Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 22⏐⏐2. Juni 2006 AA1485
S E I T E E I N S
E
in paar Pfiffe und Buhrufe für die Bundesgesundheitsministerin beim Deutschen Ärztetag – das war in den vergangenen Jahren der Höhepunkt ärztlicher Unmutsäuße- rungen über die Regierung. Der Buhrufe bedurfte es 2006 nicht, um anzuzeigen, dass sich die Ärzte- schaft in Aufruhr befindet. Die Kli- nikärzte kämpfen weiterhin für ei- nen arztspezifischen Tarif im öffent- lichen Dienst, der die bisherigen ausbeutungsähnlichen Zustände be- endet. Die eindrucksvolle Kampfbe- reitschaft der angestellten Kollegin- nen und Kollegen war die Initialzün- dung: Die Niedergelassenen gingen gleich mehrfach zu Zehntausenden auf die Straße.Auch wenn sie es nicht zugeben – für die Politiker sind der Aufruhr unter den Ärzten und das wohlwol- lende Verständnis ihrer Patienten Fakten, die sie nicht unbeachtet las- sen können. Das beliebte Spiel, die einzelnen Arztgruppen gegeneinan- der auszuspielen, funktioniert der- zeit nicht. Die Ärzteschaft tritt ge- schlossen wie selten auf, das hat der 109. Deutsche Ärztetag in Mag- deburg bewiesen. Ist es der Druck von außen, der Krankenhausärzte und Niedergelassene, Fachärzte und Hausärzte zusammenschweißt? Je- denfalls ist die Solidarität nicht auf- gesetzt, sondern echt.
Dabei gab es in Magdeburg durchaus konfliktbeladene Themen.
Die vom Deutschen Hausärztever- band noch einmal bekräftigte Forde- rung nach einer eigenen Kassenärzt- lichen Vereinigung (KV) ist so eines:
Doch am Ende der Diskussion in der Vertreterversammlung der Kassen- ärztlichen Bundesvereinigung (KBV) stand ein einstimmiges Bekenntnis zu einer gemeinsamen KV von
Haus- und Fachärzten, formuliert in einem Beschluss, den auch Hausärz- te als Fortschritt werten. Ein weite- res heikles, polarisierendes Thema sind die Individuellen Gesundheits- leistungen (IGeL). Die persönliche Einstellung zu diesen Leistungen, die generell oder im Einzelfall nicht von der Gesetzlichen Krankenversi- cherung bezahlt werden, offenbart Unterschiede im ärztlichen Selbst- verständnis. Nach guter Vorberei- tung und sachlicher Diskussion be- schloss der Ärztetag Regeln zum Umgang mit IGeL und grenzte sie von gewerblichen Dienstleistungen ab. Mit dem Schwerpunktthema psychische Erkrankungen gab der Ärztetag ein doppeltes Signal: Die offene und verdeckte Stigmatisie- rung und Diskriminierung psy- chisch Kranker muss beendet wer- den. Zugleich gilt es, die Kompe- tenz der Ärztinnen und Ärzte in der Behandlung psychischer und psy- chosomatischer Erkrankungen zu unterstreichen. Auch die gesund- heitspolitischen Beschlüsse wurden einmütig gefasst. Die Gründung einer „Allianz Deutscher Ärzte- verbände“ unterstreicht die Ge- schlossenheit.
D
ie Harmonie könnte fast verges- sen lassen, dass die zurücklie- genden Monate stürmisch waren und die kommenden sicher poli- tisch nicht ruhiger werden. Die Ärz- teschaft muss intern wichtige Fra- gen klären. So sind Politik und Kas- sen daran interessiert, den Ärzte- mangel durch Verlagerung von Tätigkeiten auf Assistenzberufe zu mildern. Deshalb ist festzulegen, wo eine sinnvolle Kooperation möglich ist. Denn die Gefahr be- steht, dass auch originär ärztlicheLeistungen „delegiert“ werden sol- len. Eine weitere Grundsatzfrage lautet: Können KBV und KV bis- herigen Zuschnitts, als Körper- schaften im Übermaß mit admini- strativen Aufgaben belastet, noch die Rolle einer Interessenvertre- tung der Vertragsärzte ausfüllen, oder sind dafür andere Struktu- ren nötig? Auf die Antwort der Ba- sis in dem vom KBV-Vorstand ge- planten Referendum darf man ge- spannt sein.
U
nd schließlich geht es um nicht weniger als das Leitbild des Arzt- berufs in einem sich wandelnden Umfeld. Die demonstrative Ableh- nung von bürokratischer Bevor- mundung und Einengung kann nur als Bekenntnis zum freien Beruf ver- standen werden: Ärztinnen und Ärzte wollen eigenverantwortlich und fachlich unabhängig arbeiten, in Klinik und Praxis. Allerdings wird die Liberalisierung von Berufsord- nung und Vertragsarztrecht dazu führen, dass künftig mehr Ärztinnen und Ärzte als Angestellte in Praxen und Medizinischen Versorgungszen- tren arbeiten. Damit wird der Frei- berufler in Einzel- oder Gemein- schaftspraxis nicht zum Auslaufmo- dell. Wie schnell sich aber Struktu- ren ändern können, zeigt der rasante Wandel bei den Rechtsanwälten. In- nerhalb weniger Jahre haben sich in allen Ballungsräumen vertretene Großsozietäten für die lukrativen Aufträge und Anwaltsketten für das Massengeschäft gebildet. Könnte sich Ähnliches im Gesundheitswe- sen wiederholen? Die Frage ist nicht nur für berufs- und gebührenrechtli- che Regelungen von Belang. Es geht auch um das ärztliche Selbstver-ständnis. Heinz Stüwe