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5. Ambulante Pflege auf der Basis gewachsener Professionalisierung: Die Reaktion der

5.5 Die Versorgungsgestaltung bei Aids-Patienten

Der Verlauf der Aids-Epidemie in der Bay-Area ist davon gekennzeichnet, daß mit einer zeitlichen Verzögerung nicht mehr nur die Stadt San Francisco, sondern alle Gemeinden mit Aids-Patienten konfrontiert wurden. Während San Francisco über eine ausgebaute Aids-Infrastruktur verfügt, ist das in angrenzenden Gebieten und erst Recht im ländli-chen Raum nicht der Fall. Für diese Patientengruppe stehen die notwendigen Dienste da-her teilweise nicht zur Verfügung. Auch im Santa Clara County entstand Bedarf an Dien-sten mit Aids-Expertise: Wurden 1990 dort 130 Aids-Kranke neu registriert, so waren es

1991 bereits 184 und 1992 sogar 345 Fälle (VNA 1992). Daher entschloß sich VNA, für Aids-Patienten ein eigenes Programm einzurichten, das zum einen die infrastrukturellen Voraussetzungen für die ambulante Pflege von Aids schaffen und zum anderen Case

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-Management für die Aids-Patienten betreiben sollte. Die Mitarbeiter dieses Programms beraten Klienten, stellen ihnen Notfall-Finanzierungen zur Verfügung, vermitteln sie an geeignete Stellen, kurz: begleiten sie auf ihrem Weg durch das Versorgungssystem. Die Federführung des Programms liegt bei einem spezialisierten Berufszweig der amerikani-schen Pflege, dem Public Health Nursing. Seine Mitarbeiter sind entsprechend qualifi-ziert und haben ein Studienprogramm in Public Health Nursing absolviert. Da dieser Ausbildungs- und Berufszweig in Deutschland nicht existiert, sollen exkursartig Ge-schichte und Profil von Public Health Nursing vorgestellt werden.

Exkurs: Public Health Nursing

Im Gegensatz zur Situation in Deutschland ist die Ptlege in vielen anderen Ländern institutionell in den Kontext von Public-Health-Aufgaben eingebunden. Im anglo-amerikanischen Raum stellt

"Public Health Nursirig", das grob mit populations- bzw. gemeinwesenorientierter Pflege über-setzt werden könnte, eine eigene Fachrichtung dar, deren Tradition auf das Ende des letzten Jahrhunderts zurückgeht. Sie entwickelte sich in den Jahren 1860 bis 1900 aus dem "District Nursing" der "Visiting Nurses", der Armenfürsorge und Gemeindepflege in Problemgebieten, z.B. den Einwanderersiedlungen in den USA, und war eng mit der Durchsetzung von Erkennt-nissen der Sozialhygiene verbunden (Dunn/Decker 1990, S. 132; Archer 1985). Beides prägte lange Zeit die Tradition von Public Health Nursing. So gründete beispielsweise Lilian Wald 1893 das "Henry Street Settlement House" in New York3, das der gesundheitlichen und sozialen Betreuung von obdach- und arbeitslosen Einwanderern diente. Sie wurde eine der

Protagonistin-nen des neuen Berufszweiges und prägte unter anderem den Begriff "Public Health Nursing".

Bereits 1910 wurden in den USA erste universitäre Ausbildungsgänge für Public Health Nur-sing etabliert (vgl. dazu auch Dock 1977).4 Public Health Nursing wird übereinstimmend als eine Synthese beider Disziplinen (Public Health und Ptlegewissenschaft) verstanden. Generell werden die Aufgaben von Public Health Nursing auf allen drei Stufen der Prävention gesehen:

primärpräventiv einschließlich der Gesundheitsförderung, sekundärpräventiv mit Betonung der Begrenzung von Behinderungen als Folge von Krankheit und tertiärpräventiv mit Schwerpunkt auf Rehabilitation. Typisch für die Arbeitsweise ist dabei die Annäherung über soziale Aggre-gate, in dem Gemeinwesen und Bevölkerungsgruppen als Klienten gesehen werden. Gesundheits-sicherung - und nicht Krankheitsbearbeitung - wird als vordringliches Ziel angesehen (Swanson/

Albrecht 1993). Die vordringlichen Aufgaben bestehen in - der Verhütung von Krankheit,

- der Gesundheitserhaltung und -Sicherung bei bedingter Gesundheit,

- der Schaffung von Maßnahmen, mit denen die Erreichbarkeit der Versorgung verbessert wird, also Wege durch die Versorgungslandschaft gebahnt werden und die Versorgungslei-stungen koordinierten werden und in

- der Versorgungssystemgestaltung, d.h. der Schaffung von infrastrukturellen Voraussetzungen für eine dem regionalen Bedarf und den lebensweltlichen Bedingungen der Bevölkerung ent-sprechenden Ptlege und ambulanten Versorgung.

3 Ähnliche Initiativen gab es auch in Deutschland, so in den zwanziger Jahren durch Antonie Zerwa für die Kinder-krankenpllegc (Wegmann 1992). Eine Institutionalisierung fand jedoch nicht statt, vor allem aufgrund der starken Linterordnung der Ptlege unter die Ärzteschaft und des Abbruchs sozialer Reformprozesse durch den Nationalso-zialismus (Steppe 1993).

4 Bemerkenswert ist, daß sowohl die Berufsorganisation von Public Health 1922 eine Sektion Public Health Nursing einrichtete, als auch die American Nurses' Association 1966 eine Abteilung Community Health Nursing mit ähnli-chen Aufgabenstellungen gründete. So finden sich in den USA sowohl Public-Health- als auch Pflege-Studiengänge für dasselbe Aufgabengebiel. In den letzten Jahren findet analog zu anderen Bereichen der Pflege eine Anhebung des Ausbildungsniveaus statt. Neben einem grundständigen Abschluß (Bachelor of Science) wird ein Aufbaustu-diengang "Community Health Nurse Clinical Specialist" (Master of Science-Abschluß) angeboten. Viele Konzepte und Interventionen dieses Studiengangs beziehen sich auf die Probleme der Versorgung chronisch kranker Men-schen und die entsprechend notwendigen Dienste bzw. Anpassung vorhandener Dienste (Anderson 1989).

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-5.5.1 Public Health Nursing in der Praxis: Der Fall Aids

Das von VNA neu geschaffene Programm zur Versorgungsgestaltung für Aids-Patienten, kurz "Aids-Project" genannt, besteht aus einem Team von vier Public Health Pflege-kräften, zwei Sozialarbeitern und einer Sekretärin. Hinzu kommt die Leiterin des Teams, die über einen Master-Abschluß in Public Health Nursing verfügt. Finanziert wird der Dienst durch selbst eingeworbene Gelder, sowohl vom Staat als auch von Stiftungen (grants), die jährlich neu beantragt werden müssen und 'daher als "soft money" gelten.

Der Dienst hat einen Etat von über einer Million Dollar im Jahr.

Ziel der Public Health Nurses ist, die Versorgungsitutation für alle von Aids betrof-fenen Gruppen in der Region zu verbessern. Als primäre Aufgabe stellt sich ihrer Sicht nach, in den Gemeinden geeignete Infrastrukturen zu schaffen und Leitmaximen krank-heits- und patientenangemessener Versorgung durchzusetzen, z.B. Krankenhausaufent-halte zu minimieren, und zwar sowohl um Kosten zu senken - ein Krankenhaustag für Aids-Patienten kostet mindestens 1 000 US-Dollar - als auch, um die Lebensqualität der Patienten zu verbessern, indem eine stabile häusliche Versorgungssituation geschaffen wird. Darüber hinaus werden konkrete Einzelfallhilfen (z.B. Finanzierung von benötig-ten Diensbenötig-ten) angebobenötig-ten. Bei der Umsetzung dieser Aufgaben entfalbenötig-ten die Mitarbeiter des Teams Aktivitäten in mehrere Richtungen: zur Gemeinde, zum Versorgungswesen, zum eigenen Pflegedienst und zu den Patienten.

Dje gejn£ina^on£tä Politik- und Planungsebene wird von den Public Health Nurses als wichtiger Bestandteil der Aktivitäten gesehen und mit dem Be-griff des "Community Resource Development" gekennzeichnet. Sie bestand zunächst aus Informationen, um in der Gemeinde, insbesondere bei den politischen Gremien, Bewußt-sein für das Gesundheitsproblem Aids zu schaffen. Dem folgte die Bildung eines HIV-Konsortiums, um Einfluß auf die Gesundheitspolitik der Region nehmen zu können. Das Gremium wurde mit Vertretern aus Kommunalpolitik, Krankenversorgung und freier Wirtschaft besetzt, um die notwendigen Maßnahmen möglichst breit zu verankern. Die Aufgabe dieses Gremiums ist, den Bedarf an Diensten in der Gemeinde zu erheben, Lücken festzustellen und eine entsprechende Anpassung vorhandener Dienste oder die Schaffung neuer Dienste zu initiieren. In Santa Clara County ist es dem HIV-Konsortium unter Leitung der Public Health Nurses gelungen, Gelder zu akquirieren, die zur Förde-rung von Spezialaufgaben vergeben werden können, so daß Lücken bei den Diensten ge-schlossen werden können.

Gegenüber dem Versorgungssystem versteht sich Public Health Nursing als Instanz, die Versorgungsmanagement und -koordination betreibt, indem vorhandene Dienste an neue epidemiologische Realitäten und Problemlagen angepaßt, entsprechende Koopera-tionsstrukturen geschaffen werden etc. In einem ersten Schritt wurde von den Public Health Nurses der eigene Dienst an die Anforderungen von Aids und Aids-Patienten an-gepaßt: Es werden Kooperationen mit den aids-behandelnden Institutionen aufgebaut, das Infusions- und das Hospiz-Team auf die neuen Anforderungen vorbereitet (Spezialmedi-kationen, spezifische Problematiken junger Patienten aus Randgruppen der Gesellschaft usw.) und Finanzierungsmodalitäten für die oft unterversicherten jungen Patienten

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-den. Auch an der Anpassung anderer Dienste an die Anforderungen von Aids haben die Public Health Nurses mitgewirkt, und inzwischen suchen die meisten Dienste, die Aids-Patienten betreuen, die Zusammenarbeit mit ihnen:

- Das Santa-Clara-Medical-Center (County-Hospital) betreut den größten Teil der Aids-Patienten; Kaisers (Health Maintenance Organisation, so etwas wie eine Knapp-schaft) versorgt ebenfalls viele Aids-Patienten und das Veterans Administration (Krankenhaus für Armeeangehörige) verfügt über ein kleines kostenloses Programm für ehemalige Armeeangehörige. Alle Krankenhäuser nehmen zur Entlassungsvorbe-reitung häufig Kontakt mit dem Aids-Team auf.

Es gibt eine Gruppenpraxis schwuler Ärzte, die mit den Public Health Nurses koope-rieren. Darüber hinaus kommen sehr viele Pflegedienste auf die Public Health Nur-ses zu.

Ein Wohnprojekt mit vier Häusern für 18 Patienten wendet sich häufig an das Team, um soziale Fragen zu klären und Dienste vermittelt zu bekommen.

Im Bereich der ehrenamtlichen Betreuung arbeiten die Public Health Nurses mit dem Aris-Project zusammen, dem größten "Volunteer-Project" in Sanat Clara County speziell für Aids, das 1986 gegründet wurde. Es beschäftigt 14 Angestellte bei 400 Freiwilligen und betreut 70 Prozent aller Aids-Kranken des Countys, und zwar so-wohl durch "emotional support" (Gespräche, Essen gehen etc.) als auch durch "prac-tical support" (Einkaufen, zur Bank oder zum Arzt begleiten).

Gegenüber den Patienten wirken die Public Health Nurses als Vermittler und Koordina-tionsinstanz mit "wegweisenden" Funktionen durch die Versorgungslandschaft. Dazu be-dienen sie sich der Methode des Case Management, mit der versucht wird, den Patienten gezielt die aids-spezifischen Leistungen des Versorgungssystems zukommen zu lassen, also einerseits für Patienten gangbare Versorgungspfade zu schaffen und auf der anderen Seite Nutzungshürden seitens der Patienten abzubauen, z.B. "drop-out" von Drogenpa-tienten zu verhindern. Public Health Nursing wurde zu einem wichtigen Bestandteil der Aids-Versorgung, denn über die Hälfte aller Aids-Patienten des Santa Clara County er-hält Case Management durch das Programm der VNA.

Die Arbeitsweise der Public Health Nurses mit den Klienten sieht folgendermaßen aus. Zunächst findet eine Bedarfserhebung statt. Dabei stellt der Case Manager fest, wel-che Konfiguration von Diensten der Klient braucht und vermittelt die entsprewel-chenden Dienste. In der Pflege wird natürlich eng. mit VNA zusammengearbeitet, und viele Kli-enten werden an das Hospice-Team und an die i.v.-Nurses verwiesen. Nach der Erhe-bung des Bedarfs ist die Anleitung und Supervision der Dienste ein großer Teil der Ar-beit. Mindestens einmal im Monat, manchmal bis zu zwei bis drei mal pro Woche, wird der Patient besucht. Umfang und Qualität der Arbeit der Pflegehelfer wird zweimal im Monat kontrolliert.5

5 Ein Fallbeispiel kann die Arbeit des Teams verdeutlichen:

"Ken ist ein 30jähriger Mann, kürzlich wurde Aids diagnostiziert. Er lebt in seinem eigenen Appartment von 645 US-Dollar Einkommen im Monat. Seine Familie lebt nicht in Californien. Kens Versorgung wird von den Public Health Nurses koordiniert. Es hat eine komplette körperliche, psychosoziale und finanzielle Bedarfserhebung statt-gefunden. Der festgestellte Pflegebedarf beinhaltet ein Krankenbett für zuhause, finanzielle Sofort-Unterstützung und Pflege für die Durchführung von i.v.-Infusionen zur Behandlung einer neuen Infektion, die von den

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-Die Public Health Nurses sehen ihre Aufgabe nicht in kurzfristiger Intervention, sondern in langfristig angelegter Begleitung des Klienten, um den Verlauf der Krankheit, die der Erfahrung des Teams nach als Kontinuum gesehen werden muß, insgesamt posi-tiv zu beeinflussen. Die Arbeit zielt dabei hauptsächlich auf das Wohlbefinden des Klien-ten und die Verhinderung oder Abmilderung von Verschlechterungen des Gesundheitszu-standes. Im Durchschnitt betreut das Team die Klienten im Vollbild sieben Monate, wäh-rend die statistische Überlebenszeit mit Aids ca. ein Jahr länger ist, d.h. die Patienten durchschnittlich erst nach einem Jahr Vollbild in den Genuß des Case Management kom-men. Die Public Health Nurses streben zwar eine möglichst frühe Intervention an, um Finanzierung der Versorgung zu sichern, Streßfaktoren herauszufinden und zu mildern, gesunde Lebensweise zu fördern (Ernährung, Bewegung, aber auch safer sex) und durch Beratung der Angehörigen die Stabilität der häuslichen Situation zu stärken. Dieses Ziel wird jedoch nur teilweise erreicht. Grund für das relativ späte Einsetzen des Case Management ist die große Nachfrage, infolge derer «die Public Health Nurses inzwischen Kapazitätsprobleme haben. Entgegen ihrem Konzept werden sie immer mehr zur "Feuer-wehr" und Krisenintervention, worunter die Qualität der Arbeit leidet. Die gesamte Be-darfserhebung und Pflegeplanung muß unter größtem Zeitdruck erledigt werden. Oft sind dann nur Notlösungen realisierbar und es ist einfach nur möglich, die dringlichsten Dinge zu tun, z.B. Kostenträger für Medikamente zu finden, Dienste zu mobilisieren oder Pflegehilfsmittel bereitzustellen.

Case Management - so die pragmatische Einschätzung 'der Public Health Nurses - ist ineffektiv, wenn nicht die Lücken bei den Diensten bezahlt werden können. Ein Drittel des Budgets wird für direkte Einzelfallhilfen benötigt, denn viele Patienten sind unzurei-chend versichert. Die Möglichkeit, direkt Dienste für den Klienten zu bezahlen "ist der Leim, der den Laden zusammenhält1', wie die Direktorin des Teams es plastisch aus-drückt. Die Finanzierung der durch Public Health Nursing betriebenen Programme un-terscheidet sich erheblich von öffentlichen Subventionen für gesundheitliche und soziale Dienste in Deutschland. Während hierzulande Institutionen unterstützt werden, ist bei Public Health Nursing der Bezug zum einzelnen Fall vorrangig (Case Management). Der Klient bekommt das Geld, um eine bestimmte Leistung zu bezahlen und nicht die Institu-tion, um eine solche Leistung vorzuhalten. Auf die Orientierung am Bedarf der Patienten und nicht an dem der Institutionen sind wir bereits in der Arbeitsweise des Public Health Office von San Francisco gestoßen, das für einen viel größeren iKlientenkreis respektive Versorgungsbereich ähnliche Aufgaben wahrnimmt wie das HIV-Konsortium und Public Health Nursing in Santa Clara County (Moers/Schaeffer 1993b). Durch direkte Verknü-pfung der Finanzierung mit dem einzelnen Fall kann Public Health Nursing sowohl sei-nen Bezug zur je spezifischen Klienten-Gruppe stärken .als auch die Patientenorientierung der Versorgung erhöhen.

Home Infusion gestellt wird. Der Sozialarbeiter hat Ken geholfen, seinen MediCal-Antrag zu stellen. Die Public Health-Pflegekraft (Case Manager) telephoniert ein bis zweimal pro Woche mit ihm und besucht ihn mindestens einmal im Monat. Die i.v.-Nurse kommt täglich, um die Infusionen durchzuführen. Wenn Ken lernt, die Infusionen selbst zu machen, wird sie nur noch einmal pro Woche kommen. Die täglichen Kosten für Kens Versorgung betra-gen 300 US-Dollar, verglichen mit 1 800 US-Dollar, die ein Krankeriiausaufenthalt wiebetra-gen mehrfacher Infusionen kosten würde. Das Case Management wird durch eine staatliche Förderung finanziert, MediCal bezahlt das Kran-kenbett, Teile der Pflegekosten, die i.V.-Medikamente und -Materialien, VNA-Home Infusion bezahlt den Rest der Infusionskosten aus anderen Einnahmen; Spenden finanzieren den Rest der Pflege." (VNA 1992)

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106-Die patientennahen Tätigkeiten der Public Health Nurses zielen nicht nur auf den Klienten, sondern auch auf sein soziales Umfeld: seine Familie, Lebenspartner und Freunde. Dabei geht es vorrangig darum, den Kranken zu stützen und Ressourcen zu mobilisieren, die ihm ermöglichen, die Situation zu integrieren, sie also nicht nur zu er-leiden, sondern gestalten und unter Kontrolle bringen zu können. Damit der Patient sich an die Krankheit und ihren wechselhaften Verlauf anpassen kann, muß ihm sehr viel Wissen vermittelt werden. Ebenso sind Eingriffe in das Alltagsmanagement nötig, denn Zuständigkeiten müssen neu verteilt werden, Betreuungsaufgaben der Angehörigen aus-gehandelt werden, Helfer aktiviert werden etc. Dazu müssen die natürlichen sozialen Netze gestärkt werden, die Kooperation mit Angehörigen, Lebenspartnern und Freunden also intensiviert werden, um ihnen Hilfestellung bei für sie ungewohnten Betreuungs-und Pflegeaufgaben zu geben. All das muß mit den Leistungen des Versorgungssystems in Einklang gebracht werden. Dabei ist seitens der Public Health Nurses auch auf Verän-derungen in den von Aids betroffenen Gruppen zu achten, z.B. die Zunahme von Er-krankten mit Suchtproblematik, vor allein i.v.-Drogengebrauch, oder die wachsende Zahl von schwulen Patienten, die ihren Lebenspartner bereits durch Aids verloren haben und daher häufig isoliert leben. Die unterschiedlichen Aufgaben von Public Health Nur-sing auf der Gemeinde-, Versorgungs- und Patientenebene werden durch das grundlegen-de Konzept verbungrundlegen-den, eine Brücke vom einzelnen Klienten zur informellen Hilfe seiner sozialen Umgebung und zur professionellen Hilfe des Versorgungssystem zu schlagen.

5.5.2 Anregungen und Lehren für deutsche Diskussion

Die ambulante Pflege in den USA reagierte mit - aus hiesiger Sicht betrachtet - erstaunli-cher Gelassenheit und ohne Abschottungsreaktionen auf die durchaus problemträchtigen Anforderungen durch Aids und Aids-Patienten.6 Die strukturell gelungene Anpassung an Aids läßt sich im wesentlichen auf drei Sachverhalte zurückführen, die allesamt lehrreich für die deutsche Pflege sind.

- Die deutlich höhere Qualifikation der Pflegekräfte hat zu einer flexibleren Reaktion auf Aids geführt. Der spezifische Betreuungsbedarf von Aids und den von Aids hauptsächlich betroffe-nen Gruppen konnte rechtzeitig erkannt und Betreuungskonzepte entwickelt werden. Auch konnten Lücken in den Dienstangeboten analysiert und durch Anpassung vorhandener oder Schaffung neuer Dienste geschlossen werden.

- Der höhere Grad der Ausdifferenzierung der ambulanten Pflege hat die Integration der Aids-Pflege in die Normalversorgung ermöglicht. Durch professionelle Arbeitsweise und Speziali-sierungen der Arbeitsgebiete mit hoher Handlungskompetenz der Pflegekräfte konnte adäquat auf Anforderungen wie Versorgungsgestaltung, Schwerstkrankenpflege und Sterbebegleitung reagiert werden. Case Management, Infusions-Service und Hospice-at-Home-Team, um nur einige Spezialisierungen zu nennen, erwiesen sich als geeignete Instrumente, um auch der Aids-Problematik zu begegnen.

- Und last but not least hat die Existenz von Public Health Nursing ermöglicht, die infrastruk-turellen Voraussetzungen zu schaffen, um auf Aids reagieren zu können. Sowohl die

Anpas-6 Am Anfang gab es zwar durchaus Infektionsängste, da in den USA die Polio-Epidemie von 1948 die letzte größere Erfahrung mit einer Infektionskrankheit war. Dennoch dauerten die Unsicherheiten nur kurz, denn nach Klärung der Infektionswege war klar, daß die notwendigen Schutzmaßnahmen im "kleinen ABC der Pflege" ("Nursing 101", wobei 101 tür die Notrufnummer steht) enthalten waren und damit aus professioneller Sicht kein Grund zur Ablehnung von Aids-Patienten bestand.

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107-sung der Pflegedienste und der gesamten ambulanten Versorgung an Aids wie auch die Be-reitstellung einer adäquaten Versorgung für diese Patientengruppe gehen auf die Tätigkeit von Public Health Nurses zurück. Sie sorgen für die Einbindung des Pflegedienstes in das Netz der versorgenden Instanzen, koordinieren die Vielfalt der Dienste zu einem fallangemessenen Serviceangebot und arbeiten innerhalb der Pflegedienste regulativ an einer Bündelung der ten-denziell zersplitterten ambulanten Versorgung. Ihre Tätigkeit ermöglicht eine weitestgehend ambulante Pflege von Aids-Patienten ohne Einrichtung von Spezialpflegediensten.

Alle drei Leistungen sind entscheidend auf den höheren Grad der Professionalisierung der amerikanischen Pflege zurückzuführen und alle drei sind gleichermaßen lehrreich für die deutsche Diskussion. Dabei ist weniger an eine Übertragung von Modellen gedacht -allein der andere Zuschnitt der Berufe verbietet direkten Transfer - als vielmehr an den dringend notwendigen Wandel der deutschen Pflege, Die amerikanische Reaktion auf Aids hat gezeigt, daß Aids kein Störfall ist, der so schnell als möglich verdrängt und an

"Spezialisten" abgeschoben werden kann. Die dort gelungene Anpassung an Aids weist auf die hiesigen Lücken und Versäumnisse, die dringend einer Revision bedürfen, und Aids ist nicht der letzte Problemfall der Krankenversorgung: Andere ungelöste Anforde-rungen wie die ambulante Betreuung onkologischer Patienten und generell die Schaffung einer angemessenen Versorgung chronisch Kranker stehen seit längerem dringlichst auf der Tagesordnung.

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108-6. Zwischenbilanz

Rufen wir uns an diesem Punkt der Analyse das Anliegen der Untersuchung in Erinne-rung und betrachten die beiden Fallstudien sowie die amerikanische Reaktion auf Aids gemeinsam. Zu diesem Zweck behandeln wir alle drei gleichrangig als unterschiedliche Strategien bzw. Konzepte der Anpassung der ambulanten Pflege an Aids.

Der Frage, mit welchen Maßnahmen die professionellen Akteure eine ineinander-greifende und kontinuierliche Versorgung der Erkrankten gewährleisten, also integrierte

Der Frage, mit welchen Maßnahmen die professionellen Akteure eine ineinander-greifende und kontinuierliche Versorgung der Erkrankten gewährleisten, also integrierte