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Archiv "Wenn Leben zu früh geboren wird" (06.10.1995)

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Versorgung eines Frühgeborenen im Brutkasten Foto: Peter Wirtz

POLITIK

S

ie sieht mich an, mit Augen so blau wie Kornblumen, von sei- digen Wimpern umrahmt.

Kurz heftet sich ihr Blick an meine Bewegung, dann fällt die Auf- merksamkeit wieder nach innen, zum Schmerz. Das blasse Gesicht verzieht sich, sie weint nicht. Die Schwester kommt. Mit einer kurzen Nadel sticht sie in die Kuppe des Mittelfingers.

„Ihr Blut gerinnt so schnell", sagt sie und sticht noch zweimal. Jetzt weint Corinna*. Die Schwester streichelt über das fiebernasse Haar: „Sie ist sehr tapfer." Corinnas Bauch ist von einer langen Narbe gezeichnet, sie at- met schwer. Um sie am Leben zu er- halten, bekommt sie in regelmäßigen Abständen Sauerstoff. Wegen all der Schläuche und Nadeln, die in ihr stecken, darf sie nicht geba-

det werden. Corinna ist die älteste Patientin hier. Dabei hat sie erst ganze vier Mona- te Leben hinter sich. Für die Schwestern und Ärzte auf der Intensivstation für Früh- geborene ist Corinna aber fast schon eine „alte Häsin".

Im Eingangsbereich kommt Tumult auf. Die er- wartete Neuaufnahme wird hereingetragen. Das zap- pelnde, blutverkrustete We- sen landet in einem offenen Brutkasten. Es ist ein Junge, sieben Wochen zu früh, zwei Stunden alt, die Nabelschnur

noch dran. Die Erstversorgung ist Routine: Infusionsnadeln in den Handrücken, Blutentnahme vom Fin- ger, Schlauch in die Nase, Fieber mes- sen, Nabelschnur abklemmen. Ein Ungetüm aus Stahl entpuppt sich als mobiles Röntgengerät. „Alles raus!"

ruft der Arzt und schiebt die Maschi- ne über das schreiende Menschlein.

„In den ersten Minuten ist beson- dere Eile geboten", sagt Dr. Max Tha- ler wenig später bei einer Tasse Kaf- fee, „sie sind entscheidend für die ge- samte Zukunft des Frühgeborenen."

Seit neun Jahren arbeitet der Neona- tologe auf der Frühgeborenenstation

„Storchennest" einer Nürnberger Kinderklinik. Keinen Tag habe er be- reut, die Arbeit mit den Kindern emp- findet er als „erfrischend".

Alle Namen geändert.

DIE REPORTAGE

Bundesweit werden jährlich 48 000 Kinder zu früh, also vor Voll- endung der 37. Schwangerschaftswo- che, geboren. 16 000 davon sind extre- me „Frühehen", wiegen unter 1 500 Gramm. 90 Prozent der Neugebore- nen zwischen 1 000 und 1 500 Gramm überleben heutzutage. Noch vor 20

Jahren hatten -sie keine Chance. Doch der Preis fürs Überleben ist häufig hoch. Jedes vierte Kind wird mit schwersten körperlichen und geisti- gen Schäden ins Leben entlassen. Der maschinellen Beatmung halten die kleinen Organe oftmals nicht stand.

Lungenrisse, Hirnblutungen oder Sehstörungen können die Folge sein.

Auch Infektionen sind eine akute Ge- fahr für das unreife Immunsystem.

Ein Monitor schlägt Alarm. Es ist das Gerät des Neuzugangs. Eine der drei Elektroden, die Herz- und At- mungsfunktion der Kinder überwa- chen, hat sich gelöst. Fehlalarm, wie meistens, Gott sei Dank. Das Gesicht des Namenlosen ist rot und blau, die Augen sind angeschwollen — Folgen der Geburtsstrapazen. Aber er atmet gut, Herz und Hirn sind in Ordnung.

Immer wieder zuckt er im Schlaf,

schreit für Sekunden. Er strahlt Vita- lität aus, hat gute Voraussetzungen, den Weg ins Leben zu finden.

Besuchszeit. Mütter sind gekom- men, und auch ein paar Väter. Sie tra- gen flaschengrüne Mäntel, starren in die Brutkästen, auf die Monitore, aus dem Fenster durch Mogli und die Schlange Kaa hindurch, strei- cheln hilflos ihre Kinder. Die grünen Herzen auf den Moni- toren blinken schneller.

Nicht so bei Johanna. In eine Decke gehüllt, liegt sie re- gungslos auf dem Arm ihrer Mutter. Entrückt und pau- senlos starrt die junge Frau in das Gesicht ihrer Tochter.

„Sie will es nicht glauben", sagt Dr. Thaler. Johanna hat keine Chance, in ihr Leben zu finden. Schwerste Blutungen haben ihre Hirnsubstanz völ- lig zerstört. Der Vater hat sich aus dem Staub gemacht. Die Ärzte der „Station Storchen- nest" stehen vor der Entscheidung, le- benserhaltende Maßnahmen bei Jo- hanna zu unterlassen, wenn die näch- ste Krise eintritt. „Es gibt fast immer Möglichkeiten, lebensunfähiges Le- ben künstlich zu verlängern. Aber man muß auch stark genug sein, sich für ein würdiges Sterben zu entschei- den", sagt Dr. Thaler. Viele Male hat er das durchgemacht. Die Hände des Arztes fahren nervös in die grauen Haare. Seine Stimme bricht: „Können Sie sich vorstellen, wie das ist . . .?"

Draußen leeren sich die Räume, die meisten Eltern sind gegangen. Jo- hannas Mutter ist noch da. Es blitzt.

Verstohlen hat sie ein Photo gemacht.

Ein Bild, eine Erinnerung an ihre Tochter, für später, wenn die wenigen Wochen mit ihr langsam verblassen . . . Nebenan schlägt ein Monitor Alarm. Beatrice Bartsch

Wenn Leben zu früh geboren wird

Folgende Reportage stammt von einer Nachwuchs-Journalistin. Beatrice Bartsch, zur Zeit Volontärin, beschreibt darin ihre Eindrücke von einer Frühgeborenen-Station. Entstanden ist der Text während eines Ausbildungskurses der Akademie der Bayerischen Presse. Übungstexte landen meist im Pa- pierkorb. Dieser hat es nach Auffassung der Redaktion jedoch verdient, gedruckt zu werden.

Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 40, 6. Oktober 1995 (29) A-2615

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