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4. Innovation als Leitmotiv: Analyse eines Aids- Spezialpflegedienstes

4.6 Funktions- und Arbeitsweise

Nun geht es um die Frage, wie sich die Funktions- und Arbeitsweise des Pflegedienstes im Alltag darstellt und wie er dem Pflegebedarf Rechnung trägt. Betrachten wir zunächst die Aufnahme der Arbeit und die Patientenübermittlung.

4.6.1 Vermittlung der Patienten und Aufnahme der Betreuung

Schon bald nach Etablierung des Pflegedienstes überstieg die Nachfrage die Kapazität, so daß Aufnahmebeschränkungen eingeführt werden mußten.5 Einen Pflegeplatz zu erhal-ten, ist inzwischen nur noch schwer möglich:

"Zwei Anrufe in einer Praxis oder im Krankenhaus: 'Wir können ein oder zwei Patienten auf-nehmen.' Und dann dauert es eine halbe Stunde, und wir können wieder sagen: 'Aufnahme-stopp'." (PA 4; 18/13-17)

5 Das Phänomen des Patientenmangels, mit dem viele Aids-Pflegeteams des Modellprogramms zu kämpfen hatten, ist den meisten Aids-Spezialpflegediensten fremd.

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-Trotz des großen Andrangs hat sich das Team entschlossen, bei der Aufnahmebeschrän-kung zu bleiben, da sonst das Pflegekonzept nicht beibehalten und die Qualität der Be-treuung nicht gesichert werden könnte. Wartelisten werden nicht geführt, und folglich werden nur die dringlichsten Fälle, also meist schwerkranke Patienten, aufgenommen.

Die Patientenübermittlung erfolgt in der Regel durch eine professionelle Instanz.

Nur vereinzelt melden sich Patienten selbst beim Pflegedienst, so insbesondere offen schwul lebende, die keinen anderen Pflegeanbieter für sich akzeptieren. Die Vermittlung durch niedergelassene Ärzte geschieht meist telephonisch:

"Es wird dann am Telephon in der Regel durch eine Pflegekraft schon alles geklärt. Also von der Versicherung über die Diagnose bis zum Verlauf." (PA 4; 16/13-16)

Der telephonische Kontakt mit dem Arzt wird als ausreichend gesehen, da alle für die Pflegeaufnahme notwendigen Informationen bereits ausgetauscht werden können.

Meistens erfolgt die Übermittlung jedoch im Anschluß an einen stationären Aufent-halt. Die Überleitungsprobleme bei der Entlassung aus dem Krankenhaus haben wir aus stationärer Sicht bereits dargestellt (Schaeffer/Moers 1992; Schaeffer 1993) und be-schränken uns hier auf die Frage, durch welche Maßnahmen von Seiten der ambulanten Pflege der Aufbau einer stabilen häuslichen Versorgungssituation angestrebt wird. Zum Standard des Pflegedienstes gehört, daß kein Krankenhauspatient übernommen wird, oh-ne daß ein Erstbesuch im Krankenhaus erfolgt. Nach der telephonischen Kontaktaufnah-me mit dem Krankenhaus wird zunächst ein verantwortlicher Pfleger für den betreffen-den Patienten bestimmt. Er führt dann betreffen-den Besuch im Krankenhaus durch, spricht mit dem Arzt, dem Pflegepersonal, dem Sozialdienst und dem Patienten. Neben dem gegen-seitigen Kennenlernen dient das Gespräch mit dem Patienten dazu, den Pflegebedarf, an-stehende Termine und Untersuchungen und die häusliche Situation in Erfahrung zu brin-gen. Wichtig sind auch Informationen über andere Professionelle, insbesondere den be-handelnden niedergelassenen Arzt, zu dem anschließend ebenfalls Kontakt aufgenommen wird. All diese Vorbereitungsarbeiten dienen dazu, Versorgungsprobleme bei der Rück-kehr nach Hause zu verringern.

"Das ist im Grand oftmals ganz gut, weil man sich dann ein Stück weit keimenlernen kann und wichtige Dinge abklären kann: Wie sieht's in der Wohnung eigentlich aus? Muß eine Waschma-schine organisiert werden? Hast du ein Bett, das in Ordnung ist? Wäre da vielleicht sinnvoll zu heizen, ein Tag vorher, bevor du kommst?" (PA 4; 11/8-15)

Nach dem Besuch im Krankenhaus wird die Rückkehr des Patienten nach Hause und die Aufnahme der Pflege vorbereitet, um die Überleitung von der stationären Versorgung in die ambulante Pflege reibungslos zu gestalten. Dann erfolgt das eigentliche Aufnahmege-spräch in der Wohnung des Patienten. Der Stellenwert dieses GeAufnahmege-sprächs wird dadurch unterstrichen, daß neben dem Patienten und dem verantwortlichen Krankenpfleger auch die Angehörigen sowie die Sozialarbeiterin teilnehmen. Die Angehörigen werden aus In-formationsgründen einbezogen und ebenso, um bereits im Vorfeld zu klären, welchen Beitrag sie zur Betreuung beisteuern können und wollen. Die Sozialarbeiterin wird hin-zugezogen, damit rechtzeitig die Mobilisierung weiterer Dienste eingeleitet oder notwen-dige Anträge - von Krankengeld bis Schwerbehindertenausweis - gestellt werden können.

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-Auch für die Organisation konkreter Hilfen, wie etwa das Besorgen einer Waschmaschi-ne, fühlt sie sich zuständig und ebenso für die Hilfe in sozialen Notlagen, wie sie bei vielen Aids-Patienten angetroffen werden können (Heide 1993).6

Das Aufnahmegespräch dient der systematischen Planung der Pflege. Da zahlreiche Informationen erhoben werden müssen, nimmt es viel Zeit in Anspruch. Das Team hat ein auf die eigene Arbeitsweise abgestimmtes Pflegedokumentationssystem entwickelt, das als Grundlage der Pflegeplanung und -durchführung dient. Dabei wird darauf geach-tet, daß nicht nur Formulare ausgefüllt werden, sondern ein Gespräch erfolgt, an dem Patient und Angehörige gleichberechtigt teilnehmen, um so einer technokratischen Hand-habung der Dokumentation entgegenzuwirken. Ein wichtiger Teil des Gesprächs ist die Erhebung der Pflegeanamnese:

"Und da wird praktisch alles erfaßt, also von: 'Hast du einen Fernseher und willst einen GEZ-Antrag stellen, damit du keine Gebühren zahlen mußt?', bis zu: 'Bist du auf H?', also wenn ich mal den Bogen soweit spanne, wo die ganzen pflegerischen Anamnesen reinkoninien, wo die Krankenhausaufenthalte reinkommen: 'Was hast du an Infektionen schon durchgemacht?' usw.

usf., also so ganzheitlich wirklich komplett alles erfaßt wird." (PA 4; 16/31-41)

Die Erkundung der Lebenssituation des Patienten erstreckt sich von finanziellen Fragen über Pflegeprobleme im engeren Sinn bis hin zu persönlichen Lebensgewohnheiten. Sie umfaßt medizinisch/pflegerische Fragen (bisherige Infektionen etc.) wie Fragen der Ver-sorgung (welcher Hausarzt), der sozialen Situation (Berentung, finanzielle Situation) und der Lebensweise. Hier wird deutlich, daß ganzheitliche Pflege dem Konzept des Dienstes zufolge eine systematische Einbeziehung aller Lebensbereiche meint und sich nicht auf die krankheitsbedingten Pflegeprobleme (Medikation, Ernährung etc.) beschränkt.

Die Ermittlung des Pflegebedarfs bildet die Grundlage für die Aushandlung der Pfle-geziele und die Festlegung des konkreten Pflegeplans. Gemeinsam mit dem Patienten werden Art und Umfang der notwendigen Hilfen geplant. Die Pflegedurchführung wird regelmäßig in Fallbesprechungen diskutiert und evaluiert. Es gehörte von Beginn an zum Konzept, auf der Basis der in der Fachdiskussion seit langem geforderten systematischen Pflegeplanung nach dem Pflegeprozeßmodell zu arbeiten. Damit nimmt das Team durch-aus Pionierfunktion ein, denn in der ambulanten Pflege ist geplante und zielgerichtete Pflege bis heute keineswegs üblich.

Exkurs: Patientenorientierte Pflege nach dem Pflegeprozeßmodell

In der Diskussion um Patientenorientierung wurde deutlich, daß Pflege sich weitgehend an den Anforderungen der Medizin und im stationären Bereich auch den Arbeitsabläufen des Kranken-hausbetriebes ausrichtet. Der einzelne Patient und seine Situation geraten nur am Rande in das Blickfeld der Pflege. Um Patientenorientierung zu erreichen, wurde daher eine individuelle Planung der Pflege verlangt. Als PlaPlanungsinstrument wurde in den USA in den sechziger Jahren -analog zu anderen Präxisdisziplinen wie der Ökonomie - ein Regelkreis der Handlungssteuerung entwickelt, der eine Systematisierung pflegerischen Handelns ermöglicht: The Nursing Process.

Assessing, Planning, Implementing, Evaluation (Yura/Walsh 1967). Unter dem Namen

Pflege-6 Viele Patienten benötigen nicht nur Krankenpflege, sondern auch Haushaltshilfe. Damit das Aufnahmegespräch aber nicht durch die Anwesenheit einer weiteren Person überfrachtet wird, nimmt der Haushaltshelfer am Tag nach dem Aufnahmegespräch eigenständig Kontakt zum Patienten auf, für den er genau so wie der Krankenpfleger kon-tinuierlich zuständig ist.

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-prozeß wird er seit Ende der siebziger Jahre auch in der Bundesrepublik diskutiert, jedoch in der Praxis erst in Ansätzen verwendet (Krohwinkel 1992, 1993). Der Pflegeprozeß dient der Sicher-stellung einer angemessenen, individuellen, patientenorientierten Pflege. Durch seine Anwen-dung können Aufgaben systematisch erfaßt und Maßnahmen gezielt geplant werden, so daß der jeweilige Fall in seiner Besonderheit und seinem gesamten Verlauf berücksichtigt wird. Zu sei-ner Umsetzung gehört eine Organisationsform der Pflege, bei der jedem Patienten eine verant-wortliche Pflegekraft zugeordnet ist, die für die gesamte pflegerische Arbeit zuständig ist. Das Pflegeprozeßmodell sieht folgende Schritte vor:

Assessing: Informationssammlung über die Situation des Patienten und Erkennen der pflegerele-vanten Probleme, sowohl aus der Sicht des Patienten als auch der Pflege. Oft,wird dieser Schritt auch als Pflegeanamnese und -diagnose bezeichnet. Bezugspunkt sind weniger Krankheit und medizinische Diagnose als vielmehr gesundheitliche Ressourcen und Probleme bei der Bewälti-gung des Alltags unter Einbeziehung des sozialen Umfeldes.

Planning: Festlegung der Pflegeziele und Pflegemaßnahmen mit dem Patienten und gegebenen-falls den Angehörigen. Die Ziele richten sich nach dem jeweiligen Fall, benötigen jedoch eine konzeptionelle Fundierung, z.B. was "autonome Lebenspraxis" unter den Bedingungen von chronischer Krankheit bedeutet.

Implementing:zu machen, wird eine angemessene Dokumentation der geplanten und durchgeführten bzw. nicht Durchführung der Pflegemaßnahmen. Um die Pflege nachprüfbar und bewertbar durchgeführten Maßnahmen und Ergebnisse für erforderlich gehalten.

Evaluation; Bewertung der Pflege durch Patient und Pflegekraft, wobei gegebenenfalls die Pfle-geziele und -maßnahmen korrigiert und neu festgelegt werden.

Die Anwendung der Schritte des Pflegeprozesses verbessert die Bedingungen der Patientenorien-tierung, ein inhaltliches Konzept pflegerischer Arbeit ersetzen sie hingegen nicht, sie können nur bei dessen Umsetzung behilflich sein. Ohne einen pflegespezifischen theoretischen Rahmen, wie er international durch Pflegetheorien geschaffen wurde (beispielsweise Bedürfnis-, Interaktions-und Ergebnisansätze der Pflege; vgl. Meleis 1991) besteht die Gefahr, daß die Verwendung des Pfiegeprozeßmodells lediglich zur bloßen Dokumentation durchgeführter Pflegeleistungen und zu technokratischer Standardisierung der Pflege führt.

Mit dem Instrument des Pflegeprozesses wird nach Ansicht des Teams die Grundlage für die Umsetzung seines Pflegekonzepts geschaffen. Die mit dem niedergelassenen Arzt, den Krankenhausmitarbeitern, dem Patienten und seinen Angehörigen im Aufnahmege-spräch zusammengetragenen Informationen ermöglichen, den Pflegebedarf und die pfle-gerischen Probleme festzustellen und unter Einbeziehung des Patienten und seiner Ange-hörigen nach krankheits- und situationsangemessenen Lösungen zu suchen. Wie sich die Pflegepraxis auf dieser Grundlage gestaltet, wird im folgenden rekonstruiert, wobei zu-nächst die stabilen Phasen des Vollstadiums in den Blick genommen werden.7

4.6.2 Beginn des Vollstadiums - gesundheitssichernde/aktivierende Pflege

Die Rekonvaleszenz nach einer schweren Infektion ist bei vielen Patienten der Zeitpunkt, zu dem der Pflegedienst hinzugezogen wird. Trotz gelungener Behandlung bleibt der Pa-tient zunächst geschwächt, so daß er - wieder zu Hause - Hilfe bei der Haushaltsführung und beim Einkaufen oder Begleitung bei längerem Verlassen der Wohnung braucht. Hat er keinen Lebenspartner oder Angehörigen, der ihn betreut, ist dazu Fremdhilfe

notwen-7 Nicht jede Pflege beginnt bereits in einer stabilen Phase. Oft wird der Pflegedienst erst bei massiven Abwärtsent-wicklungen hinzugezogen, manchmal sogar erst im Endstadium der Krankheit, was nach den Erfahrungen des Pflegedienstes die Herstellung einer tragfähigen Versorgungssituation hochgradig erschwert.

-56-dig. Die Betreuung beginnt meist mit Haushaltshilfe, denn in dieser Phase benötigen vie-le Patienten noch keine medizinisch induzierten Pfvie-legevie-leistungen, wohl aber Hilfe bei der Alltagsbewältigung (Schaeffer/Moers 1994). Oft genug sind daher die Haushaltshelfer über lange Zeit die wichtigsten Helfer der Patienten. Schnell geraten sie in die Rolle einer engen Vertrauens- und Bezugsperson. Verstärkt wird das dadurch, daß sie viele so-zialpflegerische Aufgaben wahrnehmen. Da sie diese weitgehend selbständig durchfüh-ren, sind den Haushaltshelfern weit über hauswirtschaftliche Kompetenzen hinausgehen-de Qualifikationen abgeforhinausgehen-dert.8 Neben der genauen Kenntnis des Hilfebedarfs müssen die Lebensgewohnheiten ermittelt und mit der Organisation der Betreuung in Überein-stimmung gebracht werden. Wie wichtig das ist, macht ein Mitarbeiter an einer schein-baren Nebensächlichkeit deutlich:

"Ein Patient, der eigentlich sein Lebtag nie vor 11 Uhr aurgestanden ist, (muß) nun um 7 Uhr 30 aufstehen, weil die Schwester eben um 7 Uhr 30 kommt. Das heißt also, die Sozialstation hat eine feste Struktur, nach der sich der Patient zu richten hat. ... Man kann, wenn man mit einer anderen Offenheit rangeht,... den Dienstplan (aber) auf die Bedürfnisse des Patienten abstim-men." (PA 14; 12/24-35)

Hier wird deutlich, wie die Leitmaxime Patientenorientierung in der Pflegepraxis umge-setzt wird. Die Organisation der gesamten Pflege, etwa die Festlegung der Arbeitszeiten, wird den Lebensgewohnheiten und der Situation des Patienten angepaßt und nicht umge-kehrt. Aufgrund des damit verbundenen Aufwands betreut jeder Haushaltshelfer nur drei bis vier Patienten.

Die Betreuung durch Haushaltshelfer zu beginnen, wird von dem Team zum einen wegen des entsprechenden Hilfebedarfs, doch ebenso aus einem anders gelagerten Grund für sinnvoll gehalten. Viele Patienten verwehren sich zunächst gegen Krankenpflege, denn diese setzt voraus, daß die Patienten sich ihre Hilfebedürftigkeit eingestehen. Das aber fällt gerade jungen Patienten sehr schwer. Sie empfinden die Anwesenheit eines Krankenpflegers "als die personifizierte Hilflosigkeit" (PA 14; 20/9) und als Bote des näherrückenden Todes. Sie sind eher bereit, Hilfe im Haushalt zur Unterstützung bei der Alltagsbewältigung zu akzeptieren als Krankenpflege. Daher ist es günstiger - so das Team - die Betreuung mit dem Einsatz von Haushaltshelfern zu beginnen.

Für die Haushaltshelfer erwachsen daraus Konsequenzen: Sie müssen die knifflige Aufgabe bewältigen, sich so in den Alltag des Patienten einzufädeln, daß Fremdhilfe ak-zeptiert wird und später Krankenpflege hinzugezogen werden kann. Außerdem müssen sie darauf achten, daß der Patient die notwendige Unterstützung erhält, sich jedoch nicht als Hilfebedürftiger empfindet und infolge der Gewöhnung an Hilfe seine Eigenkompe-tenz verliert. Doch trotz aller Vorsorge und Umsicht verläuft der Einstieg in die Betreu-ung häufig nicht ohne Probleme:

8 Im Alltag ambulanter Dienste arbeiten Haushaltshelfer bislang weitgehend ohne jede Qualifikation (Garms-Homo-loväVSchaeffer 1992). Gerade angesichts dieser Misere ist die besondere Beachtung, die der Pflegeverein dieser Berufsgruppe widmet, bemerkenswert. Bei den Haushaltshelfern des Teams trafen wir außerdem häufig auf dop-pelt qualifizierte Mitarbeiter, beispielsweise solche, die parallel zur Berufstätigkeit Sozialwissenschaften studierten - ein bei erfolgreichen Modellumsetzungen in der Aids-Pflege oft zu beobachtendes Phänomen (vgl. Kapitel 7),

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-"Erstmal sind wir Fremde in der Wohnung, in der sie vorher noch selber kochen und sauberma-chen konnten. Das ist ein Punkt, wo wir nicht unbedingt gewollt (sjnd). Da müssen wir uns erst-mal irgendwie nett reinkämpfen." (PA 14; 18/6-10)

Mit dem Auftauchen von Fremdhilfe vollzieht siph eine Entintimisierung der vertrauten Umgebung, und das wird in der Regel als Störung empfunden und .abgelehnt. Das Pfle-geteam verwendet viel Energie darauf, diesen neuralgischen Punkt, an dem die autono-mes Handeln gewohnten jungen Aids-Patienten besonders sensibel sind, durch geschick-tes Taktieren zu meistern. Dabei kommt es auf Aushandlungsgeschick und Flexibilität im Umgang miteinander an:

"Und dann muß schon jeder Pfleger und jede Haushaltshilfp nijt dem Patienten etwas aushan-deln, wie sie miteinander umgehen, ..." (PA 14; 26/46-48)

Zunächst müssen Helfer und Patient nach Arrangements suchen, die für beide gleicher-maßen tragfähig sind und vor allem: den Patienten in seiner Autonomie und Eigenkom-petehz respektieren, um so eine seinen Fähigkeiten zur Krankheitsbewältigung entspre-chende Betreuungssituation zu schaffen. Immer kommt dieser Aushandlungsprozeß einem Balanceakt gleich. Die Autonomie des Patienten soll bewahrt, zugleich aber sollen Selbstüberforderungen des Patienten und Unterversorgungserscheinungen abgefedert werden, denn auch wenn der Patient zunächst Fremdhilfe ablehnt, wird sich sein Hilfe-bedarf im Lauf der Zeit zwangsläufig erhöhen.

Während stabiler Phasen des Vollstadiums bewegt siph der verantwortliehe Kranken-pfleger im Hintergrund, hält Kontakt zum Haushaltshelfer, bespricht mit ihm die Situa-tion und steht als Rückversicherungsinstanz zur Verfügung. Er besucht den Patienten re-gelmäßig und nutzt diese Gelegenheit zur Beobachtung und zum gegenseitigen Kennen-lernen. Durch sein nur sporadisches Auftauchen kann er den Eindruck zerstreuen, sein Erscheinen sei Vorbote der Abwärtsentwicklung oder gar der Beginn des Sterbens und zugleich die Basis für Akzeptanz und Vertrauen schaffen. Auf diese Weise fädelt auch er sich frühzeitig in die Betreuung ein. Das wird allein deshalb für notwendig gehalten, weil der wechselhafte Krankheitsverlauf und speziell die im Zusammenhang mit Aids auftretenden neurologischen Erkrankungen hohe Anforderungen an die Krankenbeobach-tung stellen:

"Gerade bei diesen Krankheitsbildern, die vom Kopf ausgehen, ist dann schon sehr wichtig, daß möglichst viele Leute jemanden beobachten, um bestimmte Sachen auch rechtzeitig zu erken-nen." (PA 12; 7/21-25)

Die Anzeichen für neurologisch/psychiatrische Beeinträchtigungen kommen oft schlei-chend, z.B. wenn der Patient "auf einmal seine Waschmaschine nicht mehr richtig betäti-gen (kann), was man oft so direkt erstmal gar nicht merkt." (PA 12; 10/16-13), Dem Helfer, der täglich mit dem Patienten zusammen ist, entgeht häufig, daß dieser sich ver-ändert. Seine Aufmerksamkeit ist auf die tägliche Routine mit dem Patienten konzentriert und die Betreuungssituation ist so nah und vertraut, daß der Blick für langsame Verände-rungen fehlt. Deshalb wird für nötig gehalten, den Kranken zugleich aus größerer Di-stanz zu beobachten, sich dann mit dem Haushaltshelfer rückzukoppeln und gegebenen-falls die Betreuungstrategie zu modifizieren. In gewisser Weise übernimmt der Pfleger

-58-damit die Funktion eines "Fachsupervisors" - ein Kooperationsmodus, der der Qualitäts-sicherung dient.

Berücksichtigung der Lebensweise und Förderung der Eigenkompetenzen des Patien-ten beziehen sich nicht einzig auf Krankheitsprobleme:

"Außerdem versuchen wir, auf den sonst in der Krankenpflege immer noch tabuisierten Bereich der Sexualität des Patienten einzugehen, der gerade im Rahmen des Krankheitsbildes Aids einen besonderen Stellenwert erhält." (Weber 1992, S. 228)

Das Thema Sexualität ist bei Aids doppelt brisant, da längst nicht alle Patienten ein abge-klärtes Verhältnis zu ihrer Homosexualität haben. Viele haben ihr "Coming out" noch nicht hinter sich und oft fällt es zeitlich mit der Bewältigung der Mitteilung der Diagnose

"Aids" zusammen. Weil die Krankheit zumeist sexuell übertragen wurde, ist sie - genau wie die eigene (Homo-)Sexualität - für die Patienten mit Schuldgefühlen und Aggressio-nen belastet. Nicht eben selten erwachsen daraus Partnerschaftskonflikte, die zusätzlich zum Krankheitsgescheheh bewältigt werden müssen. All diesen Problemen nicht auszu-weichen, ist ebenfalls Ziel des Teams. Das bedeutet nicht nur, die homosexuelle Orien-tierung der Patienten gutzuheißen, was für schwule Pflegekräfte selbstverständlich ist, sondern gemeinsam mit den Patienten nach Problemlösungen zu suchen oder einfach durch Bereitschaft zum Gespräch zu entlasten. Daß das für die Patienten immens wichtig ist, wird vom Team stets betont. Viele Patienten haben trotz entgegengesetzter Äußerun-gen das Bild vom "Schmuddelvirus Aids" verinnerlicht und empfinden die eiÄußerun-gene Sexua-lität als vergiftet. Bei den einen führt das zu Impotenzerscheinungen, bei anderen zur Vereinsamung und bei den nächsten wiederum zu verzweifelter Aggression darüber, im potenzfähigen Alter zu sexueller Abstinenz verurteilt sein zu sollen. Gespräche über den Umgang mit diesen Problemen, über die Chancen, die "safer sex" ermöglichen kann, aber auch über Einschränkungen und Vorsichtsmaßnahmen gehören zum Pflegealltag. Je-doch ist leicht vorstellbar, wie schwer es sein muß, angesichts der Intimität der Bezie-hung, die zwischen Pflegenden und Patienten durch das gemeinsame Durchbrechen von Tabus entsteht, professionelle Distanz zu wahren.

Exemplarisch zeigt sich hier eine andere Facette dessen, was unter Patientenorientie-rung verstanden wird. Angestrebt wird eine Betreuung, die den Besonderheiten und der Individualität der Patienten Rechnung trägt und flexibel auf die sich ihnen stellenden Fra-gen und Probleme reagiert. Patientenorientierung umfaßt also sehr unterschiedliche Di-mensionen, die samt und sonders dadurch gekennzeichnet sind, daß von den Patienten aus gedacht und gehandelt und nicht vorrangig der Logik des Versorgungswesens gefolgt wird.

4.6.3 Krisen, De- und ReStabilisierungen - aktivierende/rehabilitierende Pflege Das fortgeschrittene Stadium des Krankheitsverlaufs zeichnet sich sowohl durch allge-meine und fortschreitende Verschlechterung des Gesundheitszustandes aus, wie auch durch immer wieder auftretende Krisensituationen. Diese zu verhüten, mindestens aber abzufedern und zu verhindern, daß die Versorgungssituation sich destabilisiert, ist in

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-stabilen Phasen eine wichtige Aufgabe der Pflege. Zusätzlich zum Hilfebedarf entsteht in

-stabilen Phasen eine wichtige Aufgabe der Pflege. Zusätzlich zum Hilfebedarf entsteht in