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Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 4, 23. Januar 1998 (1)
Gebühren
Notopfer und Punkte
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uch wenn durch den stei- genden Chaosfaktor in Re- gierungsbeschlüssen und politischen Statements die jeweils neueste Wendung nur noch er- mattet registriert wird, dringen einzelne Meldungen doch noch durch den Schleier aus aufgereg- tem Gemurmel – und beginnen zu ärgern:Eine Auskunft über die Zahl der Punkte in der Flensburger Verkehrssünderkartei, bisher mit zehn Mark moderat gebühren- bewertet, wird neuerdings zur
zuzahlungsfreien staatlichen Ser- viceleistung. Dem Verkehrsmini- ster gefällt es so, obwohl drogen- und allgemeinpolitische, finanzi- elle und verkehrserzieherische Aspekte und vor allem solche des gesunden Menschenverstandes dagegenstehen.
Während ein Patient für seine Tabletten kräftig zuzahlen muß und alle Versicherten für die Krankenhäuser ein schon verbal dramatisch ausgedrücktes „Not- opfer“ bringen müssen, kann ein Verkehrssünder also nun kosten-
losAuskunft darüber bekommen, wieviel zu schnell, über wieviel ro- te Ampeln und mit wieviel Promil- le er noch fahren kann, ohne zum Fußgänger zu werden. Warum sonst sollte man in Flensburg an- fragen?
Es zeugt von einer reichlich instinktlosen Politik, wenn für derartige Unnötigkeiten die Ge- bühren nicht nur nicht erhöht – zum Beispiel als „Notopfer Ver- kehrssicherheit“ –, sondern so- gar ohne jede Not erlassen wer- den. Dr. med. Wolfgang Rühle
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isher konnte lediglich spe- kuliert werden; jetzt liegen erstmals empirische Daten auf dem Tisch: Die Budgets für die ambulante Versorgung sind in den Jahren 1991 bis 1996 mit Mehraus- gaben für Arznei- und Heilmittel von rund 3,2 Milliarden DM bela- stet worden – durch Verlagerungs- effekte aus dem stationären Sek- tor. Diese zusätzlichen Kosten er- geben sich nach einer Studie des Berliner Instituts für Gesundheit und Sozialforschung (IGES) allein aus einer verkürzten Verweildauer im Krankenhaus, dem ambulanten Operieren sowie vermehrten am- bulanten Dialyse- und onkologi- schen Behandlungen (siehe DÄ, Heft 3/1998).Die Erkenntnisse der vom Verband Forschender Arzneimit- telhersteller initiierten Studie wol- len die Vertragsärzte in den anste- henden Verhandlungen mit den
Krankenkassen nutzen. „Die Be- teiligten im Gesundheitswesen for- dern seit Jahren, daß das Geld der Leistung folgen müsse. Nun haben wir endlich konkrete Daten in der Hand“, erklärte Prof. Dr. med.
Wolfgang Brech, Vorstandsmit- glied der Kassenärztlichen Bun- desvereinigung (KBV), in Bonn.
Die KBV will die berechneten Mehrausgaben nicht nur bei künf- tigen Verträgen berücksichtigt wis- sen, sondern auch rückwirkend geltend machen: Der Berliner Stu- die zufolge ist allein im Jahr 1996 rund eine Milliarde DM zusätzlich bezahlt worden. „Die Überschrei- tung des Arzneimittelbudgets im Jahr 1996 von rund 1,7 Milliarden DM muß um diesen Betrag ver- mindert werden“, forderte Brech.
Mit Genugtuung vernahm der Berufsverband der Allgemeinärzte die Studienergebnisse. Er sieht sei- ne Vermutung bestätigt, daß die
Vertragsärzte seit Jahren durch kontinuierliche Leistungsverlage- rungen mit Mehrarbeit belastet werden. Es komme nun darauf an, sagte der Vorsitzende des Verban- des, Dr. med. Klaus-Dieter Kossow, die Arzneimittelbudgets und dem- nächst die Richtgrößen im voraus anzupassen, „damit eine weitere Leistungsverlagerung begünstigt wird“. Ein Problem sei, daß Innova- tionen bei der Richtgrößenkalkula- tion nicht berücksichtigt würden.
Nicht ermittelt hat die Studie den Anstieg der Leistungen, die die Kassenärzte zusätzlich er- bracht haben. Die Kassen hätten diese Mehrausgaben zwar bezahlt, aber „unter der Knute des Bud- gets“, sagte der Vorsitzende des NAV-Virchowbundes, Dr. med.
Maximilian Zollner. „Ein entspre- chender finanzieller Ausgleich dafür ist bis jetzt noch nicht er- folgt.“ Dr. Sabine Glöser