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4. Innovation als Leitmotiv: Analyse eines Aids- Spezialpflegedienstes

4.8 Lehren aus der Arbeit des Aids-Spezialpftegedienstes

Betrachtet man die Arbeit des Spezialpflegedienstes aus dem Abstand, der durch das Ende vieler Modellprojekte und die zugleich einsetzende Normalisierung von Aids ge-kennzeichnet ist (Schaeffer/Moers/Rosenbrock 1992, S. 20; Rosehbrock 1994), so muß zunächst einmal festgehalten werden, daß dem Pflegedienst beachtlicher und angesichts seiner Ausgangsvoraussetzungen nicht erwartbarer Erfolg beschieden war.15 Er hat in der Entwicklung und Umsetzung von Pflegekonzepten für Menschen mit Aids ein hohes Maß an Pionierarbeit geleistet und dahei eine Vielzahl von Innovationen erprobt, von denen

15 Es ist ihm auch gelungen, nach dem Auslaufen des Bundesmodellprogramms "Sozialstationen" eine Weiterförde-rung mit Landesmittteln zu erreichen. Für diesen Erfolg mußten allerdings, erhebliche Energien eingesetzt und et-liche Auflagen erfüllt werden. So wurde die Förderung davon abhängig gemacht, daß der Pflegedienst nicht mehr nur Schwule, sondern alle Aids-Kranken pflegt. Daher wurde ein«? zweite Pflegegruppe auch mit und für Frauen, Spritzdrogengebraucher unter anderem aufgebaut.. Damit änderte sich der Charakter de,s Pflegedienstes, denn das Konzept "Schwule pflegen Schwule" ist nur noch begrenzt aufrechtzuerhalten. Für die bisherige Klientel ist das mit Verunsicherungen verbunden. Die Untergliederung des Pilegedienstes in unterschiedliehe Pflegegruppen er-schwert darüber hinaus das Festhalten an basisdemokratischen Strukturen. In kollektiven Bnlsehcidungspi o/,cssen ist es nahezu unmöglich, im Konfliklfall eine Einigung des nunmehr doppelt so großen, Teams her/.ustellen. Die interne Organisation des Pflegedienstes ist daher mit äußerst aufwendigen Balanceakten, verbunden und hat nach wie vor labilen Charakter.

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86-viele auch für die Pflege anders Erkrankter nutzbringend und auswertbar sind. Zu erwäh-nen ist exemplarisch die Ermöglichung einer Pflege, die nicht auf Krankheitsbearbeitung reduziert ist, sondern auch dem sozialen und psychischen Wohlbefinden der Patienten Rechnung trägt und die darüber hinaus nicht einzig individualorientiert ist, sondern auch das soziale Gefüge berücksichtigt und in umfassendem Sinne patientenorientiert verfährt.

Gezeigt wurde des weiteren, daß auch eine so schwere Krankheit wie Aids ambulant zu versorgen ist und die ambulante Pflege die dazu notwendigen Leistungen zu erbringen vermag, womit der Spezialpflegedienst zu einem autonomen Bestandteil der Krankenver-sorgung avancierte.

Dabei hatte das Team in mehrfacher Hinsicht Neuland zu betreten. So mußte die praktische Arbeit begonnen werden, ohne über Erfahrungen in der ambulanten Pflege zu verfügen, ohne mit Aids und Aids-Patienten vertraut zu sein und ohne auf konzeptionelle Vorbilder zurückgreifen zu können (auch aus den USA, speziell San Francisco, waren in erster Linie Modelle zur Krankenhauspflege bekannt geworden, vgl. Moers/Schaeffer 1993b). Konzeptionelle Vorstellungen mußten also mehr oder weniger aus dem Nichts entwickelt werden. Gleichzeitig mußte Aufbau- und Konsolidierungsarbeit geleistet wer-den, war die Beschaffung von Finanzierungsmöglichkeiten notwendig, ebenso gesund-heitspolitisches Engagement, um das Pflegeprojekt überhaupt realisieren zu können. Die Dringlichkeit und die Fülle der Aufgaben brachten es mit sich, daß viele Konzeptelemen-te "mit der heißen Nadel genäht" wurden. Gleichwohl sind die mit ihnen und allgemein mit dem Pflegedienst gesammelten Erfahrungen in mehrfacher Hinsicht lehrreich, und die wichtigsten Lehren wollen wir abschließend erörtern.

1. Auffällig ist, daß innovative und erfolgreiche Anpassungen an die Aids-Krise nicht aus der ambulanten Pflege selbst, sondern aus deren Randgebieten kamen. Fast alle erfolgreichen Anpassungsversuche in der ambulanten Pflege - so auch bei dem hier untersuchten, bei dem die Tuntenbewegung Pate stand - sind im Umfeld und in der Nähe der Aids-Hilfen entstanden, beruhten also auf Selbsthilfe-Potentialen. Begünsti-gend war neben dem daraus resultierenden Engagement sicherlich, daß viele der Ini-tiatoren neben Pflegeerfahrungen über Zusatzqualifikationen (andere Berufsausbil-dungen, Studienerfahrungen etc.) verfügten. Wie im folgenden Kapitel zu sehen sein wird, sind Versuche und Modelle, die Pflege "von oben" an die Erfordernisse der Aids-Erkrankung anzupassen, meist gescheitert (vgl. auch Schaeffer/Moers/Rosen-brock 1992, S. 7-25). Das hat seine Ursache partiell in Implementationsdefiziten, mehr noch aber im schwachen Professionalisierungsgrad der bundesdeutschen Pfle-ge, die unter anderem aufgrund von qualifikatorischen Mängeln auf neue Anforde-rungen kaum reagieren kann.

2. Die Erfahrungen des Spezialpflegedienst.es zeigen exemplarisch, daß erfolgreiche Anpassungsversuche "von unten", also Grass-root-Unternehmen, einerseits über ein mit Blick auf die Gesamtsituation der Pflege recht großes Innovationspotential

verfü-gen, zugleich aber stets mit Überstrapazierungstendenzen zu kämpfen haben, weil sie eine (über)große Aufgabenfülle zu bewältigen haben. Neben praktischer Pflege und

dazu notwendiger Konzeptarbeit ist interne Aufbauarbeit zu leisten und sind konzept-angemessene externe Kooperationsbedingungen zu schaffen etc. Zugleich müssen

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-87-so die strukturellen und arbeit-87-sorganisatorischen Voraussetzungen geschaffen wer-den, innerhalb derer eine angemessene Versorgung und Betreuung der Patienten erst möglich wird, und das ist ein kraft- und zeitaufwendiges Unterfangen. Daß es dem Team möglich war, all dieses zü bewältigen, ist unter anderem darauf zurückzuführen, daß es seinem Handeln das Charisma des AvantgardiStisetien verleihen konnte -ähnlich wie viele der im Aids-Bereich engagierten Mediziner (Schaeffer/Moers

1992). Wurde das bei letzteren jedoch dadutcli begünstigt, daß Aids ihfien heue und unverhoffte Profilierungsmöglichkeiten eröffnete (ebenda) - iftaii denke tiür ah die darniederliegende Infektiologie -, so rührte es bei den sich in def Pflege engagieren-den Aids-Protagonisten aus der Antizipation eigenen AngeWiesehseihs auf Versor-gung und Pflege, die deshalb nach den eigenen Ansprüchen gestaltet Wörden sollte.

Dabei bereitete es ihnen bisweilen eine grimmige Genugtuung zu beweisen, daß viele Insuffizienzen der ambulanten Pflege illfe Ursache iii mattgelüdef Vefändefungsbe-reitschaft der etablierten Pflegeanbieter haben und prinzipiell überWindbaf sind. Die potentielle Selbstbetroffenheit eröffnete also InndvätiöhSchaüc'en, War zugleich aber mit einem beachtlichen Preis verbunden, denn die Realisierung von Neuerungen ist ohne eine Vielzahl von kräftezehtendeh Söndeflelstuügen unmöglich. Ob diese auf Dauer aufrecht zU erhalten sind ist fraglich, deüh vergleichbar def Situation in derii zum Schöneberger Modell gehörenden Krankenhaus sind Viele' der innovativen Köh-zeptelemente nicht hinreichend durch institutionelle Strukturen abgesichert. Dadurch obliegt die Realisierung vorrangig der Handluhgskäpäzifät (ülid -kompetenz) der ein-zelnen Akteure und birgt ein stets schwelendes ÜbefföfderüngSfiöterttiai in sich (Schaeffer/Moers 1992, S. 209 ff.; Schaöfför 1993). Plötzliches Aussteigen und Burn-out als Folge von Überforderung sind auch bei dem liier untersuchten Pflege-dienst keine Seltenheit.16 Mehrfach War er dadurch in Seiner Existenz gefährdet und mußte auf die "Feuerwehrfunktioh" des ehrenamtlichen Vorstandes zdrückgfeifön, bei dem sich allerdings ebenfalls züseheitds Vefschleißefsohelhuhgeh feigen, da die Erosion der Selbsthilfepotentiale im Aids-Befeicli auch beim Pflegedienst nicht halt-macht und es heute schwerfällt, geeignete Vorstandsmitglieder zu gewinnen. Daher kann nur die weitere Schaffung aüfgäbenahgemeSseüef ärbeitsdfganisatorisctigr Strukturen die Funktionsfähigkeit des Pflegedieflstes gärahtiefem Ob dieses ohne ex-terne Steuerungshilfe möglich ist, scheint fraglich.

3. Überforderungstendenzen und die qualitativen Anforderungen def Arbeit bringen' bei allen Grass-root-Unternehmert mit Sich, daß übet kürz ödet lang SelbsthilfeIntentionen Und "Professionalisierungs"zwänge, richtiger gesagt: Föfrhallsierungszwänge

-in Widerspruch zue-inander geraten. Notwendig wird e-in Tf-amfdrtnatiÖrisprdzeß', bei dem ein sorgfältiges Abwägen von Erhaltung ursprünglicher Ziele und Einführung

neuer Strukturen und Handlungsroutinen erforderlich ist. Die Erfahrungen dieses wie auch anderer Sp'ezialpfiegedienstö zeigen, daß dies möglich ist. Sie zeigen jedoch auch, daß dieser Prozeß ebenfalls mit erheblichen Belastungsproben einhergeht. Dies-gilt um so mehr, wenn, wie im vorliegenden Fall, nach einem Modell gesucht Wird,

16 Dennoch ist benn Aids-Spezialpllegedienst die Personalffufcujation nicht großer als in anderen Bereichen der Pfle-ge (Selhstdärstellimg 1992, S 7)

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-das Selbsthilfe-Elemente, insbesondere basisdemokratische Vorstellungen, und pro-fessionelle Pflege - also leicht in Widerstreit geratende Elemente - in sich vereinigen soll, Die Realisierung dessen ist mit einem krisenreichen Balanceakt verbunden, der zeit- und energieraubend ist und erhebliche Reibungsverluste beschert, weil die mit ihm einhergehenden Krisen zwischenzeitlich die Arbeitsfähigkeit des Pflegedienstes empfindlich erschüttern - ein Phänomen, das auch bei anderen Spezialpflegediensten beobachtbar ist. Für die Patienten ist das folgenreich, denn nicht immer weist ihre Betreuung jene Stabilität auf, wie sie speziell bei Schwerstkranken erforderlich ist.17 4. Die Erfahrungen zeigen außerdem, daß seit langem angemahnte Innovationen in der

ambulanten Pflege, wie Patientenorientierung und Ermöglichung humanen Sterbens, realisierbar sind. Bislang scheitern sie aufgrund von Strukturdefiziten, allen voran von Finanzierungsproblemen. Daß der Spezialpflegedienst unter den gegebenen Be-dingungen bislang überleben konnte, ist seinem Engagement geschuldet, mit dem er immer wieder eine Sonderfinanzierung erwirken konnte. Jedoch bleibt es ein aufrei-bendes Unterfangen, die Strukturprobleme von der Peripherie der Leistungserbrin-gung aus lösen zu müssen und mit Krankenkassen und öffentlichen Geldgebern im Dauerstreit um die Finanzierung zu liegen. Hier steht die Gesundheitspolitik in der Pflicht, adäquate Finanzierungsmöglichkeiten in der Regelversorgung zu schaffen.

5. Der Spezialpflegedienst hat bewiesen, daß die ambulante Pflege einen eigenständigen Beitrag zur Krankenversorgung zu leisten vermag. Das setzt allerdings nicht nur eine angemessene Finanzierung, sondern auch ein Umdenken der anderen Kooperations-partner voraus. Sie müssen den eigenständigen Beitrag der Pflege anerkennen und

ihre Arbeitsweise nicht nur an eigenen Erfordernissen, sondern auch an denen der Pflege ausrichten. In der Praxis des Pflegedienstes ist das nur bei einer beschränkten Zahl von aids-spezialisierten Kooperationspartnern der Fall, und das führt zu einem gewissen Inseldasein. Prekär wird dies dann, wenn aids-spezialisierte Einrichtungen nicht mehr im benötigten Ausmaß zu Verfügung stehen - sei es durch Wegbrechen von Modellen oder durch Anwachsen der Patientenzahlen - und andere Kooperations-strukturen nicht hinreichend tragfähig sind.

6. Die Beanspruchung von Eigenständigkeit ist für die Pflege selbst mit einer Reihe von Implikationen verbunden und setzt voraus, daß die Pflegepraxis von einer intuitiv-er-fahrungsgeleiteten auf eine systematisches Handeln ermöglichende Stufe gehoben wird. Daran hapert es - trotz aller Pionierleistungen - auch beim Spezialpflegedienst.

Bald nach Beginn der Arbeit zeigte sich, daß die Krankheit nicht nur ungeahnt kom-plex ist, sondern ihre Charakteristik und Verlaufsdynamik zahlreichen Veränderun-gen unterliegt. Einmal entwickelte Konzepte und Modelle müssen also stets modifi-ziert und angepaßt werden, und das verlangt ein hohes Maß an Flexibilität und Re-flexivität. Da der Pflegedienst seine Arbeit unter erheblichem Problem- und Aufga-bendruck konzeptualisieren mußte, verwundert es nicht, daß viele Anforderungen letztlich nur intuitiv erfüllt, jedoch konzeptionell nicht hinreichend aufgearbeitet und

17 Das wird durch die in einer Folgestudie von uns erhobenen Patientendaten bestätigt. So sehr Aids-Erkrankte die Betreuung durch Spezialpflegedienste schätzen, beklagen sie jedoch auch die Instabilität dieser Dienste.

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89-systematisiert wurden.18 Dieser Mangel macht sich insbesondere angesichts der Chronifizierung von Aids bemerkbar, mit der zusätzliche und neue Anforderungen auf das Team zugekommen sind. Daher wollen wir abschließend unter Rückgriff auf die Erfahrungen des Pflegedienstes versuchen, Hinweise für eine Systematisierung und Konzeptualisierung der ambulanten Pflege von Aids-Patienten herauszuarbeiten.

Exkurs: Krankheitsverlauf. Pflegeerfordernisse bei Aids

Der Krankheitsverlauf von Aids, der zuvor bereits dargestellt wurde, weist mittlerweile alle Merkmale einer chronischen Krankheit auf. Diese unterscheiden sich von Akuterkrankungen durch ihre Langfristigkeit. Ihr Verlauf ist nicht linear, sondern gliedert sich in unterschiedliche Stadien und Phasen, die sich in wiederholten Auf- und Abwärtsbewegungen als akute Krisen, Stabilisierungen, erneute Verschlechterungen und Restabiüsierungen manifestieren. In jedem Stadium des Krankheitsverlaufs sind sowohl instabile als auch stabile Phasen zu verzeichnen, die in unterschiedlicher Folge und Häufung auftreten. Sequenzen von De- und Restabiüsierungen wiederholen sich und geben dem Krankheitsverlauf den Charakter einer spiralförmigen Kurve, deren Auf- und Abwärtsbewegungen langfristig gesehen nach unten weisen, Schematisch verein-facht stellen sich die Stadien und Phasen des Verlaufs chronischer Krankheiten wie folgt dar:

1. Vorstadium: Vor dem Krankheitsausbruch, es sind keine krankheitswertigen Symptome er-kennbar; Stadium möglicher krankheitsbezogener präventiver Interventionen und auch der Vorbereitung auf den Krankheitsausbruch.

2. Frühstadium: Erste Krankheitssymptome zeigen sich, die Patienten sind verunsichert und su-chen Gewißheit in diagnostissu-chen Maßnahmen; relativ stabile Phase.

3. Vollstadium:

- Akute Phasen: Auftreten von akuten Krankheitsepisoden, die Behandlung und Versor-gung erforderlich machen; akutes Stadium des Vollbildes einer Krankheit. Häufig voll-zieht sich die Erstmanifestation als Krise mit akuten Verschlechterungen, die zum Teil le-bensbedrohlichen Charakter haben und akute Interventionen erfordern; Phase der akut ge-störten Stabilität.

- Restabiüsierungen: Krankheitsverlauf und Symptome werden durch Behandlung und Ver-sorgung kontrolliert und soweit wie möglich beherrschbar gemacht,

- Destabilisierungen: Krankheitsverlauf und Symptome können durch Behandlung und Versorgung nicht ausreichend kontrolliert werden, die Balance zwischen Belastung und Bewältigung gerät aus dem Gleichgewicht; neue Anpassungen der Versorgungsleistungen werden notwendig, um eine ReStabilisierung zu erreichen,

4. Abwärtsentwicklung: Spätstadium der Krankheit; progressive Verschlechterung des körperli-chen und/oder geistigen Zustandes, die durch zunehmende Behinderung und Verstärkung

der Symptome gekennzeichnet ist. Diese destabilisierende Entwicklung kann entweder ge-bremst und eine Restabilisierung auf niedrigerem Gesundheitsniveau herbeigeführt werden, oder sie geht in das Sterben über.

5. Sterben: Das terminale Stadium der Krankheit umfaßt die Wochen, Tage und Stunden, die dem Tod unmittelbar vorausgehen. In diesem Stadium sind nicht mehr behandelnde, sondern lindernde Maßnahmen gefragt; sehr instabile Phase,

18 Angestrebt wird beispielsweise Bezugspflege, die aber in späteren Stadien des Versorgungsverlaufs nicht durch-gehalten werden kann und in eine unsystematische Variante der Gruppenpflege übergeht. Gruppenpflege wird in der pllegewissenschaftlichen Diskussion so definiert, daß die Pflegekraft mit der höchsten Qualifikation in einer Gruppe von unterschiedlich qualifizierten Pflege- und Pflegehilfskräften sowohl dem Patienten gegenüber für die gesamte Pflegeleistung der Gruppe verantwortlich, als auch der Gruppe gegenüber anleitungs- und anweisungsbe-fugt ist und ihrerseits fachlich supervidiert wird. Beim Pflegedienst hingegen unterminiert das kollektive Selbst-verständnis die Herausbildung klarer und konzeptangemessener Teamstrukturen. Ähnliches gilt für die Arbeit mit dem Pflegeprozeßmodell, von dem nur der erste Teil, die Erhebung der Situation des Patienten und seines Pflege-bedarfs (Assessing) systematisch durchgeführt wird. Die anderen Schritte (Planning, Implementing, Evaluation) werden eher summarisch ün Pflegertreffen oder von Fall zu Fall mit dem Patienten geklärt, jedoch nicht systema-tisch bearbeitet. Dadurch entstehen immer wieder problemasystema-tische Übergänge bei Änderungen der Situation des Patienten, was insbesondere während der Abwärtsentwicklung und der Sterbephase zu Belastungen des Teams führt.

-90-Der Verlauf chronischer Krankheiten ist - das sei ausdrücklich betont - nicht linear, vielmehr ist er als spiralförmiger Prozeß zu begreifen, in dem sich die unterschiedlichen Phasen abwechseln und wiederholen, langfristig jedoch eine Abwärtsentwicklung erfolgt, die aufzuhalten oder zu verzögern, zumindest aber unter Kontrolle zu halten Ziel professioneller Interventionen ist.

Wenden wir uns der Frage zu, welche Folgen daraus für die ambulante Pflege von Aids-Pa-tienten erwachsen. Zur Verdeutlichung der Anforderungen soll auf den von Strauss u.a. ent-wickelten Begriff des trajectory framework zurückgegriffen werden:

"Verlaufskurve meint nicht nur den physiologischen Verlauf einer Krankheit, sondern die ge-sainte Organisation der Arbeit, die in diesem Verlauf anfällt und den Eingriff in das Leben der Menschen, die mit dieser Arbeit und dieser Organisation befaßt sind." (Strauss/Fagerhaugh/

Suczek/Wiener 1985)

Der Krankheitsverlauf wird also nicht nur durch die Krankheit selbst bestimmt, sondern auch durch die Reaktion des Patienten und seiner Angehörigen sowie ebenso durch das Handeln der professionellen Akteure, sozusagen durch ihre Verlaufskurvenarbeit (Corbin/Strauss 1991, S. 164 sprechen von "trajectory-management"). Je mehr deren Handeln auf die Dynamik des Krankheitsverlaufs und die Situation des Patienten zugeschnitten ist, desto erfolgreicher kann es zur Krankheitsbewältigung oder -Stabilisierung beitragen.

Für die ambulante Pflege erwachsen daraus eine Reihe von Konsequenzen. Zunächst einmal ist ein Perspektivenwechsel von den kurzen Episoden akuter Krankheiten zur Beachtung des ge-samten Krankheits- und Versorgungsverlaufs erforderlich, gilt es doch, den Gesamtverlauf posi-tiv zu beeinflussen und Verschlimmerungen solange als möglich zu verzögern (Schaeffer/Moers

1994). Außerdem ist notwendig, daß sie rehabilitative und präventive Potentiale entfaltet und zur Erhaltung der verbliebenen Gesundheit sowie zur Aufrechterhaltung der Autonomie beiträgt. Da-zu gehört, daß sie der Anpassung an das Leben mit der Krankheit sowie den damit verbundenen Korrekturen des Alltagsmanagements Beachtung schenkt und ihre Interventionen nicht nur auf die Krankheit, sondern auch auf das gesundheitliche Wohlbefinden des Patienten zielen.

Um gute Verlaufskurvenarbeit leisten zu können, ist bei der Pflege von Aids-Patienten daher erforderlich, daß die Betreuung möglichst frühzeitig beginnt. Die notwendige Vorbereitung von

Patient und Angehörigen auf den weiteren Verlauf und die Hilfebedürftigkeit erfordern Zeit, und zwar eine Zeit, die nicht bereits von Krisen geprägt ist. Desgleichen dient sie dem Aufbau einer krisenfesten pflegerischen Beziehung, die für die weitere Betreuung unabdingbar ist. Aufgrund der abrupten Wechsel des Krankheitsverlaufs ist eine gute Krankenbeobachtung erforderlich, um rechtzeitig Veränderungen erkennen und auf sie reagieren zu können, und dazu muß die Pflege-kraft mit der Person des Patienten vertraut sein. Das gilt angesichts der schleichenden Persön-lichkeitsveränderungen im Rahmen der neurologisch-psychiatrischen Erkrankungen, doch ebenso aufgrund der sich entweder abrupt oder schleichend bemerkbar machenden Hilfebedürftigkeit und Selbstfürsorgedefiziten. Auch auf akute Krisen muß rasch und flexibel unter Wahrung einer möglichst großen Autonomie reagiert werden können, also ohne den Patienten zu unter- oder zu überfordern.

Im weiteren Verlauf gilt es, eine hinreichend umfassende und kontinuierliche Betreuung und Pflege zu gewährleisten. Bei Aids-Patienten ist die Gefahr von Destabilisierungen der Versor-gungssituation aufgrund der sich rasch vollziehenden Veränderungen des Gesundheitszustandes sehr groß. Häufig entstehen Gabelungspunkte (junctures, Glaser/Strauss 1968), an denen sich der Krankheits- und Versorgungsverlauf in mehrere Richtungen entwickeln kann: entweder er-neut stabilisiert wird oder in eine Abwärtsentwicklung eintritt. Daher müssen die Patienten als auch die versorgenden Dienste auf die unvermeidlichen Übergänge der Stadien des Krankheits-verlaufs vorbereitet werden. Die Bewältigung dieser Transitionen muß seitens der Pflege - so zeigen auch die Erfahrungen des Spezialpflegedienstes - auf zwei Ebenen stattfinden, sich einmal an den Patienten richten und zugleich sind die entsprechenden Dienste rechtzeitig zu mobilisieren bzw. antizipatorisch an die neuen Anforderungen anzupassen. Verlaufskurvenarbeit umfaßt des-halb Maßnahmen zur Vorbereitung auf die zu erwartenden Probleme (Informationsgespräche, Anleitung, Begleitung etc.) und zur Adaption der Patienten und ihrer Angehörigen an das Leben mit chronischer Krankheit, denn nur eine angemessene Krankheitsanpassung garantiert letztlich den Erhalt größtmöglicher Autonomie trotz Restriktionen.19

\9 Um es im einem Beispiel zu verdeutlichen: Im Zuge neurologisch/psychiatrischer Komplikationen treten Person-liclikeilsveriinderungen wie Depression, Demenz und Verwirrtheitszustände etc. auf. Werden Patient und Ange-hörige von den professionellen Helfern nicht behutsam auf die Hilfebedürftigkeit des Patienten vorbereitet (Not-wendigkeit der Begleitung bei Arztbesuchen, der ständigen Anwesenheit einer Betreuungsperson etc.), erweisen

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-Ebenso gehört Versorgungsmanagement zur Verlaufskurvenarbeit. Gemeint ist die umfangrei-che Hintergrundarbeit zur Koordination der Versorgungsleistungen, denn die Planung der Pflege ist bei Aids sehr anspruchsvoll und verlangt ständige Revisionen der Pflegestrategie und der Ar-beitsabläufe. Häufig müssen mehrfache Wechsel zwischen ambulanter und stationärer Versor-gung organisiert werden. Außerdem sind eine Vielzahl von Transfer-, Kommunikations- und Ko-operationsleistungen erforderlich und eine Reihe von versorgungssteuefnden und koordinieren-den Aufgaben wahrzunehmen, wenn eine kontinuierliche und ineinandergreifende Versorgung gewährleistet werden soll. Da die Pflege von allen Helferberufen die kontinuierlichste Nähe zum Patienten hat, steigt ihr Anteil an den zum Versorgungsmanagement gehörenden Aufgaben in dem Maße, wie sich der Aktionsradius des Patienten einschränkt,

Während der unterschiedlichen Phasen bzw. Stadien des Krankheits- und

Während der unterschiedlichen Phasen bzw. Stadien des Krankheits- und