DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT
KURZBERICHT
Agranulozytose
und Granulozytopenie
Definitionen und Abgrenzungen Von Professor Rudolf Gross
Als Werner Schultz, ein Berli- ner Hämatologe, in der medizini- schen Gesellschaft 1922 eine „eigen- artige Halserkrankung" vorstellte, meinte er nach der Beschreibung ei- ne vermutlich medikamentös ausge- löste Form mit Fehlen der Granulo- zyten (ausführliche Literatur bei Bock, 2).
Inzwischen kennen wir zahlrei- che Formen von Neutropenie, die in unserer Sicht nicht mit der des Erst- beschreibers vermischt werden soll- ten. Schultz beschrieb zwar ein Krankheitsbild, dessen Leitsym- ptom wohl eine Agranulozytose war, aber zunächst keinen quantita- tiven Laborbefund. Trotzdem findet man immer wieder Kollegen, die — ganz unabhängig von der Genese — besonders niedrige Granulozyten- zahlen fälschlicherweise als Agranu- lozytose bezeichnen. Dieser Aus- druck sollte der Immunreaktion des Erstbeschreibers vorbehalten blei- ben. Alles andere sind Granulozyto- penien oder Neutropenien — unab- hängig von der Zahl.
Unter einer Neutropenie ver- steht man Granulozytenwerte unter 1000/mm3 = 1 X 109/L. Dabei ist in Nordrhein-Westfalen bei systemati- scher Untersuchung ein langsames Absinken der Durchschnittswerte beobachtet worden, so daß man heute etwa sagen kann.
O Über 4000 Leukozyten/mm3 = si- cher normal;
O 2500-4000/mm3 = grenzwertig (fraglich pathologisch);
O unter 2500/mm = sicher patho- logisch.
Eine Granulozytopenie kann sehr verschiedene Ursachen haben (ausführliche Literatur u. a. bei Be- gemann, 1, und Finch, 3), die hier nicht im einzelnen besprochen wer- den können. Eine Pseudoleukozyto- penie kann schon durch verminderte Ausschüttung und vermehrte Spei- cherung in den marginalen Pools zu- A-224 (44) Dt. Ärztebl. 85, Heft 5,
stande kommen. Vor allem braucht das Knochenmark — etwa bei einem bakteriellen Infekt — eine gewisse Anlaufzeit, um dem erhöhten Be- darf der Peripherie nachzukommen, ein Phänomen, das häufig zu Miß- deutungen führt.
Ähnliches gilt von gesteigertem Verbrauch und verkürzter Lebens- zeit in der Peripherie. Neben der sel- tenen zyklischen Neutropenie kön- nen alle Erkrankungen des Kno- chenmarks, von Neoplasien und Leukosen über Infektionen bis zu hereditären Bildungsstörungen, zu einer Granulozytopenie führen.
Wenn Virchow 1844 (wohl bei einer chronischen Myelose) seine klas- sisch gewordene Bezeichnung leuk'haima = weißes Blut einführte, so zeigen nach unseren Feststellun- gen rund 15 Prozent der akuten Leu- kosen bei der Aufnahme weniger als 4000/mm3 Erniedrigte Zahlen spre- chen somit mehr für als gegen eine (akute) Leukämie
Langfristig sich entwickelnde Granulozytopenien wurden nach ganz verschiedenen Medikamenten beschrieben, am häufigsten ver- ständlicherweise unter zytostatischer Behandlung. Sie sind myelotoxisch oder pharmakogenetisch oder durch beide Faktoren bedingt. Sie treten, wie wir vom Chloramphenicol wis- sen, oft sogar erst nach Wochen oder Monaten in Erscheinung: Des- halb werden von den Herstellern zu Recht Blutbilder im Abstand von ei- ner bis vier Wochen (je nach Medi- kation) empfohlen. Ursprung ist hier das proliferierende Knochen- mark; die Blutveränderungen sind die Folge.
Ganz anders verhält es sich bei den akuten anaphylaktischen Reak- tionen. Hier werden antineutrophile Antikörper wirksam, die allerdings oft nur für Stunden, das heißt even- tuell im Vollbild der klinischen Er- scheinungen schon nicht mehr nach- 4. Februar 1988
weisbar sind. Der Verlauf ist meist dramatisch: Wir hatten zum Beispiel bei einer Patientin unter Thiamazol (Favistan®) an einem Freitag zufällig ein normales Blutbild gemacht; am folgenden Sonntag traten die ersten klinischen Erscheinungen mit Hals- schmerzen und Fieber auf; am Mon- tag waren kaum noch Granulozyten nachweisbar. Gegen diese anaphy- laktischen Reaktionen schützen die von den Herstellern empfohlenen Blutbilder im Abstand von einigen Wochen natürlich nicht. Viel wichti- ger ist die Aufklärung der Kranken vor der Medikation, sich sofort bei Unwohlsein, Fieber oder entzünd- lichen Erscheinungen zur Blutbild- kontrolle einzufinden.
Betreffen die toxischen oder pharmakogenetischen Erscheinun- gen in erster Linie das Knochen- mark und als Folge das Blut, so ist es bei den Antikörper-bedingten Agra- nulozytosen meist umgekehrt: Das Knochenmark kann, muß aber nicht an der Reaktion beteiligt sein. Von der (bioptischen) Feststellung, ob der Proliferationsspeicher (Promye- lozyten, Myelozyten) oder gar der Stammzellspeicher beteiligt ist, hängt weitgehend die Prognose ab.
Und ein letztes: Die Immungra- nulozytopenien treffen (ebenso wie die Immunthrombozytopenien) meist nur ein System. Eine durch Iso- oder Autoantikörper bedingte Panmyelophythise gibt es — wenn überhaupt — nur als Rarität. Deshalb sollten wir, feiner differenzierend, nicht sagen, daß der Patient weder eine Agranulozytose noch einen Knochenmarkschaden gehabt habe.
Es handelt sich hier um zwei ganz verschiedene Mechanismen
Literatur
1. Begemann, H. (Edit.): Klin. Hämatologie.
Stuttgart, Thieme, 1970
2. Bock, H. E.: Agranulozytose. Stuttgart, En- ke, 1946
3. Finch, St. C. Neutrophil disorders, in Wil- liams, Beutler, Erslev, Lichtman: Hemato- logy. New York, McGraw-Hill, 1983 4. Gross, R. in Gross, Schölmerich, Gerok:
Lehrbuch der Inneren Medizin. Stuttgart, Schattauer, 1987
5. Schultz, W.: Über eigenartige Halserkran- kungen. Dtsch. med. Wschr. 48, 1495 (1922) Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. med. Rudolf Gross Herbert-Lewin-Straße 5
5000 Köln 41