu Beginn der Projektlaufzeit. Das ist sowohl auf die Verbesserung der Therapiemöglichkeiten als vor allem auch auf Innovationen in anderen Bereichen der Kran- kenversorgung zurückzuführen. So entstanden hier beispielsweise Aids-Schwerpunktpraxen, HIV-Ambulanzen oder Tageskliniken, die eine sehr viel weiterreichende ambulante Behand- lung von Aids-Patienten ermöglichen, als noch vor einiger Zeit absehbar war. Auch diese Entwicklung führte zu einer Erhöhung des Bedarfs an ambulanter Pflege und ging gleichzei- tig mit qualitativen Veränderungen der Pflegeerfordernisse einher. Dabei waren den Pflege- teams nunmehr Funktionen abverlangt, die bislang der stationären Versorgung vorbehalten waren. Um das anzudeuten, was damit gemeint ist, seien Stichworte wie Infusions- und Schmerztherapie, Schwerstkrankenpflege unter häuslichen Bedingungen, Kontrolle von Sub- stitutionen, neurologisch/psychiatrische Überwachungspflege etc. angeführt.

All diese Entwicklungen hatten für die Pflegeteams spürbare Auswirkungen. Ob inner- halb oder außerhalb der Zentren der Prävalenz: Insgesamt wuchs während der Laufzeit des Modellprogramms die Nachfrage nach ambulanter Pflege. Freilich erhöhte sie sich in den Zentren der Prävalenz sehr viel deutlicher, nicht allein, weil hier die Fallzahlen ra- scher anstiegen, sondern auch, weil viele Aids-Patienten aus ländlichen Regionen sich vorzugsweise in den Zentren der Prävalenz behandeln lassen und nicht eben selten sogar dorthin abwandern. Außerdem wurden die dargestellten versorgungsepidemiologisch re- levanten Innovationen im Bereich der ambulanten Medizin dort erprobt, während in ländlichen Gegenden die Versorgung von Aids-Patienten eher traditionellen Mustern folgte. Ein ähnliches Ungleichgewicht findet sich auch hinsichtlich der qualitativen Ver- änderungen des Pflegebedarfs.

Grundsätzlich wurden die Pflegeteams durch die skizzierten versorgungsepiodemio- logischen Entwicklungen mit anderen Versorgungs- und Pflegeerfordernissen konfron- tiert. Auf der einen Seite wuchsen ihnen neue Aufgaben zu (z.B. präventive und rehabili- tative Aufgaben, siehe dazu Schaeffer/Moers 1994). Auf der anderen Seite gewannen eher vertraute, nämlich medizinnahe Aufgaben für die ambulante Pflege an Bedeutung.

Allerdings waren viele der medizinnahen Aufgaben bislang dem Krankenhaus vorbehal- ten gewesen, und das bedeutete, daß in der ambulanten Pflege auch in dieser Hinsicht Neuland zu betreten und Innovationen zu erproben waren, deren Relevanz - ebenso wie bei den neuen medizinfernen Aufgaben - weit über den Bereich der Aids-Pflege hinaus- reicht. Und genau daran entzündeten sich neue Konflikte.

Viele Pflegeteams lehnten diese Aufgaben ab, weigerten sich beispielsweise Infu- sionstherapien durchzuführen, 24-Stunden-Pflegen oder Nachtwachen zu übernehmen etc., da sie mit den gegebenen Organisationsmodalitäten ambulanter Pflege nicht ohne weiteres vereinbar sind (siehe Kapitel 4). Andere Teams - vor allem die Aids-Spezial- pflegedienste - stellten sich dem Anforderungswandel ähnlich radikal und unhinterfragt, wie sie ihre Arbeit begonnen hatten (siehe Kapitel 3). Ihnen ging es darum, eine krank- heitsangemessene patientenorientierte Versorgung Aids-Erkrankter zu realisieren. Gren- zen der gegebenen Möglichkeiten ambulanter Pflege hielten sie für veränderbar und stell- ten das in der Folgezeit unter Beweis. Sie zeigten, daß dem Anforderungswandel auch unter den gegebenen Bedingungen ambulanter Pflege begegnet werden konnte, wenn- gleich ihre Tätigkeit auch deutlich machte, daß das ohne individuelle Sonderleistungen und über normale Maße hinausgehendes Engagement nicht möglich ist.

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Was das für den Programmverlauf bedeutet, scheint hier bereits durch. Zum einen verfestigte sich das "Stadt-Land-Gefälle", also die Unterschiedlichkeit der Entwicklungen zwischen den Pflegeteams innerhalb und außerhalb der Zentren der Prävalenz. Zum an- deren öffnete sich eine Kluft zwischen denen, die engagiert auf Aids reagierten, eine krankheitsangemessene Versorgung schaffen und die dazu notwendigen Innovationen in der Pflege durchsetzen wollten, und denen, die dem mit Skepsis entgegenstanden. Ob- schon erstere krankheitsspezifisch reagierten, hatten sie doch eine Reihe krankheitsunspe- zifischer Innovationen vor Augen, die gewissermaßen Enttraditionalisierungen bzw. Mo- dernisierungen in diesem Bereich der Krankenversorgung einleiteten und dabei lang an- gemahnte Reformvorschläge aufgriffen (ähnliches gilt für viele der im stationären Be- reich erprobten Innovationen, Schaeffer/Moers 1992; Schaeffer 1993). Hingegen verwie- sen letztere auf strukturelle Barrieren der angestrebten Innovationen, kritisierten die Ra- dikalität der Vorschläge und bemängelten, daß diese der ohnehin überforderten ambulan- ten Pflege zusätzliche Lasten aufbürden, die letztlich aufgrund der restriktiven Rahmen- bedingungen ambulanter Pflegedienste von den einzelnen Pflegekräften getragen werden müssen. Mit Blick auf die Situation der ambulanten Pflege ist diese Reaktion nicht min- der lehrreich: Sie unterstrich nochmals die Grenzen und den Problemdruck ambulanter Pflege und verwies auf die Hindernisse, an denen sich Veränderungen und Innovationen in diesem Bereich der Krankenversorgung zu beweisen haben.

Gleichwohl erwies sich diese Position letztendlich als entwicklungshemmend, blok- kierte faktisch die Anpassung der ambulanten Pflege an HIV und Aids und unterminierte - retrospektiv betrachtet - die Entfaltung eines ähnlichen Innovationspotentials wie z.B.

in der medizinischen Versorgung. Außerdem festigte sie die Entwicklungsstragnation et- licher Projekte, denn nicht selten wurde sie von solchen Teams vertreten, die in dem Hin und Her zwischen Patientenbetreuung und Mitarbeiteranpassung an Aids zerrieben wur- den.

Es bleibt also festzuhalten, daß die Entwicklung vorantreibender Konzeptualisie- rungsversuche und die Erkenntnisgewinnung über die Möglichkeiten ambulanter Pflege bei HIV und Aids aufgrund der sich im Zuge der Chronifizierung von Aids abzeichnen- den Kluft zwischen den Pflegeteams auf einige wenige Pflegedienste beschränkt war.

Das ist nicht den Modellmitarbeitern anzulasten, sondern weitgehend Resultat dessen, daß Erkenntnissen des Innovations- und Implementationsmanagements bei der Umset- zung des Modellprogramms zu wenig Beachtung geschenkt wurde.

2.2 Programmergebnisse

Betrachten wir nun die Aufgabenrealisierung und ihre Resultate. Sie umfaßt einerseits nicht-klientenbezogene Leistungen. Dazu gehören Praxisanleitungen, Fortbildungen und Vernetzungsarbeit innerhalb des Versorgungssystems und Beteiligung an der Schaffung neuer Versorgungsangebote.

Zu Beginn der Laufzeit hatten diese, dem Charakter nach versorgungsstrukturellen Aufgaben sowie Aufbau- und Konsolidierungsarbeiten in allen Pflegeteams hohen Stel- lenwert, was sich jedoch mit der Zunahme an Patienten veränderte. Bei etlichen Teams,

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so z.B. denen in Gebieten mit geringer Infektionsrate, lag der Schwerpunkt allerdings auch weiterhin auf nicht-klientenbezogenen Aufgaben. In Folge des Mangels an Patien- ten konzentrierten sie sich auf Aufklärungsaufgaben sowohl zur Seite der Gesundheitsbe- rufe wie auch potentieller Nutzer hin oder versuchten, Lücken in der Versorgungsland- schaft zu füllen, verstanden sich z.B. als Anlaufstelle für alle Fragen, die HIV und Aids betreffen, und wurden partiell zur Koordinationsstelle für Infizierte wie für Professionel- le. Wieder andere bemühten sich darum, durch Vernetzungsaktivitäten und Fortbildung, die bestehende Versorgung an HIV und Aids anzupassen. Faktisch bewegten diese Teams sich auf einem Feld, das im weitesten Sinn mit Public Health Nursing (Archer 1985) umschrieben werden könnte (siehe Kapitel 5). Weil dieses Aufgabengebiet der Pflege hierzulande nicht existiert und - trotz seines Traditionsreichtums - auch kaum be- kannt ist (siehe dazu Swanson/Albrecht 1993 sowie Schaeffer/Moers 1994), fehlte es den Teams jedoch an Vorstellungen und verbunden damit an Konzeptualisierungsmöglichkei- ten, die ihnen geholfen hätten, diese Aufgaben systematisch zu betreiben. Aufgrund die- ses Mangels kennzeichneten Verunsicherung und Unsicherheit die Aktivitäten dieser Teams.

Nicht zuletzt schlägt sich hier der Entwicklungsrückstand der bundesdeutschen Pfle- ge nieder, die erst jetzt beginnt, ihr Aufgaben- und Berufsprofil dem Anforderungswan- del, dem sie seit geraumer Zeit ausgesetzt ist, anzupassen (Schaeffer/Moers/Rosenbrock

1994). Wie hier in der Aids-Krankenversorgung sichtbar wurde, bezieht sich der Nach- holbedarf der bundesdeutschen Pflege nicht allein auf Fragen der Qualifizierung, sondern ebenso auf konzeptionelle Mängel im Pflegealltag (Schaeffer 1994), wobei es - auch das wurde deutlich - bislang in vielerlei Hinsicht noch an Problembewußtsein fehlt.8

Wenden wir uns nun den klientenbezogenen Aktivitäten zu. Insgesamt - so die Ergeb- nisse der Begleitforschung - wurden knapp 3 000 Klienten durch die modellgeförderten Einrichtungen betreut. Im Zeitverlauf betrachtet verdreifachte sich die Zahl der Klienten:

Wurden im Mai 1989 ca. 370 Klienten betreut, waren es im April 1991 über 1 100 (Bes- selmann u.a. 1992, S. 50). In diesen Daten manifestieren sich bereits die soeben ange- deuteten epidemiologischen und versorgungsstrukturellen Entwicklungen.

Das Klientel setzte sich aus HIV-Infizierten, Aids-Kranken und deren Angehörigen, Partnern und Freunden zusammen. Ca. zwei Drittel der betreuten Klienten waren aids- krank, ein Drittel war HIV-positiv oder befand sich in einem nicht identifizierbaren Krankheitsstadium.

Betrachtet man die sozialen Merkmale der Klientel, sind zwei andere Daten bemer- kenswert. Der überwiegende Teil der betreuten Klienten war alleinlebend. Im Durch- schnitt waren dieses 46 Prozent, wobei diese Zahl in den Zentren der Prävalenz höher war. Hier lebten 53 Prozent der Klienten in Einpersonenhaushalten, außerhalb waren es

"lediglich" 37 Prozent (ebenda, S. 92 f.). Die meisten dieser Patienten verfügten über ein relativ ausgedünntes soziales Netz. Das ist insofern hervorzuheben, als bei Aids-Pa- tienten seitens der professionellen Akteure der Krankenversorgung zumeist davon ausge- gangen wird, das soziale Unterstützungspotential sei bei dieser Patientengruppe größer

8 Nicht zuletzt das motivierte vermutlich die zuvor erwähnten Aufgabenverlagerungen in manchen der Teams, bei- spielsweise die Hinwendung zu anderen Patientengrappen oder zu Präventionsaufgaben.

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als bei anders Erkrankten (Remplein-Keller u.a. 1992; Reisbeck u.a. 1992). Vermutet werden muß, daß das nur zu Beginn der Aids-Ära zugetroffen hat. Dafür sprechen vor- nehmlich zwei Gründe: Viele der potentiellen informellen Helfer sind bereits verstorben - eine Annahme, die vor allem für die Gruppe der homosexuellen Patienten zutrifft, de- ren soziales Netz durch Aids ausgedünnt wurde (Moers 1991; Weber/Bredemeyer, i.E.).

Außerdem macht sich mittlerweile die Chronifizierung von Aids bemerkbar - sie fordert informellen Helfern die Bereitschaft zu längerfristigen Hilfeleistungen ab, in denen keine Reziprozität erwartet werden kann, was nicht nur bei Aids, sondern generell über kurz oder lang Überstrapazierungserscheinungen hervorruft (Nestmann 1988). So nimmt nicht wunder, wenn heute konstatiert wird, daß selbst bei bestehenden sozialen Unterstüt- zungspotentialen lediglich zu Beginn des Ausbruchs der Krankheit informelle Helfer zur Verfügung stehen, diese sich aber dann, wenn die Krankheit kulminiert, zurückziehen und im günstigsten Fall nur noch ein Helfer - meist der Partner oder Freund - übrig bleibt (Besselmann u.a. 1992), wobei dieser oft seinerseits der Unterstützung bedarf. An- genommen werden kann, daß sich diese Entwicklung zukünftig verstärkt und bei einem Großteil von Aids-Patienten folglich von einem relativ geringen informellen Hilfe- und Unterstützungspotential ausgegangen werden muß. Damit sind für einen Verbleib in der häuslichen Umgebung schlechte Voraussetzungen gegeben, denn ambulante Pflegedienste sind bei schwerkranken Patienten zwingend auf die Hilfe von Angehörigen und anderen informellen Helfern angewiesen, wie Analysen immer wieder belegen (Damkowsky u.a.

1988; Garms-Homolovä/Schaeffer 1992).

Bemerkenswert ist als weiteres, daß jeder vierte Klient im Modellprogramm Sozial- stationen drogenabhängig war (Besselmann u.a. 1992) - ein aus epidemiologischer Sicht überproportional hoher Anteil. Für die Pflegedienste ist das folgenreich, denn Drogenab- hängige stellen eine bislang im Klientenspektrum ambulanter Pflege nicht vertretene Per- sonengruppe dar, bei der in mehrfacher Hinsicht Neuland zu betreten ist: sowohl, was den Umgang mit der Suchtproblematik und den sozialen Attributen dieser Patientengrup- pe anbelangt, als auch die Besonderheiten der Krankheits- und Versorgungssituation. Ge- rade bei dieser Patientengruppe ist zudem meist ein Wust von sozialen Problemen anzu- treffen. Meist leben sie in schwierigen Lebenssituationen und unter wenig günstigen Be- dingungen für eine ambulante Versorgung, womit zunächst einmal die schwierige Wohn- situation vieler dieser Patienten angesprochen ist. Obdachlosigkeit, provisorische oder problematische Wohnbedingungen sind bei dieser Patientengruppe besonders häufig an- zutreffen (Stürzel 1994). Das gleiche gilt für andere soziale Notlagen, allen voran für Fi- nanzprobleme (Heide 1993). Auch das informelle Hilfepotential ist gering. Beispielswei- se berichten Besselmann u.a. (1992, S. 99), daß nur ein Fünftel der im Modellprogramm betreuten drogenabhängigen Klienten über ein tragfähiges soziales Umfeld verfügte. Die Pflege dieser Patientengruppe ist folglich mit einem hohen Arbeits- und Zeitaufwand verbunden und erfordert eine ganze Reihe indirekter Betreuungsleistungen - so z.B. eine Vielzahl an Kooperations- und Koordinationsanstrengungen -, die ambulante Pflegedien- ste rasch vor Probleme stellen, weil sie arbeitsorganisatorisch und kostenmäßig nicht zu bewältigen sind.

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Ein Drittel der betreuten Klienten erhielt häusliche Krankenpflege und ungefähr der gleiche Anteil wurde hauspflegerisch betreut. Die Nachfrage nach hauswirtschaftlichen Hilfen war insgesamt höher als erwartet. Das gleiche gilt für die Hilfen bei der Verrich- tung alltäglicher Lebensbelange.

Den Daten der Begleitforschung zufolge benötigten mehr als die Hälfte der Klienten des Modellprogramms Hilfen zur Aufrechterhaltung der Mobilität: zur Durchführung von Arztbesuchen, Einkäufen, Erledigungen, Reisen etc. Zwei Drittel sahen sich nicht in der Lage, die Selbstversorgung bzw. die Haushaltsführung ohne Hilfe aufrechtzuerhalten und ein Drittel von ihnen war dabei vollständig auf Fremdhilfe angewiesen (ebenda, S. 84). Mit der Erhöhung des Anteils an Patienten mit neurologisch-psychiatrischen Be- schwerden ist davon auszugehen, daß auch diese Entwicklung sich zukünftig verstärkt:

Schon jetzt brauchten 60 Prozent der Klienten Hilfe zur Bewältigung psychischer Krisen, und 8 Prozent benötigten aus neurologischen Gründen die dauernde Anwesenheit einer Betreuungsperson.

Psycho-soziale Unterstützung erfolgte in noch höherem Ausmaß. Nur bei 9 Prozent der Klienten war keine psycho-soziale Unterstützung notwendig, und insgesamt machten psycho-soziale inklusive sozialarbeiterischer Leistungen 26 Prozent des durchschnittli- chen Zeitaufwands der Betreuungsleistungen aus.9

Der Anteil an indirekten Betreuungsleistungen, wie Koordination von Diensten, Kontakte zum Arzt, Gespräche mit Angehörigen oder anderen in die Pflege einbezoge- nen informellen Helfern war ebenfalls größer als vermutet. Durchschnittlich 15 Prozent des Zeitaufwands wurde für solche Leistungen benötigt. Dabei ist zu bedenken, daß Ko- operationen und Koordinationen mit anderen professionellen Akteuren bei einer so schwerwiegenden Krankheit wie Aids grundsätzlich mit einem hohen Zeitaufwand ver- bunden sind. Viele Teams bemühten sieh zudem darum, diesbezüglich neue Wege zu be- schreiten und nach ineinandergreifenden Kooperationsmodi zu suchen. Ähnliches läßt sich mit Blick auf die Kooperation mit informellen Helfern konstatieren. Beispielsweise wurde der Unterstützung von Angehörigen großer Stellenwert beigemessen, und einige der Aids-Pflegeteams bemühten sich darum, dieser im hiesigen Versorgungswesen ver- nachlässigten Aufgabe mit neuen Konzepten zu begegnen: sei es, daß sie Angehörige in die Pflege einbezogen und dazu notwendige Anleitungen erprobten oder Gesprächsgrup- pen anboten, in denen Angehörige ihre Belastungen und Probleme reflektieren konnten, oder nach neuen Formen der Kooperation mit informellen Helfern suchten.

Exemplarisch wird hier nochmals sichtbar, daß ambulante Pflege von Aids-Patienten mit einer Vielzahl von Aufgaben verbunden ist, für die es hierzulande keine tragfähigen Vorbilder gibt. Häufig hatten Teams, die sich diesen Aufgaben stellten, daher Neuland zu betreten, und beschritten dabei Wege, bei denen sie an die Grenzen häuslicher Pflege stießen und zu erproben hatten, wie dehnungsfähig diese sein können: wo professionelle Hilfe ausbaubar ist und wie dies sinnvollerweise zu geschehen hat. Daher kommt ihnen im Hinblick auf die gesamte ambulante Pflege Innovationsfunktion zu.

9 So unumstritten der sich in diesen Angaben widerspiegelnde Bedarf an psycho-sozialer Hilfe bei Aids ist (Jäger 1989; Zenz/Manok 1989), so deutlich muß jedoch auch angemerkt werden, daß "psycho-soziale Betreuung" ver- mutlich als große "Restkategorie" begriffen wurde, unter die viele nicht subsumierbare Tätigkeiten, wie z.B. Bera- tung, Information oder Begleitung, eingeordnet wurden, die im Pflegealltag von großer Bedeutung sind.

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Zusammenfassung

Faßt man die vorliegenden Daten zur Aufgabenrealisierung der Modellprojekte zusam- men, läßt sich feststellen, daß psycho-soziale Beratung und Begleitung und Hilfen bei der Verrichtung alltäglicher Lebensbelange und der Alltagsbewältigung den Schwerpunkt der Projektarbeit ausmachten. Krankenpflege nahm zwar einen hohen Anteil des Tätigkeits- volumens ein, dennoch war dieser geringer, als zu vermuten ist. In Korrespondenz dazu befand sich ein nicht unbedeutsamer Teil der Klientel in einem Stadium des Krankheits- verlaufs, das noch nicht von Gesundheits- und Autonomieeinbußen determiniert ist.

Ebenfalls in Einklang damit steht, daß sich das Klientel der zum Modellprogramm gehö- renden Pfiegeteams vorwiegend aus Patientengruppen rekrutierte, in denen gesundheitli- che und soziale Probleme stark kumulieren, so z. B. bei i.v.-Drogenabhängigen, und nur durch mehrdimensionale Zugriffsweise adäquate Hilfe geleistet werden kann.

Auf dieser Basis Schlußfolgerungen auf den Hilfe- und Pflegebedarf bei Aids ziehen zu wollen, ist jedoch problematisch. Eingedenk der zuvor geschilderten Schwierigkeiten des Programmverlaufs muß die Aussagefähigkeit der dargestellten Befunde mit Vorsicht interpretiert werden. Allein aufgrund der Implementationsdefizite vieler Projekte ist es schwierig, von diesen Daten auf die realen Betreuungserfordernisse schließen zu wollen, Ähnliches gilt aufgrund der - wie auch immer motivierten - unterschiedlichen Schwer- punktsetzungen der Projekte. Außerdem liegen zu wenig differenzierte Verlaufsdaten vor. Diese sind angesichts der epidemiologischen Entwicklung und der während der Laufzeit einsetzenden Chronifizierung von Aids jedoch erforderlich, um die an die Pfle- ge gestellten Anforderungen bei der Betreuung dieser Patientengruppe näher zu konturie- ren. Bei einigen Angaben der Begleitforschung sind zudem Zweifel an der Qualität ange- bracht. So war bei etlichen Pflegeteams eigenen Erhebungen zufolge die Zahl der betreu- ten Patienten niedriger als dort ausgewiesen, und meist handelte es sich dabei um Teams, die mit Abstoßungsreaktionen zu kämpfen hatten oder unter Patientenmangel litten und deshalb unter Legitimationsdruck standen. Im Rahmen der anschließend erfolgenden Fallrekonstruktionen werden wir daher nicht einzig die Anpassungsprobleme der ambu- lanten Pflege an HIV und Aids analysieren, sondern uns zugleich auf die Pflegeerforder- nisse bei Aids-Patienten konzentrieren.

Auch einem anderen Aspekt werden wir uns widmen. Ein Großteil der Aktivitäten der Projekte galt den Programmzielen gemäß der Vorbereitung der Integration von Aids- Patienten in die Regelversorgung: der Fortbildung ambulanter Pflegekräfte, der Ausrich- tung zur Normalversorgung gehörender ambulanter Dienste auf HIV und Aids (inklusive der dazu notwendigen Konzeptarbeit), dem Aufbau notwendiger Kooperationsstrukturen und eines ineinandergreifenden Versorgungsnetzes, Nach dem Auslaufen des Modellpro- gramms wurde jedoch offensichtlich, daß diesen Aktivitäten und den dazu erprobten In- novationen nur begrenzter Erfolg beschieden war. Die Versorgung von Aids-Patienten ist auch heute, nach mehr als einem Jahrzehnt Erfahrung mit HIV und Aids, in diesem Be- reich der Krankenversorgung keineswegs sichergestellt. Außerhalb der Zentren der Prä- valenz ist die pflegerische Versorgung nahezu ungesichert und umfaßt nicht jenes Lei- stungsspektrum, das mit dem Programm implementiert werden sollte. Anders, aber kei- neswegs zufriedenstellend, ist die Situation in den Zentren der Prävalenz. Die hier exi-

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stenten Aids-Spezialdienste sind in der Regel hoffnungslos überbelastet, und die zur Nor- malversorgung gehörenden Pflegedienste stehen Aids-Patienten nach wie vor mit Skepsis gegenüber, lehnen nicht eben selten insgeheim oder offen proklamiert die Pflege ab und haben das Dienstangebot nicht auf eine adäquate Pflege dieser Patientengruppe ausge- richtet. Auch die Frage, wie sich diese Diskrepanz erklärt und was zukünftig an Anstren- gungen notwendig sein wird, um die ambulante Pflege an Aids und insbesondere an die mit der Chronifizierung verbundenen Anforderungen anzupassen, wollen wir mit den Fallrekonstruktionen klären.

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3. Normalisierung als Leitmotiv; Ambulante Pflege von Aids-Patienten in der Regelversorgung

3.1 Das Aids-Pflegeteam - ein "von oben" erfolgender Anpassungsversuch an HIV und Aids

Wir wenden uns zunächst einem Versuch zu, die ambulante Pflege "von oben" an die Anforderungen von Aids und der von Aids Betroffenen anzupassen und rekonstruieren die Arbeit eines der Aids-Pflegeteams der Wohlfahrtsverbände. Wir haben dieses Team ausgewählt, weil die Probleme, mit denen es zu kämpfen hatte, charakteristisch für die Situation der zur Regelversorgung gehörenden Aids-Pflegeteams waren, also auch die Arbeit anderer Pflegeteams dieses Typus mal mehr, mal weniger kennzeichneten, wobei lokale und regionale Einflüsse zu einer gewissen Varianz der Team- und Anpassungsver- läufe führten. Insgesamt legen die Schwierigkeiten des Pflegeteams jedoch typische Struktureigenschaften dieser Pflegeteams bloß.1

Gegründet wurden die Aids-Pflegeteams im Zuge der Realisierung des Modellpro- gramms "Sozialstationen", in dessen Rahmen die gemeinnützigen Betreiber ambulanter Pflegedienste - die Wohlfahrtsverbände - mit zusätzlichen Stellen zur Sicherstellung der Betreuung Aids-Kranker ausgestattet wurden (siehe Kapitel 2). Da sie am gesundheitspo- litischen Konzept der flächendeckenden ambulanten pflegerischen Versorgung durch So- zialstationen oder vergleichbarer Einrichtungen nicht rütteln wollten, wurde nicht an die Einrichtung spezieller Aids-Sozialstationen gedacht. Das gilt auch für die Aids-Präva- lenz-Zentren. In Berlin beispielsweise wurde explizit postuliert, daß die Modellmitarbei- ter die Soziaistationen bei der Pflege von Aids-Patienten unterstützen sollten, "ohne da- bei die Rolle 'der Aids-Schwester/des Aids-Pflegers' zu übernehmen" (Wanjura 1988, S. 776). Pro Wohlfahrtsverband wurden hier vier Stellen für Krankenpflegekräfte und eine Sozialarbeiterstelle zur Verfügung gestellt, mit denen sogenannte Aids-Pflegeteams eingerichtet wurden. Diese sollten mit den Sozialstationen ihres Trägers zusammenarbei- ten und sie durch Fortbildung und konkrete Unterstützung befähigen, die Pflege dieser neuen Patientengruppe im Rahmen der Normalversorgung zu übernehmen. Uns interes- siert die Frage, welche Vorstellungen und Strategien bei den freigemeinnützigen Trägern und den hier angebundenen Aids-Pflegeteams entwickelt wurden, um die bestehenden Pflegedienste an Aids und Aids-Patienten anzupassen, und welche Erfahrungen mit ihnen gesammelt wurden.

1 Die Erfahrungen anderer Aids-Pflegeteams werden punktuell zur Verdeutlichung einzelner Aspekte herangezogen, ohne im Sinne einer Fallanalyse expliziert zu werden. Wir werden das vorgestellte Team deshalb weiterhin einfach

"Aids-Pflegeteam" nennen, da nicht die Besonderheiten, sondern die strukturellen Gemeinsamkeiten dieser Teams im Vordergrund des Interesses stehen.

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3.2 Ziele und Aufgaben der Aids-Pflegeteams

Betrachten wir zunächst das Konzept des Trägers. Angestrebt wurde, Aids-Patienten mit- telfristig in die Normalversorgung zu integrieren und durch das Modellprogramm die da- zu notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Daher sollten die bereitgestellten personel- len Ressourcen als erstes dazu genutzt werden, das für die Pflege von Aids-Patienten notwendige Wissen zu beschaffen. Dabei ist in Erinnerung zu rufen, daß die ambulante Pflege seit langem nicht mehr mit Infektionskrankheiten konfrontiert war und zu Beginn der Aids-Epidemie gerade die Infektiosität der Krankheit Unsicherheit und Ängste her- vorrief. Fortbildung zur Verbesserung der Hygiene-Standards stand konsequenterweise am Anfang der Bemühungen zur Entwicklung der Pflege von Aids-Patienten (vgl. auch Jeorga u.a. 1988, S. 9). Darüber hinaus ging die Krankheit selbst mit weitgehend unbe- kannten Krankheitsbildern (seltenen Krebsarten, untypischen Lungenentzündungen, mas- siven Haut- und Schleimhauterkrankungen) und dramatischen und kaum abschätzbaren Verläufen einher. Hinzu kamen die Besonderheiten der Patientengruppen. Überwiegend junge Patienten, die noch dazu speziellen, gesellschaftlich beargwöhnten sozialen Milieus und Subkulturen entstammen, sind von Aids betroffen, und das vermehrte die Verunsi- cherungen. Insgesamt, so läßt sich schlußfolgern, war unklar, mit welchen Anforderun- gen und Pflegeerfordernissen Aids einhergehen würde. Deshalb sollten ergänzend zum Wissenserwerb - so ein weiteres Projektziel - Aids-Patienten von den Sozialstationen un- ter Mitwirkung der Aids-Pflegeteams gepflegt werden, um auf diese Weise auch prakti- sche Erfahrungen sammeln zu können. Ein drittes Ziel bestand im Transfer der erworbe- nen Kenntnisse in alle Sozialstationen. Diese sollten angeleitet und befähigt werden, Aids-Erkrankte selbständig zu pflegen, und Aids-Patienten auf diese Weise in die Nor- malversorgung integriert werden. Zusammenfassend betrachtet hatten die Aids-Pflege- teams also vier Aufgaben:

- Wissensaneignung: durch Informationsbeschaffung über die Krankheit;

- Ausbildung von Pflege-Know-how: durch Erfahrungsakkumulation;

- Kenntnistransfer: durch Fortbildung der Sozialstationen;

- Integration: Überleitung der Pflege von Aids-Patienten in die Regelversorgung.

3.3 Modellverlauf

3.3.1 D ie Rekrutierung des Teams

Betrachten wir nun die Konzeptumsetzung und die Aufgabenrealisierung. Analog zur In- tention des Trägers wurde entschieden, keine neuen Kräfte einzustellen.2 Auf diese Wei- se sollte ein guter Kontakt zwischen Aids-Pflegeteam und Sozialstationen gewährleistet und der Wissenstransfer erleichtert werden. Es sollten also aus den Sozialstationen des

2 Die meisten Trägerorganisationen wählten eine andere Verfahrensweise und stellten neue Mitarbeiter für die Dauer des Modellprogramms ein.

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