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Archiv "Orale Diabetestherapie: Neue Gesichtspunkte in der Beurteilung oraler Antidiabetika?" (14.12.1978)

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Orale Diabetestherapie

Neue Gesichtspunkte in der Beurteilung oraler Antidiabetika?

Arnold Hasselblatt

Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Universität Göttingen

(Direktoren: Professor Dr. med. Wolf-Dieter Erdmann und Professor Dr. med. Arnold Hasselblatt)

Die Häufigkeit der im Zusam- menhang mit einer Biguanid- Behandlung auftretenden Laktazidosen wurde früher si- cher unterschätzt. Die Gefahr wird verständlich, wenn man den Wirkungsmechanismus der • Biguanide, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Pathophysiologie der Grund- leiden eines Patienten berück- sichtigt. Biguanide sind des- halb mit einer Ausnahme in diesem Sommer aus dem Handel gezogen worden. Aber auch bei der Anwendung ora- ler Antidiabetika der Sulfonyl- harnstoffklasse sind die mög- lichen Gefahren für den Pa- tienten in Rechnung zu stel- len.

Lebensbedrohende Laktazidosen traten unter einer Biguanidbehand- lung häufiger auf als zunächst ange- nommen wurde. Bei der neuen Be- wertung der Stoffklasse standen kürzlich erhobene Befunde über ei- ne Anreicherung von Biguaniden im Gewebe, insbesondere aber in der Leber, zur Verfügung. Danach wird selbst bei therapeutischer Dosie- rung ein hoher Gewebsspiegel er- reicht, der die Zellatmung und auch die Oxidation von Milchsäure beein- trächtigt.

Auch die Kenntnisse über die Vertei- lung neuerer Sulfonylharnstoffderi- vate im Organismus sind unvollstän- dig. Das Tolbutamid ist in dieser Hinsicht noch am besten untersucht worden. Dieses Standardpräparat der Sulfonylharnstoffgruppe dringt kaum in die Gewebe ein.

Im Gegensatz zu Tolbutamid rei- chert sich dagegen das Glibenclamid im Gewebe an. Das könnte erklären, warum nach Glibenclamid gelegent- lich besonders schwere hypoglyk- ämische Reaktionen auftreten.

In der Behandlung übergewichtiger Altersdiabetiker werden Gewichtsre- duktion und Diät mehr denn je in den Vordergrund treten müssen, nachdem die Biguanide, die im Ge- gensatz zu den Sulfonylharnstoffen

das Körpergewicht senken konnten, nur noch sehr eingeschränkt zur Verfügung stehen.

Biguanide

Im März dieses Jahres sah sich das Bundesgesundheitsamt zur Emp- fehlung veranlaßt, die beiden am häufigsten verordneten Biguanide Buformin und Phenformin bis späte- stens zum 1. Juli 1978 vom Markt zu nehmen. Wegen des geringer er- scheinenden Risikos von Metformin wird dessen weiterer Vertrieb unter der Auflage geduldet, daß jeder Ver- schreibungsfall durch einen ent- sprechenden Fragebogen doku- mentiert wird (DEUTSCHES ÄRZTE- BLATT Heft 12/1978, Seite 674).

Nach der fast 20jährigen breiten An- wendung der Biguanide in der Be- handlung von Altersdiabetikern, ins- besondere von solchen Patienten mit Übergewicht, stellt sich die Fra- ge, welche neuen Gesichtspunkte eine derartig tiefgreifende Entschei- dung rechtfertigen.

Am Anfang der erneuten Diskussion über die möglichen Gefahren der Bi- guanide stand die Einsicht, daß die Häufigkeit der Laktazidosen, die in Verbindung mit einer Biguanidbe- handlung auftreten und fast in je- dem zweiten Fall zum Tode führen,

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Aethanol Acetaldehyd

NAD+ NADH

Biguanid Laktat Pyruvat anaerobe

Glykolyse Glucoe

i

t 1

Glykogen

NAD+

- CO

2

Citrat-

cyclus

NADH

Atemkette ATP

o H20

Gluconeogenese

Cytoplasma Mitochondrien

40

Schema

% der Initialen Dosis 80

20

12 24 36 48 60 72 84 Std.

60

Blut

tiefes Compartiment

nicht richtig eingeschätzt wurde.

Wenn im Jahr 1975 etwa 450 000 Pa- tienten in den USA mit Phenformin behandelt wurden und 69 von ihnen im gleichen Jahr eine Laktazidose entwickelten, so bedeutet das, daß diese gefährliche Komplikation in- nerhalb von einem Jahr bei einem von 6500 behandelten Patienten auf-

trat. Auch diese Schätzung ist sicher zu niedrig, wenn man bedenkt, daß gerade die Laktazidose häufig ver- kannt und nicht jeder gesicherte Fall mit der Biguanidbehandlung in Zu- sammenhang gebracht wurde. Auf den Gefährlichkeitsgrad der Laktazi- dose weist eine Analyse von 330 Fäl- len eindrücklich hin. Sie zeigt, daß

die Hälfte der betroffenen Patienten verstarb. Besonders ungünstig wa- ren die Überlebenschancen bei ho- hem Alter, schwerer Niereninsuffi- zienz und dann, wenn es zum Schock gekommen war.

Unter den 330 Patienten waren auch solche, die aus heutiger Sicht keine Biguanide hätten erhalten dürfen.

Die Kontraindikationen wurden im vergangenen Jahr durch die Deut- sche Diabetes-Gesellschaft und durch die Arzneimittel-Kommission der Deutschen Ärzteschaft definiert (DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 11/1977, Seite 709). Entmutigend ist jedoch, daß selbst bei strikter Be- achtung der Kontraindikationen die Gefahr der Laktazidose nicht völlig zu bannen ist. So wird in einer Stu- die der Krankengeschichte von acht Patienten, die unter Phenformin an einer Laktazidose verstarben, nach- träglich geprüft, ob diese Entwick- lung vorhersehbar gewesen wäre.

Bei zwei der Patienten bestand eine Niereninsuffizienz, bei einem dritten eine Herzinsuffizienz.

Darstellung 1: Schema des Stoffwechsels der Milchsäure. Biguanide hemmen den Zugang von Pyruvat in die Mitochondrien der Zelle und damit den Zugang zu Oxidation und Gluconeogenese. Das Auftreten einer Laktazidose wird begünstigt durch Äthanol und jede Hemmung der Oxidation (Hypoxie, Hem- mung der Atemkette)

Darstellung 2: Modell eines „tiefen" Kompartimentes (nach Garret), in dem sich eine alle zwölf Stunden zugeführte Substanz langsam anreichert, weil sie verzögert wieder an das Blut abgegeben wird. Die Konzentration im tiefen Kompartiment ist bei mehrfacher Einnahme höher als nach einer Einzelgabe und nicht aus der momentanen Konzentration im Blut abzuleiten. Im Falle von Biguanid-Gaben gehört die Leber zum „tiefen" Kompartiment

In diesen drei Fällen hätte Phenfor- min nicht gegeben werden dürfen.

Bei den restlichen fünf Patienten war aus den klinischen Daten nicht erkennbar, warum es zur Laktazido- se kam. Der Ausgang war also nicht vorherzusehen. Zur Unsicherheit trägt bei, daß gerade Altersdiabeti- ker plötzlich und nicht vorhersehbar durch einen Herzinfarkt oder. eine Infektion in eine Stoffwechselsitua- tion geraten, in der eine Laktazidose entstehen kann. Wenn in dieser Si- tuation zusätzlich Biguanide ge- nommen wurden, erhöht sich natür- lich die Gefahr für den Patienten.

Aus biochemischen Untersuchun- gen ist schon lange bekannt, daß Biguanide die Verbrennung von Milchsäure hemmen. Sie reagieren in typischer Weise mit der Membran der Mitochondrien und stören so den Zugang von Substrat zum Ort des oxidativen Abbaus (Darstellung 1). Milchsäure entsteht im arbeiten- den Muskel aus Traubenzucker. Es ist gemessen worden, daß ein 70 Ki- logramm schwerer Mensch am Tage 140 Gramm Milchsäure umsetzt. Da-

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Glibenese Glibizid®

generic name

Carbutamid Tolbutamid

Glycodiazin Chlorpropamid Tolazamid Glibenclamid Glibornurid Glisoxepid Gliquidon

Handelsname

Nadisan®, Invenol®, Dia-Tablinen®

Rasti non®, Artosin®, Guabeta®, Tolbutamid- Tablinen Sanoramia®, Tolbutamid-ratiopharm Redul®

Chloronase®, Diabetoral®

Norglycin®

Euglucon®

Glutril®, Gluborid®

Pro-Diaban®

Glurenorm®

1 Tablette enthält

in mg 500; 1000

1000

1000 250 250 5; 2,5

25 4 30

5 Tabelle 1: Beispiele für in der Bundesrepublik gebräuchliche Sulfo- nylharnstoffderivate

Sulfonylharnstoff-Gruppe

Tabelle 2: Plasmahalbwertszeit von Tolbutamid vorher und unter einer Behandlung mit einem zweiten Medikament. Die Verkürzung nach Rifampicin geht auf eine beschleunigte, die Verlängerung durch die anderen Stoffe auf eine Hemmung der enzymatischen Inaktivierung zurück (nach Hansen und Christensen, 1977)

(Handelsnamen geben nur Beispiele an)

mittlere Ha in Stu vorher

lbwertszeit nden

danach Sulfaphenazol (Orisul®)

Chloramphenicol (Leukomycin®) Phenprocoumon (Marcumar®) Phenylbutazon (Butazolidin®) Oxyphenbutazon (Tanderil®) Sulfinpyrazon (Anturano®) Clofibrat (Regelau®) Rifampicin (Rimactan®)

4,0 27,5

4,8 4,5

7,1 6,0 5,5 5,0

14,7 5,3 10,5 12,0 9,5 11,0

5,5 3,1

von wird etwa ein Fünftel in der Le- ber zur Neusynthese von Glukose verwendet, der Rest aber zu Kohlen- säure und Wasser oxidiert.

Wenn die Biguanide den oxidativen Stoffwechsel behindern, entsteht in anaerober Glykolyse vermehrt Milchsäure aus Glukose. Gleichzei- tig ist die Oxidation der Milchsäure gehemmt, ihre Konzentration im Blut steigt an. Unter diesen Umstän- den überrascht nicht, daß extrem hohe Dosen von Phenformin beim Gesunden eine Laktazidose auslö- sen können. Tatsächlich sind meh- rere Fälle bekannt, in denen in suizi- daler Absicht von Nichtdiabetikern Überdosen von Phenformin genom- men wurden. Mengen von 1,5 bis 3 Gramm haben schwere Laktazido- sen und Hypoglykämien ausgelöst.

Die entscheidende Frage ist, ob der- artige lebensgefährliche Vergiftun- gen bereits bei therapeutisch ver- wendeter Dosierung ihren Anfang nehmen können.

Dem Einwand, daß die therapeuti- sche Wirkung der Biguanide nur durch eine Störung des oxidativen Energiestoffwechsels erkauft wird, ist stets entgegengehalten worden, daß die Konzentrationen im Blut der behandelten Patienten sehr viel niedriger sind als diejenigen, die am isolierten Organ zu einer Atmungs- hemmung führen. So entstand die Vorstellung, daß Biguanide in hoher Dosis zwar unerfreuliche toxische Wirkungen entfalten, unabhängig davon aber einen therapeutischen Effekt auslösen, der in niedrigen Do- sen auftritt und ihren klinischen Ein- satz rechtfertigt.

Wenn man jedoch die in einigen Ge- weben auch nach therapeutischen Dosen auftretenden Konzentratio- nen berücksichtigt, stellt sich durch- aus die Frage, ob nicht der thera- peutische Effekt der Biguanide auch auf toxischen Wirkungen aufbaut.

Hohe Konzentrationen der Biguani- de treten zunächst an der Darm- schleimhaut auf. Hier wird der oxi- dative Stoffwechsel beeinträchtigt und damit die aktive Resorption von Glukose und anderen Nahrungsstof- fen verzögert.

Moderne analytische Methoden ha- ben gezeigt, daß Phenformin sehr viel länger im Organismus verweilt als früher angenommen wurde. So dauert es elf Stunden, bis nach einer einzelnen therapeutischen Dosis die Konzentration im Plasma um die Hälfte absinkt. Wir wissen heute ebenfalls, daß Phenformin sich im

Lebergewebe anreichert und dort 10- bis 40fach höhere Konzentratio- nen als im Plasma erreicht. Beson- ders bei Niereninsuffizienz kann die- se Anreicherung dazu führen, daß auch die Zellatmung in der Leber gehemmt wird. Die Leber gibt Bigu- anide offenbar langsam wieder ab, so daß sich bei wiederholter Gabe

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 50 vom 14. Dezember 1978 3033

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steigende Konzentrationen ansam- meln können. Erst nach mehrfacher Einnahme erreicht die Konzentra- tion ihren endgültigen Wert (Darstel- lung 2).

Aus diesem Grunde sind die thera- peutischen, aber auch die toxischen Wirkungen der Biguanide nicht nach einer Einzeldosis, sondern nur nach einer längeren Behandlungs- dauer zu beurteilen. Dementspre- chend ließ sich zeigen, daß Phenfor- min selbst an gesunden Freiwilligen die Verwertung von Milchsäure stört, wenn es eben nicht nur ein- mal, sondern in üblicher Dosierung an fünf Tagen hintereinander gege- ben wurde.

Bei der Abwägung von Risiko und Nutzen einer Biguanidbehandlung muß berücksichtigt werden, daß Bi- guanide sich in der Leber anrei- chern. Die erwünschte therapeuti- sche Wirkung ist offenbar nicht oh- ne eine Hemmung des oxidativen Stoffwechsels zu erreichen. Ein An- stau von Milchsäure muß nicht zur bedrohlichen Laktazidose führen. Er kann ihr Auftreten aber offenbar dann begünstigen, wenn zusätzliche Faktoren hinzutreten. Nicht alle die- se Faktoren sind vorhersehbar.

Durch eine sorgfältige Indikations- stellung läßt sich das Risiko der The- rapie sicher vermindern, klinische Erhebungen zeigen jedoch, daß wir nicht hoffen können, auf diesem Wege die lebensgefährliche Kompli- kation der Laktazidose sicher auszu- schließen.

Das Gesagte trifft prinzipiell auch auf den letzten Vertreter der Stoff- gruppe der Biguanide zu, der auch weiterhin verordnet werden kann, nämlich das Metformin. Auch Met- formin hemmt die Oxidation der Milchsäure in isolierten Geweben. Auch Metformin erreicht in der Le- ber höhere Konzentrationen als im Plasma, und auch Metformin kann wie andere Biguanide Laktazidosen auslösen. Wenn diese Komplikation sehr viel seltener auftritt als nach Phenformin, so liegt das sicher dar- an, daß Metformin schnell über die Niere ausgeschieden wird.

Es besteht Grund zur Hoffnung, daß es nur kurzfristiger im Gewebe an- gereichert wird und daher seltener zu anhaltenden Vergiftungen des oxidativen Stoffwechsels führt. So- lange allerdings nicht widerlegt ist, daß eine Hemmung der Zellatmung die Voraussetzung für den er- wünschten blutzuckersenkenden Effekt darstellt, muß man anneh-

men, daß Metform in weniger gefähr-

lich, weil weniger wirksam ist, auch in therapeutischer Hinsicht.

Sulfonylharnstoff-Derivate

Sulfonylharnstoffderivate (Tabelle 1) können zwar bei manchen Altersdia- betikern die Blut-Glukose-Konzen- tration senken und damit ein Kardi- nalsymptom des Diabetes mellitus beeinflussen. Es ist jedoch bis heute unklar, ob sie auch das Auftreten von Spätkomplikationen verzögern und damit das Leben der diabeti- schen Patienten tatsächlich verlän- gern können. Die Bezeichnung "An- tidiabetika" sollte nicht darüber hin- wegtäuschen, daß es sich hier um

"blutzuckersenkende" Medikamen- te handelt, die zunächst nur einem Symptom der Zuckerkrankheit ent- gegenwirken.

Auch die schon vor acht Jahren be- kanntgewordene, inzwischen und auch heute immer noch lebhaft dis- kutierte amerikanische Studie (Uni- versity Group Diabetes Program, UGDP) sollte ursprünglich klären, welche Behandlungsform Spätkom- plikationen am besten verhindern kann. Die Patienten dieser Studie wurden danach ausgewählt, ob sie mit Diät alleine zufriedenstellend eingestellt werden konnten. Da- durch sollte der direkte Vergleich ei- ner Gruppe, die nur diätetisch be- handelt wurde, mit einer zweiten, die zusätzlich Tolbutamid sowie einer dritten und vierten, die Insulin er- hielt, ermöglicht werden. Bei den 204 Patienten der Tolbutamidgrup- pe traten 10 tödliche Herzinfarkte auf, keiner jedoch in der Kontroll- gruppe und 2 beziehungsweise 3 in den beiden Gruppen, die Insulin er- hielten. Wir erinnern an die 1970 pu- blizierten Schlußfolgerungen:

..,.. die Kombination einer diäteti- schen Behandlung mit Tolbutamid ist nicht sicherer lebensverlängernd wirksam als die Diät allein;

..,.. die Kombination von Diät und Tolbutamid ist unter Umständen we- niger in der Lage, kardievaskuläre Todesfälle zu verhindern als Diät allein.

ln experimentellen Arbeiten wurde anschließend gezeigt, daß Tolbut- amid an isolierten Präparaten die Kontraktionskraft des Herzens er- höht. Es lag daher nahe anzuneh- men, daß das Herz des Altersdiabeti- kers durch Sulfonylharnstoffe zu vermehrter Leistung gezwungen

wird. Inzwischen hat sich jedoch ge-

zeigt, daß der am isolierten Organ erhobene Befund beim Menschen nach oraler Einnahme von Tolbut- amid ausbleibt, ja, daß er selbst dann nicht auftritt, wenn 1 Gramm Tolbutamid intravenös injiziert und das Herz so hohen Konzentrationen ausgesetzt wird. Daher erscheint heute wenig wahrscheinlich, daß Tolbutamid in therapeutischer Dosis eine direkte kardiale Wirkung entfal- tet. Auch wenn sich die Beobach- tungen der UGDP-Studie nicht durch eindeutige experimentelle Er- gebnisse erklären lassen, behalten sie trotzdem ihr Gewicht.

Sie sollten weiter darauf hinwirken, daß Sulfonylharnstoffe erst dann eingesetzt werden, wenn die thera- peutischen Möglichkeiten einer Ge- wichtsreduktion und diätetischen Behandlung ausgeschöpft sind. Aus den Unterlagen der UGDP-Stu- die ist zu entnehmen, daß Herzin- farkte bei den mit Tolbutamid be- handelten Patienten nach einer Be- handlungsdauer von mehr als drei Jahren und damit zu einem Zeit- punkt auftraten, wo keine günstige Wirkung der Behandlung auf die Nüchtern-Blutzuckerwerte mehr festzustellen war. Man könnte dar- aus schließen, daß Sulfonylharn- stoffderivate besonders für die Pa- tienten gefährlich sind, bei denen sie keine blutzuckersenkende Wir- kung mehr entfalten, für die sie da- her eigentlich ohne Nutzen sind.

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In gleichem Sinne sprechen Erfah- rungen an Patienten, die bereits ei- nen Herzinfarkt überlebt hatten und weiter orale Antidiabetika erhielten.

Auch hier trat ein Herztod häufiger bei den Patienten auf, die orale Anti- diabetika einnahmen.

Besonders betroffen aber waren die- jenigen, bei denen die Nüchtern- Blutzuckerwerte trotz Antidiabetika einen Wert von 120 mg/100 ml über- schritten. Sulfonylharnstoffderivate sollten auch dort nicht eingesetzt werden, wo sie die Einstellung des Diabetes nicht mehr gewährleisten können.

Beim Altersdiabetiker, der noch über funktionsfähige Inselzellen ver- fügt, können Sulfonylharnstoffe zu- sätzlich Insulin freisetzen. Es ist je- doch nicht nachzuweisen, daß bei einer Behandlung über längere Zeit- räume andauernd vermehrt Insulin bereitgestellt wird. Vielmehr zeigen klinische Beobachtungen, daß eine einmal erzielte Verbesserung der Glukosetoleranz über Monate fort- bestehen kann, obwohl sich das In- sulin im Plasma trotz fortgesetzter Behandlung wieder dem ursprüngli- chen niedrigen Wert nähert. Die günstige Wirkung einer Langzeitbe- handlung mit Sulfonylharnstoffderi- vaten scheint sich daher nicht nur auf eine vermehrte Abgabe von Insu- lin aus dem Inselorgan der Bauch- speicheldrüse zu stützen.

Unter den zahlreichen Hypothesen über mögliche Wirkungen außerhalb der Bauchspeicheldrüse erscheint die Vorstellung besonders attraktiv, daß Sulfonylharnstoffe bei langdau- ernder Behandlung die Insulinemp- findlichkeit peripherer Gewebe er- höhen können. Sie stützt sich auf den Befund, daß Leukozyten diabe- tischer Patienten weniger Insulin binden, eine erfolgreiche orale Be- handlung aber in einem Monat die Bindungsfähigkeit normalisiert. Da Leukozyten für den Glukosestoff- wechsel und für die Wirkung von Insulin keine entscheidende Bedeu- tung haben, sind weiterreichende Vorstellungen, die auf diesen Befun- den aufbauen, experimentell nicht belegt.

Hypoglykämische Reaktionen stel- len ein besonderes Problem der Sul- fonylharnstoffbehandlung dar. Er- hebungen aus der Schweiz zeigen, daß in drei Jahren ein Prozent aller Diabetiker schwere Hypoglykämien erlitt, wobei vor allem alte Men- schen, Nierenkranke und Patienten mit unregelmäßigen Eßgewohnhei- ten gefährdet sind.

Es ist leicht verständlich, daß Sulfo- nylharnstoffderivate mit langer Ver- weildauer im Organismus wie zum Beispiel Chlorpropamid (Plasma- halbwertszeit 32 Stunden) im Körper akkumulieren und damit Hypoglyk- ämien auslösen können. Auch Tol- butamid kann gefährlich werden, wenn seine Verweildauer im Orga- nismus durch andere Medikamente verlängert wird (Tabelle 2). Gliben- clamid ist trotz einer relativ schnel- len Elimination aus dem Blut (Plas- mahalbwertszeit 7 Stunden) beson- ders häufig für schwere hypoglykä- mische Zwischenfälle verantwort- lich.

Das hängt möglicherweise damit zu- sammen, daß dieses Sulfonylharn- stoff-Derivat in hoher Konzentration in den Geweben angereichert wird.

So fanden sich in Tierversuchen in der Leber bis zu 50fach höhere Kon- zentrationen als im Plasma. Über die Gewebskonzentrationen von Gli- benclamid beim Menschen ist uns leider nichts bekannt. Auch hier aber besteht die Möglichkeit, daß sich die Substanz in einem „tiefen Kompartiment" anreichert. Dadurch können bei täglich wiederholter Ein- nahme Wirkungen ausgelöst wer- den, die bei Einzelgaben ausbleiben.

Das Verhalten von Tolbutamid im Organismus ist sehr eingehend un- tersucht worden. Hier läßt sich aus- schließen, daß es zu einer Ansamm- lung in Körpergeweben kommt.

Über die unerwünschten Wirkungen von Tolbutamid ist uns durch die in über zwei Jahrzehnten gesammelten Erfahrungen am meisten bekannt.

Aus diesen Überlegungen heraus ist zu bedauern, daß Tolbutamid in der Behandlung des Altersdiabetes ge- genüber Glibenclamid und anderen,

neueren Sulfonylharnstoffderivaten stark in den Hintergrund getreten ist.

Unverändert gültig bleibt die bereits früher eindeutig formulierte Forde- rung (DEUTSCHES ÄRZTEBLATT, Heft 18/1972, Seite 1115), daß Sulfo- nylharnstoffe in der Behandlung des Altersdiabetes nur einzusetzen sind, wenn eine Gewichtsreduktion und konsequente Diät allein nachweis- lich keine ausreichende Einstellung ermöglichen, wenn durch die Be- handlung mit Sulfonylharnstoffen eine gute Einstellung zu erreichen ist und wenn die Notwendigkeit für die Dauerbehandlung durch einen Auslaßversuch belegt wurde.

Literatur

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Wicklmayr, M.; Mehnert, H.; Czempiel, H. and Henftling, H. G.: Effect of phenformin on hepa- tic balances of gluconeogenic substrates in man, Diabetologia 14 (1978) 243-8 — Gale, E. A.

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med. Wschr. 119 (1977) 9-10 — Schäfer, G.: On the mechanism of action of hypoglycemia-pro- ducing biguanides. A reevaluation and a molecular theory, Biochem. Pharmacol. 25 (1976) 2005-14 — Sulfonylharnstoffe — Berger, W., und Koller, F.: Das Hypoglykämierisiko bei der Behandlung mit Sulfonylharnstoffen, HeIv.

Med. Acta 36 (1971) 228-9 — Hansen, J. M. and Christensen, L. K.: Drug interactions with oral sulfonylurea hypoglycemic drugs, Drugs 13 (1977) 24-34 — Hasselblatt, A.: Pharmakologie der blutzuckersenkenden Sulfonylharnstoff- und Pyrimidin-Derivate, in: Handbuch der in- neren Medizin, Band 7/2 B, S. 873-909, Hrsg.

K. Oberdisse, Springer, Berlin, Heidelberg 1977

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(Drug Research) 19 (1969) 1388-1400 — Olefs- ky, J. M. and Reaven, G. M.: Effects of sulfony- lurea therapy on insulin binding to mononu- clear leukocytes of diabetic patients, Amer. J.

Med. 60 (1976) 89-95 — Weitere Literatur bei den Sonderdrucken.

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med.

Arnold Hasselblatt Institut für Pharmakologie und Toxikologie

Lehrstuhl für Pharmakologie und Toxikologie I

Robert-Koch-Straße 40 3400 Göttingen

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 50 vom 14. Dezember 1978

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Referenzen

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