KOMPENDIUM: Orale Antidiabetika: Kosmetika oder Medikamente?
EKG-Repetitorium XVII. Herzinfarkt und Schenkelblock Das Gor pulmonale im konventionellen Röntgenbild
Diagnose und Differentialdiagnose Neurologischer Untersuchungskurs
FÜR SIE GELESEN: Röntgenologische
Beurteilung der Milzgröße Szintigramme von
Lymphomen,
Kopf- und Nackentumoren Die Markschwammniere
WISSENSCHAFT UND PRAXIS:
Prostatakarzinom und Krebsvorsorgeuntersuchung
DIAGNOSTIK IN KÜRZE:
Die Knochenszintigraphie Treffsicherheit der
Mammographie
THERAPIE IN KÜRZE:
Tumoren der Bauchspeicheldrüse Das osteochondrotisch bedingte
Schulter-Arm-Syndrom
Orale Antidiabetika:
Kosmetika oder Medikamente?
Hellmut Mehnert
Aus der 111. Medizinischen Abteilung
(Chefarzt: Professor Dr. med. Hellmut Mehnert) des Städtischen Krankenhauses München-Schwabing und aus der Forschergruppe Diabetes (Klinik) München (Leiter: Professor Dr. med. Hellmut Mehnert)
Zu den wichtigsten Medikamenten zählen zweifellos Präparate, die an bestimmte Kranke lebenslänglich oder doch über viele Jahre verab- reicht werden müssen. Dies gilt auch für orale Antidiabetika vom Typ der Sulfonamide oder Biguani- de. Um so beunruhigender müssen Meldungen wirken, wonach diese Präparate zum vermehrten Auftre- ten von koronaren Todesfällen füh- ren sollen. Dies gilt um so mehr, als Diabetiker sowieso häufiger an einer Angiopathie erkranken als nichtdiabetische Personen. Welche Ergebnisse liegen solchen Be- fürchtungen, die erneut in der Laienpresse geäußert wurden, zu- grunde?
Die amerikanische Studie
1970 beziehungsweise 1971 wurden in den Vereinigten Staaten die Er- gebnisse der sogenannten UGDP1)-
Studie vorgelegt, nach denen Herz- Kreislauf-Krankheiten von Diabeti- kern durch blutzuckersenkende Sulfonamide und Biguanide ungün- stig beeinflußt werden sollen. Ur- sprüngliches Ziel der Studie war es, den Verlauf der Angiopathie bei älteren Diabetikern zu erfor- schen. An der Studie nahmen zu-
nächst 1000 Diabetiker teil, aus de- nen nach dem Prinzip des "reinen Zufalls" (Randomisierung) fünf Gruppen gebildet wurden.
Der Therapieplan der fünf Grup- pen:
..,. standardisierte Insulindosis ..,. variable Insulindosis ..,. Tolbutamid
..,. Phenformin ..,. Placebo
Nach acht Jahren stellte man zu- nächst in der Tolbutamidgruppe, dann aber auch in der Phenformin- gruppe fest, daß die Zahl der kar- diovaskulären Todesfälle signifi- kant höher war als in den ande- ren Gruppen. Die amerikanischen Ärzte und insbesondere ihre Statistiker bewerteten dieses Re- sultat so hoch, daß sie die Studie vorzeitig beendeten. Außerdem er- wirkten sie eine Empfehlung der amerikanischen Diabetes-Gesell- schaft und der Food and Drug Administration, alle oralen Anti- diabetika (also nicht nur die ge-
') UGDP = University Group Diabetes Program
DEUTSCHES ARZTEBLA'ITHeft 3 vom 16. Januar 1975 125
Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
Ovale Antidiabetika
prüften Präparate) erst dann zu verordnen, wenn der Patient ent- weder nicht gewillt ist, eine Insulin- behandlung zu akzeptieren, oder wenn diese nicht möglich ist. Man- che dieser Einschränkungen, die in anderen Ländern nie gemacht wor- den sind, bestehen auch in den USA nicht mehr. Jeder Arzt war sich über die unabsehbaren Kon- sequenzen dieser zum Teil unsinni- gen Empfehlungen klar. Die Frage z. B., welche Diabetiker erst nach einem vergeblichen Behandlungs- versuch mit Insulin für die orale Diabetestherapie zur Verfügung stehen sollten, blieb offen. Abge- sehen von den wenigen Patienten mit einer Insulinresistenz oder ei- ner Insulinallergie, die übrigens beseitigt oder abgeschwächt wer- den kann, gibt es keinen mit Ta- bletten behandelten Zuckerkranken, der nicht auch auf Insulin einge- stellt werden kann.
Kritische Überlegungen
Unmittelbar nach Bekanntwerden hat sich die Deutsche Diabe- tes-Gesellschaft mehrmals mit den Resultaten der Studie beschäftigt und auch über ihre Beratungen be- richtet. Weder in der Bundesrepu- blik Deutschland noch in anderen Ländern bestand Anlaß, auf Grund dieser Studie die amerikanischen Empfehlungen für die orale Diabe- testherapie zu übernehmen. Bei dieser zweifellos sehr verdienstvol- len und aufwendigen prospektiven Arbeit war bereits das Prinzip der Randomisierung unbefriedigend.
Wenn es darum geht, Behand- lungsarten beziehungsweise Medi- kamente verschiedener Wirkungs- stärke vergleichend zu prüfen, ist es nicht statthaft, Diabetiker mit gleich schwerem Insulinmangel entweder mit Diät allein oder zu- sätzlich mit Tabletten oder Insulin zu behandeln. Hierdurch werden nicht die beabsichtigten gleichen, sondern mit Sicherheit ungleiche Prüfungsbedingungen geschaffen.
Inzwischen ist auch bekannt ge- worden, daß einige der Probanden nicht diabetisch waren. Viele ande-
re (wenn nicht die meisten) hätten eigentlich allein mit Diät behandelt werden können. Gerade bei sol- chen Patienten führt aber die Gabe von oralen Antidiabetika (zum Bei- spiel 1,5 Gramm Tolbutamid pro Tag) zu einer ständigen Gegenre- gulation, also zur Sekretion von hy- perglykämisierenden Hormonen, wie Katecholamine, Wachstums- hormon und Kortisol; ihre nachtei- ligen Einwirkungen auf das Gefäß- system sind hinreichend bekannt.
14 Prozent der Placebogruppe und 18 Prozent der Tolbutamidgruppe hatten bereits vor Beginn der Stu- die eine spezifische diabetische Retinopathie. Dies beweist, daß entgegen den Forderungen, die sich die Autoren der UGDP-Studie selbst gestellt hatten, bei einem großen Teil der Patienten ein über lange Zeit unerkannter und unbe- handelter Diabetes mellitus bestan- den hatte. Außer dem unbehandel- ten Diabetes waren in der Tolbut- amidgruppe auch andere Risiko- faktoren von vornherein gehäuft vertreten.
Kritisiert wurde auch, daß bei Be- ginn der mit anderer Zielsetzung begonnenen Studie keine Planung vorhanden war, um die Mortalität zu studieren. Die untersuchten Pa- tienten sind im übrigen weder für die Gesamtbevölkerung noch für die Diabetiker in den USA reprä- sentativ.
Hinzu kommt, daß die diätetische Behandlung der zumeist überge- wichtigen Patienten nur in der Pla- cebogruppe zu einer Gewichtsab- nahme führte. Das ist allerdings nicht verwunderlich, wenn man be- denkt, daß die — unnötigerweise
— mit Medikamenten behandelten Patienten womöglich zusätzlich Nahrung zuführten, um Hypoglyk- ämien zu vermeiden.
Überraschend war auch die Tatsa- che, daß in vier Kliniken kein Pa- tient der Tolbutamidgruppe starb, während in drei anderen außerge- wöhnlich hohe Mortalitätsraten vorlagen. Warum von den 21 Ver- storbenen der Placebogruppe (im Vergleich: Tolbutamid 30 Fälle, bei-
de Insulingruppen etwa je 20 Fälle, Phenformin — allerdings unter be- sonderen Bedingungen — 31 Fälle) keiner einem Herzinfarkt erlag, ist unerklärlich; der zu erwartende Anteil unter den älteren zucker- kranken Patienten hätte minde- stens 40 Prozent betragen müssen.
In der mit Tolbutamid behandelten Gruppe sind 26 von 30 Patienten an kardiovaskulären Krankheiten ge- storben; bei den Überlebenden die- ser Gruppe waren aber Elektrokar- diogramm-Veränderungen nicht gehäuft aufgetreten. Bedenkt man, daß Chemie, Pharmakologie, Stoff- wechsel, Wirkungsmechanismus, Nebenwirkungen von Sulfonami- den und Biguaniden verschieden sind, ist es verwunderlich, daß un- ter beiden Substanzen die gleichen ungünstigen Einflüsse auf das Herz-Kreislauf-System beobachtet wurden. Gemeinsame Merkmale dieser Präparate sind lediglich die Tablettenform und die Tatsache, daß sie bei bestimmten Diabetikern den Blutzucker senken.
Die Vermutung liegt also nahe, daß die unnötige Blutzuckersenkung, die sowohl dem Übergewicht als auch der Sekretion gegenregulatorisch wirksamer Hormone (die das Ge- fäßsystem ungünstig beeinflussen), Vorschub leistet, schuld an dem ungünstigen Abschneiden der mit Tabletten behandelten Patienten ist
— falls ein solches überhaupt ve- rifiziert werden kann. Im übrigen bleibt es unverständlich, warum die wichtige Studie abgebrochen wur- de, als die Zahl der Todesfälle in den mit oralen Antidiabetika behan- delten Gruppen überwog. Wäre die Studie über längere Zeit fortgeführt worden, hätte sich möglicherweise der Unterschied als ebenso vor- übergehend herausgestellt wie in einer der beiden Insulingruppen.
Diese dort schon wenige Jahre nach Beginn der Studie beobachte- te Differenz war allerdings damals kein Anlaß, die Gruppe mit der hö- heren Letalitätsrate aus der Studie herauszunehmen.
Das Ergebnis der amerikanischen Autoren konnte durch andere Stu- dien nicht bestätigt werden. Für die
126 Heft 3 vom 16. Januar 1975 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
Deutsche Diabetes-Gesellschaft bestand deshalb kein Anlaß, das Indikationsschema für orale Anti- diabetika zu ändern. Die Reihenfol- ge für die Therapie wurde unverän- dert beibehalten: Zunächst Be- handlung mit Diät allein, dann Diät und Tabletten und schließlich Diät und Insulin.
Orale Differentialtherapie
Damit ist allerdings das von der UGDP-Studie aufgeworfene Pro- blem nicht gegenstandslos gewor- den: die unnötige Verabreichung von Medikamenten an Patienten, die allein mit Diät behandelt wer- den können. Bereits unmittelbar nach Einführung blutzuckersenken- der Tabletten, also schon vor 20 Jahren, haben maßgebende Diabe- tologen vor diesem Vorgehen ge- warnt. Die gleichen Bedenken gel- ten übrigens für die unnötige Be- handlung von Diabetikern mit Insu- lin.
Die Einführung oraler Antidiabeti- ka, und zwar besonders der stark blutzuckersenkenden neueren Prä- parate vom Typ des Glibenclamid und der Retardpräparate vom Typ der Biguanide, hat eine orale Differentialtherapie nicht nur er- möglicht, sondern auch erforderlich gemacht; sie war bis dahin nur für die — je nach Stoffwechsellage — zu variierende Insulintherapie be- kannt. Auch die oral verabreichten Präparate müssen gezielt einge- setzt und je nach Änderung (Bes- serung oder Verschlechterung) der Stoffwechsellage in ihrer Dosis erhöht oder reduziert werden.
Konsequenzen aus der amerikani- schen UGDP-Studie zur oralen Dia- betestherapie haben sich nur inso- fern ergeben, als künftige Studien dieser Art die begangenen Fehler vermeiden müssen. Die bei diesen Untersuchungen praktizierte fehler- hafte Therapie darf nicht nachge- ahmt werden. Daß einige Jahre nach Abschluß der Studie die Er- gebnisse in Laienzeitschriften er- neut zur Diskussion gestellt worden
sind, hat nur zur Beunruhigung von Arzt und Patient geführt.
Diät vor Medikation
In diesem Sinne ist auch die vom Vorstand der Deutschen Diabe- tes-Gesellschaft unlängst der Pres- se übergebene Verlautbarung zu verstehen, in der es unter anderem heißt: „Es besteht nach wie vor kein Anlaß zur Beunruhigung für mit Tabletten behandelbare Zuk- kerkranke, wenn die Indikation für diese Therapieform richtig gestellt und Art und Menge der Tabletten richtig gewählt werden. Anderslau- tende Pressemeldungen sind ohne Mitwirkung der zuständigen Fach- gesellschaft, nämlich der Deut- schen Diabetes-Gesellschaft, abge- faßt worden. Sie haben bedauerli- cherweise zu einer erheblichen Verunsicherung der mit Tabletten behandelten Diabetiker geführt.
Soweit es sich bei den Pressemel- dungen um Mitteilungen über die Ergebnisse der sogenannten ame- rikanischen UGDP-Studie handelt, haben neben der deutschep auch die französische und englische so- wie weitere ausländische Diabe- tes-Gesellschaften bereits vor eini- gen Jahren auf die Fehler und Mängel dieser Studie hingewiesen.
Die aus dieser Studie abgeleitete berechtigte Forderung, überge- wichtige Diabetiker möglichst ohne Medikamente und allein mit einer kalorienreduzierten Diät zu behan- deln, entspricht seit jeher den von den zuständigen Fachgesellschaf- ten aufgestellten Richtlinien zur Behandlung der Zuckerkrankheit."
Mit dieser Bekanntmachung sollten primär die lege artis mit Tabletten behandelten Patienten beruhigt werden. Orale Antidiabetika, die nach Ausschöpfung aller diäteti- schen Möglichkeiten ohne Nachteil für den Kranken den Blutzucker senken, sind nützlich. Die Verab- reichung solcher Medikamente wird von den deutschen Diabetologen allerdings stets dann — und dies schon seit vielen Jahren — als
„Blutzuckerkosmetik" bezeichnet, wenn die Patienten nicht gleichzei- tig diätetisch behandelt werden.
Literatur
Cornfield, J.: The university group diabetes program, A further statistical analysis of the mortality findings, J. Amer. med. Ass.
217 (1971), 1676 — Goldner, M. G., Knatter- ud, G. L., Prout, T. E.: Effects of hypogly- cemic agents on vascular complications in patients with adult-onset diabetes, III. Clin- ical implications of UGDP results, J. Amer.
med. Ass. 218 (1971), 1400 — Klimt, C. R., Knatterud, G. I. Meinert, C. L., Prout, T.
E.: A study of the effects of hypoglycemic agents an vascular complications in pa- tients with adult-onset diabetes, Diabe- tes, 19 Suppl. 2 (1970), 747 — Meinert, C.
L., Knatterud, G. I., Prout, T. E., Klimt, C. R.: A study of the effects of hypogly- cemic agents on vascular complications in patients with adult-onset diabetes, Dia- betes, 19 Suppl. 2 (1970), 787 — Schöff- ling, K.: Voraussetzungen, Indikationen und Kontraindikationen der oralen Diabe- testherapie mit Sulfonamidderivaten, Wiss. Arbeitstagung. Dtsch. Diab. Ges.
12. — 13. 2. 1971 Düsseldorf. Schöffling, K.:
Indikationen und Nebenwirkungen der ora- len Diabetestherapie. 6. Kongreß, Dtsch.
Diab. Ges. 13. — 15. 5. 1971 Düsseldorf.
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. med. Hellmut Mehnert 8 München 40
Kölner Platz 1
ECHO
Zu: „Ovulationshemmer mit höherem Östrogengehalt" in Heft 45/1974, Seite 3219
„Bei ,Antibabypillen` mit ei- nem Östrogengehalt von mehr als 50 mcg erhöht sich dänischen und britischen Un- tersuchungen zufolge das Thromboembolie-Risiko. Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, die diesen Hinweis in der jüng- sten Ausgabe des DEUT- SCHEN ÄRZTEBLATTES ver- öffentlichte, erinnerte in die- sem Zusammenhang an ihre frühere Aufforderung, Ovula- tionshemmer mit mehr als 50 mcg Östrogengehalt nur dann zu verschreiben, wenn dies ärztlich besonders ange- zeigt sei." (Die Rheinpfalz, Ludwigshafen, und andere Tageszeitungen)