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Archiv "Anonyme Geburten: Fallstricke einer Legalisierung" (07.01.2002)

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T H E M E N D E R Z E I T

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A30 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 1–2½½½½7. Januar 2002

D

as Entsetzen über tote, halb erfro- rene oder fast verhungerte Neu- geborene, die irgendwo im Müll oder am Straßenrand aufgefunden wur- den, hat die Menschen in diesem Land in den letzten Jahren stark bewegt. Als direkte Folge wurde im April 2000 in Hamburg die erste Babyklappe einge- richtet, wo Frauen in Not ihr Baby an- onym in die sichere Obhut anderer, meist kirchlich geprägter Betreuer abgeben können. Inzwischen gibt es bundesweit mindestens 24 solcher Klappen, meist an Krankenhäusern und Kinderhei- men. Jetzt soll die Hilfe noch weiter ge- hen: In seltener Einigkeit streben Kom- munen und Parteien, Politiker und Ver- treter beider Amtskirchen die Legali- sierung der anonymen Geburt an. Doch inzwischen haben ärztliche Fachgesell- schaften und Adoptionsexperten ernst zu nehmende Bedenken angemeldet.

Ein im November 2000 von der CDU/

CSU-Fraktion eingebrachter Entwurf zur Änderung des Personenstandsge- setzes soll der Legalisierung anonymer Geburten den Weg bahnen, indem die Meldepflicht für Neugeborene und ihre Mütter unter bestimmten Bedingungen gelockert wird. Die anderen Fraktionen wollen dem Entwurf zustimmen, die Gesetzesänderung soll bereits zum l. Ja- nuar 2002 in Kraft treten.

Auf den ersten Blick überzeugt das Vorhaben, schließlich will man damit die Tötung und Aussetzung von Neuge- borenen verhindern. Da bei vielen Fin- delkindern vermeidbare Schäden fest- gestellt wurden und schon die Geburt ohne fachgerechte Hilfe für Mutter und Kind ein Risiko darstellt, scheint es fol- gerichtig, die Babyklappe durch das Angebot der anonymen Geburt zu er- gänzen. Schwangeren Frauen in Not wird die Möglichkeit geboten, in einer geburtshilflichen Abteilung zu entbin- den, danach aber ohne Hinterlassung ihrer Personalien und ohne das Kind wieder gehen zu können.

Das Kind wird acht Wochen später zur Adoption freigegeben. Ein „gerettetes“

Leben? Die Fallstricke, die mit dieser Neuregelung verbunden wären, offenba- ren sich erst auf den zweiten Blick. Nahe- zu alle Experten, die professionell eng mit der Mutter-Kind-Beziehung zu tun haben, sprechen sich gegen die geplante Legalisierung der anonymen Geburt aus:

❃ Organisationen wie ProFamilia und Terre des hommes,

❃ Adoptionsforscher, Familienthera- peuten, Pädagogen, Sozialwissenschaft- ler, Psychologen und

❃ ärztliche Fachgesellschaften.

In einem offenen Brief der Deut- schen Gesellschaft für Psychosomati- sche Frauenheilkunde und Geburtshil- fe an die Bundesjustizministerin, unter- zeichnet von den Professorinnen für Psychosomatik Mechthild Neises (Han- nover) und Anke Rohde (Bonn), heißt es: „Die Diskussion geht von der Prä- misse aus, dass mit der Legalisierung der anonymen Geburt die Aussetzung von Kindern oder sogar der schlimmste

Fall, nämlich die Tötung des Kindes, verhindert werden kann. Dies ist weder durch wissenschaftliche Erhebung noch durch empirische Funde belegt.“

Kindstötungen, so heißt es weiter, würden von Frauen begangen, bei denen eine so erhebliche Persönlichkeitspro- blematik bestehe, dass sie nicht in der Lage seien, adäquate Hilfsangebote wie eine Schwangerschaftskonfliktberatung oder die Freigabe des Kindes zur Adop- tion in Anspruch zu nehmen. „Nach einer verheimlichten beziehungsweise verleugneten Schwangerschaft wird die betroffene Frau von der Geburt ‚über- rascht‘; im Sinne einer Stress- und Panik- reaktion kommt es dann möglicherweise zur Tötung des Neugeborenen oder auch zur Aussetzung.“

Frauen mit einer solchen Problema- tik würden wahrscheinlich auch durch das Hilfsangebot der anonymen Geburt kaum zu erreichen sein. Zu befürchten sei jedoch, so Rohde und Neises, dass ganz andere Frauen das Angebot von Babyklappe und anonymer Geburt nut- zen werden, und zwar in zunehmender Häufigkeit:

❃ Frauen, die ungewollt schwanger wurden und von ihrem Partner oder den Eltern dazu gedrängt werden;

❃Frauen, die so spät gemerkt haben, dass sie schwanger sind, dass ein Ab- bruch nicht mehr infrage kommt, und die der schwierigen Entscheidung, ob sie das Kind selbst aufziehen oder zur Adoption freigeben wollen, auf diese Weise ausweichen;

❃Frauen mit vorübergehenden psy- chischen Störungen in der Schwanger- schaft, zum Beispiel Depressionen, Angst- und Zwangssymptomen.

„Solche Mütter entwickeln ausge- prägte Insuffizienz- und Versagensäng- ste und sind fest davon überzeugt, eine schlechte Mutter zu sein“, geben die beiden Psychosomatikerinnen zu be- denken. Derzeit verhindere der lang- wierige Prozess der Adoptionsfreigabe,

Anonyme Geburten

Fallstricke einer Legalisierung

Ärztliche Fachgesellschaften melden Bedenken an.

Am 8. April 2000 wurde in Hamburg die erste Ba- byklappe eingerichtet, wo Frauen in Not ano- nym ihr Baby (das Foto zeigt eine Puppe) abge-

ben können. Foto: ddp

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dass die Frau eine vorschnelle Entschei- dung trifft. „Wird das aber noch genau- so sein, wenn die anonyme Geburt lega- lisiert ist?“ fragen sie.

Inzwischen hat auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychothe- rapie und Nervenheilkunde die Bun- desjustizministerin vor der lebenslan- gen Traumatisierung gewarnt, die eine übereilte und unkontrollierte Freigabe von Neugeborenen bei den Betroffenen hinterlassen kann.

Schon nach einer regulären Adopti- on haben Frauen, die ihr Kind weggege- ben haben, oft später mit erheblichen Problemen zu kämpfen. Sie sind suizid- gefährdet, leiden gehäuft unter psycho- somatischen Krankheiten und können die Trennung von dem Kind oft nie ver- winden. Nach Ansicht der Experten ist bei Frauen nach anonymer Geburt noch stärker mit solchen Problemen zu rech- nen, weil die Entscheidung ohne beglei- tende Hilfe erfolgt und eine spätere Aufarbeitung, wie zum Beispiel im Fall einer offenen Adoption, unmöglich ist.

Aus Adoptionsstudien weiß man, dass die genetische Abstammung auch für die Kinder von größter Bedeutung ist, und zwar auch dann, wenn sie in ei- ner liebevollen Pflegefamilie aufge- wachsen sind. Kinder aus anonymen Geburten werden dagegen völlig von ihren Wurzeln abgeschnitten und emp- finden das lebenslang als tiefe Verlet- zung. Das zeigen Erfahrungen in Frankreich, wo die anonyme Geburt bereits seit 1941 erlaubt ist. Dort haben sich die anonym Geborenen zur „Gene- ration X“ zusammengeschlossen, mit dem Ziel, die anonyme Geburt wieder abzuschaffen. Auch deutsche Selbsthil- fegruppen von Adoptierten warnen vor der geplanten Gesetzesänderung.

Adoptionsforscher raten heute zur offenen Adoption, bei der das Kind so früh wie möglich aufgeklärt und, wenn möglich, die leibliche Mutter mit einbe- zogen wird. „20 Jahre Erfahrung leh- ren, dass Adoptionen umso eher gelin- gen, je selbstverständlicher Eltern mit dem Thema umgehen, je einfühlsamer sie über die leibliche Mutter sprechen, je mehr das Kind das Gefühl hat, dass es zwischen seinen beiden Familien freundschaftliche Kontakte gibt“, be- tont Christine Swientek, Professorin für Sonderpädagogik in Hannover und Ad-

optionsforscherin, in einem Beitrag für die Fachzeitschrift „Familie Partner- schaft Recht“ (2001; 5: 353–357).

Dagegen halten die Befürworter von Babyklappen und anonymer Geburt diese Diskussion angesichts toter und ausgesetzter Kinder für ziemlich akade- misch: „Bevor ein Kind sein Recht auf Abstammung geltend macht, muss es erst einmal leben“, lautet ihr sicherlich richtiges Gegenargument. Die Frage ist nur, ob man sich bei dem Versuch, ein uraltes Problem zu lösen, nicht ein neu- es, womöglich viel größeres einhandelt.

„Es wird eine völlig neue Klientel geschaffen, während die Zahl der Fin- delkinder – tot oder lebendig – nicht ab- nehmen wird!“ befürchtet Swientek.

Mit Babyklappe und anonymer Geburt würden in Deutschland „Dritte-Welt- Verhältnisse“ geschaffen, kritisiert die Adoptionsforscherin. Die gesamte Dis- kussion gehe davon aus, dass es „die verzweifelten Mütter“ seien, die ihre Kinder töteten, aussetzten oder in Ba- byklappen legten. Es gebe aber Tatum- stände, die eher daran zweifeln ließen.

Opfer-Selbsthilfegruppen

„Die Gefahr, dass missliebige Kinder aus der kriminellen Szene, aus Inzest- beziehungen, Zwangsprostitution und Frauenhandel auf diese diskrete Weise ,entsorgt‘ werden, lässt entsprechende Opfer-Selbsthilfegruppen fürchten, dass die Täter jede Chance haben, uner- kannt zu bleiben.“ Dabei will sich die Pädagogin noch gar nicht ausmalen, was bei einer Legalisierung der anony- men Geburt mit schwer behinderten Kindern passieren könnte.

Derzeit rechnen Experten in Deutschland mit 40 bis 50 Kindesaus- setzungen pro Jahr. Ausgehend davon, wäre die entsprechende Zahl in Frank- reich bei etwa 30 bis 40 anzusetzen, rechnen Rohde und Neises vor.

Tatsächlich aber gab es in Frankreich seit der Legalisierung bis zu 1 000 an- onyme Geburten pro Jahr, aktuell sind es noch circa 600. Diese Zahl scheint die Befürchtung Swienteks zu bestätigen, dass das Angebot die Nachfrage schürt.

Auch in Deutschland gibt es erste Hinweise auf eine solche Entwicklung:

Der Babyklappen-Pionier SterniPark in

Hamburg berichtet auf seiner Webseite, dass im ersten Jahr der Babyklappe acht Neugeborene ab- beziehungsweise übergeben wurden.

Als Beleg für die „Wirksamkeit“ der Klappe wird angeführt, dass in den ersten zehn Monaten in Hamburg keine ausge- setzten oder toten Kinder mehr aufge- funden worden seien. Auf der anderen Seite meldet das Hamburger Abendblatt (vom 7. November 2001), dass der Verein seit Oktober 2000 bereits 37 (!) Frauen betreut hat, die ihre Kinder anonym zur Welt brachten. Auf den Rechnungen für Beratung, Entbindung und Unterkunft bleibt SterniPark jetzt allerdings sitzen.

Einzelne Frauenkliniken bieten die anonyme Geburt bereits an, obwohl sie sich damit juristisch auf unsicherem Bo- den bewegen. Die Zusicherung von Anonymität durch Kliniken oder Anbie- ter von Babyklappen hält Alfred Wolf, Ministerialdirigent a. D. und Professor an der Juristischen Fakultät der Hum- boldt-Universität zu Berlin, für rechts- widrig („Familie Partnerschaft Recht“

2001; 5: 345–353). Polizei, Jugendamt und Staatsanwaltschaft müssten von Amts wegen Ermittlungen aufnehmen.

Das Kind habe einen Auskunftsan- spruch gegen alle, die Kenntnisse zu sei- ner Abstammung erlangt haben.

„Wer einer Mutter Anonymität zusi- chert und sie deckt, greift in das Eltern- recht ein, das im modernen Familien- recht immer stärker ausgebaut wurde.“

Ein Aussageverweigerungsrecht über die Identität der Mutter stehe Ärzten nicht zu. Schließlich sei der Arzt auch bei der heterologen Insemination verpflich- tet, die Personalien des Samenspenders zu offenbaren. Eine Rechtfertigung der Anonymität durch die Aussage, damit würde Leben gerettet, hält der Jurist für unseriös. Dr. med. Julia Rautenstrauch

Quellen

Offene Briefe der Deutschen Gesellschaft für Psychosoma- tische Frauenheilkunde und Geburtshilfe und der Deut- schen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde an die Bundesjustizministerin 1. Swientek Ch: Familie Partnerschaft Recht 5/2001,

353–357.

2. Wolf A: Familie Partnerschaft Recht 5/2001, 345–353.

3. Pressemitteilungen zur anonymen Geburt vom 11. Janu- ar 2001, 15. Februar 2001, 7. Juni 2001 von SterniPark e. V., Hamburg, Brief von ProFamilia an Prof. Rohde 4. Hamburger Abendblatt vom 7. November 2001.

5. Internetadressen: www.sternipark.de, www.geburts kanal.de, www.anonyme-geburt.de, www.Jux-fomm- adp.p.tlerter.de

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Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 99½½½½Heft 1–2½½½½7. Januar 2002 AA31

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