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5. Ambulante Pflege auf der Basis gewachsener Professionalisierung: Die Reaktion der

5.4 Organisationsstruktur und Arbeitsweise

Der Pflegedienst legt großen Wert auf die Systematisierung der Pflegepraxis, weshalb nach den Prinzipien des Pflegeprozesses verfahren wird. Mit dieser Vorgehensweise si-chert der Pflegedienst größtmöglichen Fallbezug bei seiner Arbeit und eine gut funktio-nierende interne und externe Kooperation:

Die Pflege ist zuständig für die Erhebung des gesamten Pflege- und Versorgungsbe-darfs (assessment).

Entsprechend des Bedarfs mobilisiert die Pflege andere Helfer, die von der Pflege in die Betreuung des jeweiligen Falls integriert und untereinander koordiniert werden.

Patienten, Angehörige und weniger qualifizierte Helfer werden von den Pflegekräf-ten angeleitet. Dem liegt ein Pflegeverständnis zugrunde, das weit über manuelle Tä-tigkeiten hinausgeht und Gewicht darauf legt, daß Pflege auch sozialisierende bzw.

gesundheitserziehende Funktionen wahrnimmt: aufklärt, bei der Anpasssung an das Leben mit Einschränkungen und bei der Bewältigung der Krankheits- und Behand-lungsfolgen hilft etc.

Die praktische Pflege ("hands on nursing") ist der vierte Bereich professioneller Pflege. Sie gilt grundsätzlich als kurzfristige Interventionsform, solange Patient oder Angehörige nicht in der Lage sind, die notwendigen Selbstfürsorge-Aktivitäten oder den Umgang mit ihrer Krankheit autonom zu bewältigen. Zur praktischen Pflege ge-hören aktivierende und rehabilitierende Maßnahmen (z.B. Mobilisierung nach Schlaganfall) und die Durchführung medizinischer Therapien (Medikationen, Ver-bände etc.).1

Durch die Ansiedlung vieler Gesundheitsberufe innerhalb des Pflegedienstes können die Pflegekräfte viele koordinierenden und anleitenden Funktionen ohne organisatorischen Mehraufwand wahrnehmen. Das wichtigste Mittel der Kooperation ist eine wöchentliche Dienstbesprechung, die als Fallkonferenz genutzt wird. Der Pflegebedarf jedes Patienten

I Angesichts dieses so weil gefaßten Pflege Verständnisses stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zur ambulanten Medizin. Aufgrund der fortgeschrittenen Spezialisierung der ärztlichen Fachrichtungen verstehen sich Mediziner in erster Linie als Fachspezialisten und gestehen der Ptlege tendenziell mehr Aufgaben der Betreuung und Versor-gung zu als bei uns. Gleichwohl gibt es auch Konkurrenzen um Zuständigkeiten und Festhalten an ärztlichen Vor-machtstellungen, wie sich schon daran zeigt, dali auch in den USA der Pflegebedarf zwar nicht vom Arzt erhoben, die Pflegeleistung jedoch von ihm verschrieben wird. Auch bei der Durchführung jener bei uns als ärztliche Tätig-keiten eingestuften Leistungen steht die Ptlege formal unter ärztlicher Supervisión (medical pwtoeol).

-99-wird besprochen und die entsprechenden Aufgaben werden verteilt. Um die Besprechun-gen überschaubar zu halten, wird für jeweils 40 - 45 Patienten eine solche Konferenz ab-gehalten, an der alle Vertreter derjenigen Berufsgruppen teilnehmen, die diese Patienten betreuen. Die Leitung der Dienstbesprechung obliegt einer Pflegekraft, die auch das Team aus verschieden qualifizierten Pflegekräften anleitet, die mit diesen Patienten be-faßt sind. Sie ist zugleich "Case-Manager", und das heißt, daß sie bei "ihren" 40 bis 45 Fällen für die Erhebung des Pflege- und Versorgungsbedarfs, die Mobilisierung von Diensten und die globale Planung der Pflege zuständig ist. Zu ihren Aufgaben gehört auch, die Dienstpläne der Pflegekräfte zu führen. Daneben ist die (erhebliche) Verwal-tungs- und Koordinationsarbeit für die einzelnen Fälle zu erledigen. Wird z.B. ein Pfle-gebedarf von 10 Einsätzen festgelegt, muß das mit dem behandelnden Arzt abgesprochen werden, der letztlich die Pflege verschreibt. In der Regel folgt er dem Vorschlag des Pflegedienstes.2 Für die durchgeführten Pflegeleistungen müssen die Abrechnungen vor-bereitet werden, die dann von der Verwaltung des Pflegedienstes erstellt werden.

VNA verfährt prinzipiell bei allen Patienten nach dem Konzept des Case Manage-ment. Die ursprüngliche Idee dieses Konzepts ist, daß den Klienten Versorgungspfade durch die Einrichtungen des Gesundheitswesen gebahnt werden und ihnen über Nut-zungshürden hinweggeholfen wird, z.B. durch Kontakthalten mit Drogenpatienten, die Schwierigkeiten mit der Wahrung von Terminen haben. VNA hat das Konzept auf alle Patienten erweitert, da Fragen der Versorgungsplanung im unübersichtlichen "Dschungel der Dienste" immer mehr Beachtung verlangen. Auffällig ist, daß Case Management in der US-amerikanischen Praxis sehr eng mit der Ermöglichung, aber auch der Kontrolle der Finanzierung zusammenhängt.

Die eigentliche Pflege wird von qualifizierten Pflegekräften durchgeführt, die vom Case Manager fachlich supervidiert und angeleitet werden. Die Pflegekräfte betreuen fünf bis acht Patienten pro Tag. Nach der Erhebung des allgemeinen Pflegebedarfs durch den Case Manager, im Zuge dessen auch die notwendigen anderen Dienste mobilisiert wurden, ermitteln die direkt verantwortlichen Pflegekräfte die konkreten Ressourcen und Einschränkungen des Patienten, seine häusliche Situation und seinen Bedarf an Unterstüt-zung bei der Krankheits- und Alltagsbewältigung. Besonders in Phasen akuter Erkran-kungen unterstützen sie den Patienten bei vielen Verrichtungen (Körperhygiene, Mobili-sierung, medizinische Therapien), die manuelle Pflege nimmt dabei häufig einen großen Anteil der Arbeit ein. Im Zuge der Krankheitsbewältigung wird das Alltagsmanagement zunehmend von Pflegekraft und Patient gemeinsam gestaltet, so daß nunmehr rehabilita-tive, aktivierende und sozialisierende Funktionen den größeren Teil der pflegerischen Arbeit ausmachen. Ein wichtiges Arbeitsmittel sind dabei Gespräche mit den Patienten und Angehörigen über Probleme der Krankheitsbewältigung. Angestrebtes Ziel ist, ge-meinsam mit ihnen Bearbeitungsstrategien festzulegen und sie zu befähigen, Krankheits-folgen möglichst autonom zu bewältigen. Zusätzlich zum "hands on nursing", also kon-kreter Pflege und pflegerischer Hilfe, gehören unterweisende, anleitende und beratende

2 Ist der Patient privat versichert, erfolgt ein weiterer Abstimmungsprozeß. Der Sachbearbeiter der Versicherung überprüft seinerseits anhand der Aktenlage den Bedarf und genehmigt eine bestimmte Zahl von Einsätzen Dillene-ren die Einschätzungen - und in der Regel wollen die Versicherungen weniger zahlen als der Pllegediensl veran-schlagt -, so muß erneut verhandelt werden.

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-Funktionen dazu und bilden oft den Hauptteil der Aktivitäten ("nursing is teaching").

Die Pflegekräfte leiten darüber hinaus die bei ihren Patienten eingesetzten Pflegehilfs-kräfte an und überwachen deren Tätigkeit. Alle Mitglieder der Pflegegruppe nehmen an den wöchentlichen Fallkonferenzen für ihre Patienten teil. Mit diesem dichten Netz von Anleitung, Supervision und kollegialem Austausch wird eine professionelle Arbeitsweise angestrebt, die aus unterschiedlich qualifizierten Pflegekräften und Mitgliedern anderer Gesundheitsberufe ein Pflege- und Betreuungsteam macht, das eigenständig die ambulan-te Versorgung der Patienambulan-ten gewährleisambulan-ten kann.

Organisation und Arbeitsweise ambulanter Pflege in den USA - so läßt sich zusam-menfassend feststellen - spiegeln wider, daß Pflege in den USA einen wesentlich höheren Status hat als hierzulande und ihr Stellenwert für die Aufrechterhaltung einer ambulanten Versorgung von den anderen Gesundheitsberufen anerkannt wird. Aufgrund dessen, wie auch durch ein breitgefächertes Serviceprofil und differenzierte Aufgabengestaltung, wurde die Integration von Aids-Patienten in die Normalversorgung begünstigt, wie wir am Beispiel der VNA aufzeigen wollen.

Aids-Patienten zählen zur regulären Klientel des Pflegedienstes, und zwei Speziali-sierungen, die der Betreuung schwerstkranker Patienten und so auch von Aids-Kranken dienen, ermöglichen das: der Infusionsdienst und das Hospice-Team, Beides sind Dien-ste, die hierzulande als eigenständige Spezialisierung fehlen. Mit dem Infusions-Service wird gewährleistet, daß auch aufwendige medizinische Therapien ambulant durchführbar sind. Dem Infusions-Team stehen eigene Räumlichkeiten und eine an den Pflegedienst angeschlossene Apotheke zur Verfügung. Dadurch können auch komplexe Therapien in direkter Absprache mit dem behandelnden Arzt durchgeführt werden. So werden kompli-zierte Verordnungen wie die "Totale Parenterale Ernährung", auf die beispielsweise in späten Stadien von Aids immer häufiger zurückgegriffen wird, ohne Zeitverzug herge-stellt und deren Zusammensetzung bei Bedarf geändert. Spezielle Pflegekräfte führen die Verabreichung ambulanter Infusionen selbständig durch. Die entscheidende Qualität des Infusionsteams besteht nicht in der Übernahme medizinischer Therapien, sondern in der flexiblen Reaktion auf veränderte Therapieformen, Krankheits- und Versorgungsverläufe (insbesondere bei chronischen Krankheiten), indem neue Arbeitsweisen und Funktionen ("i.v.-nurses") etabliert werden. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt stets darauf, die Selb-ständigkeit der Patienten zuhause zu fördern. Adaptierende und gesundheitserzieherische Beratung der Patienten durch die Pflegekräfte bezieht folglich auch den Umgang mit neuen Technologien ein. I.V.-Nurses verstehen sich also nicht als verlängerter Arm der Medizin, sondern helfen dem Patienten, mit dem Alltagsmanagement der Therapie in sei-ner häuslichen Umgebung möglichst selbständig zurecht zu kommen, und das wird als genuin pflegerische Aufgabe gesehen.

Zum pflegerischen Angebot gehört als weitere Spezialisierung Hospice-Care oder

"Hospice at Home" - Betreuung. Ziel der Betreuung ist es, humanes Sterben zuhause zu ermöglichen. Das Hospice-Team ist interdisziplinär mit Mitarbeitern aus Pflege, Arzt, Beschäftigungstherapie, Krankengymnastik und Sozialarbeit zusammengesetzt und hat sich auf Schmerzbekämpfung und "psycho-social support" für Patienten und ihre pfle-genden Angehörigen zuhause spezialisiert. Ein Teammitglied ist rund um die Uhr in

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-reitschaftsdienst und per Pieper für die Angehörigen erreichbar. Die Pflegekraft arbeitet hauptsächlich als Supervisor, die direkte Betreuung und Pflege wird häufig von Angehö-rigen und ehrenamtlichen Helfern getragen. Zusätzlich kann Haushaltshilfe mobilisiert werden, die bei älteren Patienten von Medicare bezahlt wird. Ein "Nursing Assistant"

für Nachtwachen im terminalen Stadium wird ebenfalls vom Hospice-Team angeboten, muß von der Familie des Patienten allerdings selbst bezahlt werden. Alleinstehenden Pa-tienten ohne informelle Helfer wird dieses Angebot jedoch nicht zur Verfügung gestellt, da die ständige Anwesenheit einer Betreuungsperson unabdingbare Voraussetzung für ambulante Sterbebegleitung ist. Das Hospice-Team garantiert Sterbenden und ihren An-gehörigen, daß sie in der letzten Lebensphase in ihrer gewohnten häuslichen Umgebung bleiben können, ohne daß es zu Unterversorgung kommt. Allerdings nehmen die Mit-glieder des Hospice-Teams erst dann die Betreuung auf, wenn sich die Patientin für eine Beendigung der kurativen Maßnahmen entschieden hat, was bei Krebspatienten im End-stadium, aber auch bei Aids-Patienten in den USA häufiger der Fall ist als hierzulande.

Über die Begleitung des Patienten hinaus werden auch die Angehörigen betreut, angelei-tet und gestützt, und auch nach dem Tod des Patienten wird ihnen Hilfestellung angebo-ten. Angehörigenarbeit ist also integraler Bestandteil der Sterbebegleitung. Bei dieser Spezialisierung stehen, - so kann man zusammenfassen - nicht medizinisch-therapeuti-sche, sondern palliative, pflegerische und psycho-soziale Aufgaben im Mittelpunkt. Die Bildung eines eigenen interdisziplinären Teams wird deshalb für sinnvoll gehalten, weil _ _ es anderen^ritejient^lgLals kurative Versorgung und Pflege, und die Mitarbeiter als

spezialisiertes Team mit begrenztem Arbeitsauftrag eine klare Konzeption des eigenen Handelns entwickeln können (vgl. Kapitel 4).

Da sich bei Aids-Patienten auch bei gelungener Integration in die reguläre Betreuung des Pflegedienstes Versorgungsprobleme häufen, lohnte sich für die VNA die Einrich-tung eines eigenen Dienstes analog zu den Angeboten der Mutter-und-Kind Betreuung etc. Die Arbeit dieses Dienstes soll nun genauer dargestellt werden, da die Wahrneh-mung versorgungsstruktureller Aufgaben sich als eines der zentralen Defizite der hiesi-gen ambulanten Pflege herausgestellt hatte.