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A1700 Deutsches ÄrzteblattJg. 102Heft 2310. Juni 2005
S T A T U S
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üngste Publikationen aus den USA lassen folgen- schwere Fehlentwicklungen zulasten der akademischen Medizin erwarten. So sind die Kosten des vierjährigen Medi- zinstudiums in den USA in den letzten 20 Jahren trotz aller Voraussagen dramatisch ange- stiegen. Während die Gesamt- kosten für die Studiengebühren bei den öffentlichen Univer- sitäten 140 000 US-Dollar be- tragen, erreichen sie bei den Privatuniversitäten 225 000 US- Dollar. Hierin noch nicht ein- gerechnet sind die zusätzlichen Kosten für zum Beispiel Lebenshaltung, Lehrbücher, Praktika. Dadurch wächst der Schuldenbetrag für einen Ab- solventen einer öffentlichen Universität auf 105 000 US- Dollar und für einen Studieren- den einer Privatuniversität auf 140 000 US-Dollar. Nur 20 Pro- zent der Absolventen bleibt schuldenfrei. Die Konsequenz der explosionsartigen Kosten- steigerung ist eine Reduzie- rung der Studienbewerber:47 000 im Jahr 1996 auf 35 700 im Jahr 2003.
60 Prozent der Bewerber stammen aus 20 Prozent der Familien hoher Einkommens- verhältnisse.Das Schuldenni- veau beeinflusst immer mehr die Wahl der medizinischen Subspezialisierung. So werden insbesondere Radiologie, Or- thopädie, Dermatologie und
Ophthalmologie bevorzugt.Als eine noch schwerwiegendere Folge der hohen Verschul- dung resultiert ein Mangel an wissenschaftlichen Assisten- ten, die eine akademische, universitäre Laufbahn anstre- ben. Es ist daher nicht ver- wunderlich, dass die Anzahl der so genannten Physician Scientists, die ein Drittmittel- finanziertes Projekt bearbei- ten, immer kleiner wird. In amerikanischen Universitä- ten wird ein Teil des Gehaltes aus Forschungsgeldern finan- ziert. Die Entwicklung stei- gert selbstverständlich nicht die Attraktivität einer sol- chen Karrierelaufbahn. Auf
der anderen Seite werden hoch motivierte Ärzte von den klinischen Institutionen durch den ständigen finanzi- ellen Druck von ihrer eigent- lichen ärztlichen Aufgabe ab- gehalten und entgehen somit dem akademischen ärztlichen Training. In der Vergangen- heit gehörte das mehrjährige Training in der Grundlagen- forschung zur Basis für eine wissenschaftlich geprägte kli- nisch-akademische Medizin.
In der Tat gilt letztendlich die Möglichkeit, an Neuentwick- lungen teilhaben zu können, zusammen mit dem Privileg, Patienten auf exzellentem wissenschaftlichem Niveau zu behandeln, und ihnen dies in der Diagnostik und Therapie zukommen zu lassen, als be- sonders attraktiv, nicht nur für amerikanische klinisch orientierte Wissenschaftler.
Während am Anfang des goldenen Zeitalters zwischen 1950 und 1990 wenige, aber hoch angesehene Universi- tätsprofessoren in jeder Uni- versität Anziehungspunkte waren, hat die zunehmende Zersplitterung der medizini- schen Subdisziplinen dazu ge- führt, dass sich die Kommuni- kation untereinander zuneh- mend schlechter entwickelt hat. Dies war insbesondere zwischen den klinisch-prak- tisch tätigen Ärzten und den eher grundlagenorientierten Wissenschaftlern der Fall.
Dadurch interagieren Letzte-
re immer seltener mit Ärzten, was zur Folge hat, dass ihnen die Plausibilitätskontrolle für ihre wissenschaftlichen Theo- rien entgeht.
Diese Entwicklung hat fer- ner dazu geführt, dass die vor allem wissenschaftlich tätigen Ärzte zunehmend von der klinischen Arbeit fern gehal- ten werden und Visiten am Krankenbett ihre akade- misch-wissenschaftlich fun- dierte Qualität verlieren.
Dies ist die Folge einer über- triebenen Entwicklung, die verschiedenen Funktionen ei- nes universitären Kranken- hauses voneinander zu sepa- rieren.Also entfernen sich die Institutionen von ihrer Ein- heit in Krankenversorgung, Lehre und Forschung und be- wegen sich immer mehr in Richtung Verkürzung der Liegedauer, Anbieten von Produktlinien und medizini- sches Marketing.Wenn diese Tendenzen sich so fortsetzen, wird dies das Ende der uni- versitär-akademischen Medi- zin sein.Noch ist es für Kurs- änderungen, insbesondere in Deutschland, nicht zu spät.
Ein Aktionsbündnis aller am weltweiten Ruf der deutschen akademischen Medizin Inter- essierten sollte sich formie- ren, um die richtigen politi- schen Weichenstellungen zu ermöglichen.
Prof. Dr. med. Guido Gerken Prof. Dr. med. Giuliano Ramadori E-Mail: g.gerken@uni-essen.de
Studiengebühren
Falsche Anreizsetzung
Foto:Photothek
Nur zu oft stellt sich in unserer täglichen Arbeit in der Kli- nik oder bei Besuchen in Pflegeheimen die Frage nach der Ruhigstellung und Fixierung von Patienten, was nicht sel- ten mit dem Deckmäntelchen des Schutzes vor Folgeschä- den verbrämt wird. Für Pflegekräfte und Ärzte hat der Bundesgerichtshof nun eine längst
überfällige Entscheidung getrof- fen. Trauriger Anlass für die Klage:
Eine Krankenkasse wollte die Folgekosten eines Sturzes einer Pflegeheimbewohnerin dem Heim aufbürden las- sen, da dessen Mitarbeiter nicht die entsprechende Absi- cherung gewählt hätten.
In seinem Grundsatzurteil hatte der Bundesgerichtshof es abgelehnt, Pflegeheimen allzu strenge Auflagen für seine Bewohner aufzuerlegen. Dieses längst überfällige Urteil bringt Rechtssicherheit für unsere täglichen Entscheidun- gen – und es sollte zugleich für Ärzte und Pfleger Anlass sein, die tägliche Praxis im Umgang mit diesen Fragen er-
neut zu überdenken. Wie so oft bei Grundsatzurteilen stellt sich auch hier die Frage nach der Bedeutung für vergleich- bare Situationen. Ein Kernwort sollte noch einmal ganz be- sonders hervorgehoben werden: die Menschenwürde. Sie ist es, die unseren Alltag bestimmen sollte und die in kaum einem anderen Bereich so im Vorder- grund steht. Wenn wir uns dies be- wusst machen und diese Konsequenz für unseren Alltag überdenken, sind wir auf dem richtigen Weg zu einer patientenorientierten modernen Medizin.
Es wäre auch zu wünschen, dass bereits in den Universitä- ten, so zum Beispiel in den Kursen für Allgemeinmedizin, dieses Thema in seiner ganzen Tragweite in die studenti- sche Ausbildung integriert und lebhaft diskutiert wird.
Obwohl die Menschenwürde zweifellos ein zentrales Thema der Humanmedizin darstellt, rückt dieses Thema gegenüber den zu lernenden Fakten zu oft in den Hinter- grund. Dr. med. Alexander Herrmann Jakob