• Keine Ergebnisse gefunden

(1)Zur Rezeption der "Neun Gesänge&#34

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "(1)Zur Rezeption der "Neun Gesänge&#34"

Copied!
13
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Zur Rezeption der "Neun Gesänge" aus den "Liedern von Ch'u"

Von Michael Schimmelpfbnnig, Heidelberg

Im Jahr 1955 publizierte der britische Gelehrte Arthur Waley seine Übersetzung der

"Neun Gesänge" (Chiu Ko), des zweiten Kapitels aus den "Liedem von Ch'u" (Ch 'u

Tz'u), unter dem Titel The Nine Songs: A Study of Shamanism in Ancient China.'

Zuvor hatten vor allem Gelehrte der Universität Leipzig die darin enthaltenen Werke als wertvolles Material für das Verständnis von Folklore, Mythologie und Religion Südchinas erachtet und bearbeitet: So verstand August Conrady die "Neun Gesänge"

als dramatische Darstellungen von Opferritualen. Bruno Schindler verwendete sie in

seiner Arbeit über das Priestertum Chinas als Quelle für Schamanen und ihre Prakti¬

ken. Eduard Erkes interpretierte zwei der Gesänge als Lieder von Schamanen zum

Herbeimfen von Lokalgottheiten.'

Jedoch blieb es der Studie Arthur Waleys vorbehalten, das Paradigma von der

Verbindung der "Neun Gesänge" mit Schamanismus im Gedächtnis eines jeden

Studenten Chinas zu etablieren.' Seine Arbeit erschien zu einer Zeit, als Berichte über

' "In den Neun Gesängen des K'üh Yüan, welche die Schamanin in ihrer typisch chinesischen Gestalt vorführen, stechen besonders der rituelle Tanz, der Gesang und der Trommelschlag als die Elemente hervor, welche den Zustand der Trance herbeiführen." Aus B. Schindler: Das Priestertum im Alten China. Leipzig 1919, S. 31,

' A, Waley: The Nine Songs: A Study of Shamanism in Ancient China. London 1955,

' A. Conrady: China. In: Pfluglc-Harttungs Weltgeschichte 3. Berlin 1910, S. 516, B. SCHINDLER: Das Priestertum im alten China. Leipzig 1919, S.3 1-34. E. Erkes: The God of Death in Ancient China. In:

TP 35 (1940), S. 195 f

' Beleg hierfür ist nicht nur die Bemerkung seines Schülers David Hawkes, der fast zeitgleich nüt Waley eine eigene Übersetzung der Neun Gesänge vorlegte: "[Arthur Waleys translation of the Nine Songs] is invaluable for its correlation of the relevant anthropological information. In this respect it is a landmark, and has, one hopes, made it impossible for anyone to attempt further translation ofthe Ch'u Tz'u without having first made an intensive study of the background and function of these poems". D.

Hawkes: Ch 'u Tz 'u - The Songs of the South. Boston 1959, S, 217. Siehe des weiteren die Werke von L, G, Thompson: The Chinese Way of Religion. Belmont 1973, S, 36 f hi diesem Werk sind nahezu alle Informationen aus Waleys Studie unter der Überschrift "Shamanism in China" aufgelistet, B, Watson (Hrsg, u, Übs,): The Columbia Book of Chinese Poetry. From Early Times to the Thirteenth Century.

New York 1984, S, 44 f u, 378, Neben der Einführung zu den "Liedem von Ch'u" wird in der biblio¬

graphischen Auswahl dieses Werkes sogar auf eine Neuauflage der Arbeit Walevs verwiesen, welche 1973 in San Francisco erschien. D. SOMMER: Chinese Religion: An Anthology of Sourees. New York 1995, S, 85 f Sommer fiihrt zwar die Arbeit Waleys noch in ihrer Bibliographie auf nimmt jedoch in der Einfuhrung zu ihren Übersetzungen aus den "Liedem von Ch'u" einen vorsichtigen Standpunkt ein.

(2)

noch praktizierende Schamanen in den entlegensten Gegenden der Erde immer größere Auftnerksamkeit erregten. Gleichzeitig hatten sich die Sozial- und Verhaltenswissen¬

schaften zu eigenständigen Disziplinen entwickeh, und Forscher wie Claude Levi-

Strauss und Mircea Eliade hatten die Berichte in ersten umfassenden Arbeiten

ausgewertet. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß auch Sinologen sich

von neuem auf die Suche nach den Spuren von Schamanen in ihrem Kuhurkreis

machten.

In der Einleitung zu seiner Studie macht Arthur Waley deutlich, daß es zwar

viele Hinweise auf Schamanen in frühen chinesischen Quellen gäbe. Deren Aussage¬

kraft hinsichtlich der Arbeitsweise von Schamanen sei jedoch eher gering. Außerdem

hätte der mit der Han-Zeit (206 v.u.Z.-220 u.Z.) aufkommende Konfuzianismus

aufgrund seiner Vorbehalte gegen den Geisterglauben den Schamanismus mehr und

mehr verdrängt. So lag es nahe, daß er sich von neuem Texten zuwandte, welche

traditionell bereits mit dem Attribut "schamanistisch" versehen waren.

Mit Blick auf den soeben umrissenen Teil der Forschungstradition stellt sich die Frage, wie die "Neun Gesänge" eigentlich zu diesem Attribut gelangten und inwieweit Waleys emeute Verbindung der "Neun Gesänge" mit schamanistischen Praktiken glaubwürdig ist? Von diesen Fragen ausgehend, sollen im folgenden die verschiedenen

Einflüsse untersucht werden, denen Gelehrte bei der Aimähenmg an etwas ihnen

eigentlich Fremdes, in diesem Fall eine Gmppe spezieller Texte, ausgesetzt waren und weiterhin ausgesetzt sind. Teil I beleuchtet die Entwicklung der Vorstellung von den Inhalten der "Neun Gesänge" anhand der chinesischen Editionen. Teil II unterzieht Arthur Waleys Studie einer kritischen Bewertung. Teil III vergleicht die Überset¬

zung eines Gesanges von Waley mit der Lesart des frühesten chinesischen Kommen¬

tators Wang I und versucht auf dieser Gmndlage, eine mögliche Richtung weiterer

Forschung aufzuzeigen.

I

Ein Vergleich der Arbeiten zu den "Neun Gesängen", angefangen bei der friihesten

Übertragung von AUGUST Pfizmaier von 1852 bis hin zu FRANgois Rollin, der 1990

eine Übersetzung voriegte, macht deutlich, daß die unter dem Titel "Die Neun Gesän¬

ge" vereinigten Texte den Übersetzem eine hohe Einheitlichkeit suggerierten.'* Diese Vorstellung, daß den "Neun Gesängen" ein gemeinsamer Hintergmnd, etwa ent-

indem sie bemerkt, daß keiner der Kontexte, denen verschiedene Forscher die Lieder zugeordnet hätten, letztendlich beweisbar sei.

' A. Pfizmaier: Das Li-sao und die Neun Gesänge. In: Denkschriften der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse 3. Wien 1852. J.-F. Rollin: Li Sao, Jiu Ge et Tian Wen. Paris 1990.

(3)

stehungsgeschichtlich oder funktionell, zu eigen sei, hatte sich bereits im Laufe der

Überliefenmg in China selbst entwickelt. Sie kam deutlich im Aufbau und der Kom¬

mentierung jener Editionen zum Ausdruck, welche Gelehrte aus dem Ausland als

Grundlage für ihre Übertragungen verwendeten. Maßgeblich bei der Suggestion von

Einheitlichkeit waren die Textanordnung in den Editionen, die in den Vorworten

enthaltenen Informationen zur Entstehung der Gesänge imd die Titel der Gesänge

selbst.

Bei Übersetzungen aus den "Liedem von Ch'u" wurden hauptsächlich drei Editio¬

nen benutzt. Diese enthalten entweder den Text mit dem Kommentar von Wang I (um

100 u. Z.) oder seinen Kommentar, verbunden mit dem Subkommentar von Hung

Hsing-tsu (1090-1155), oder den Kommentar von Chu Hsi (1130-1200), der weite

Teile der Kommentare seiner Vorgänger als Gmndlage für eine eigene Auslegung

heranzog. Die Texte der "Neun Gesänge" sind für sich genommen äußerst schwierig zu

verstehen. Es fehlen zum Beispiel gmndsätzlich alle Hinweise darin, wer gerade zu

wem spricht. Da die Kommentare in den genannten Editionen alle interlinear eingefügt sind, koimten die Übersetzer sich dem Einfluß ihrer Bemerkungen nicht entziehen.

Ohne diese Kommentare wurden die "Lieder von Ch'u" erst sehr spät verlegt. Der

geringe Bekanntheitsgrad solcher Ausgaben und deren Auflagen in kleinen Mengen

verhinderten eine weite Verbreitung.'

In den Editionen der "Lieder von Ch'u" von Wang I und Hung Hsing-tsu befmdet sich das Vorwort zur Sammlung direkt vor den "Neun Gesängen". Darin steht, daß ein vom Hof verbannter Minister des Reiches von Ch'u mit Namen Ch'ü Yüan die "Neun Gesänge" verfaßte, nachdem die zuvor in einem anderen Werk geäußerte implizite Kritik am Fehlverhalten seines Königs nicht zu dessen Wiedereinsetzung in sein Amt geführt hatte. Chu Hsi ließ dieses Vorwort Wang Is in seiner Edition weg. Dafür fügte er jedoch die Bemerkung in der Einleitung zum ersten Kapitel der "Lieder von Ch'u", dem Li Sao ein, daß die "Neun Gesänge" von Ch'ü Yüan nach diesem Stück verfaßt worden waren, und zwar zur Zeit, als er bereits in den Süden von Ch'u verbannt war.

Demnach setzen beide Ausgaben voraus, daß die Werke in den "Neun Gesängen" auf ein und denselben Autor zurückgingen.

Daß die in den "Neun Gesängen" enthaltenen Stücke zusammengehören, unter¬

streicht auch eine, in den Editionen von Wang I und Hung Hsing-tsu dem Kapitel

vorangestellte Liste von elf Titeln, von denen die ersten neun Titel alle Namen von

' Die frühesten Editionen ohne die gängigen Kommentare erschienen zwar bereits während der Ch'ing- Zeit (1644-1911), wurden aber von den Übersetzem nicht herangezogen. Li GUANGDI (1642-1718); Li Sao ching Chiu Ko chieh i, enthalten in HSIN SHAO-YEH; Li Wen-chen Icung chieh i und Chiu Ko chieh (Edition 1813), enthnUen im Ching t'ang yi shu. Eine weitere Fassung von Ku Ch'eng-t'ien (um 1722) ist im Szu k 'u ch uan shu enthalten. Siehe Chiang Liang-FU; Ch 'u Tz 'u shu-mu wu chung. Shanghai 1993, S. 121, 165, 232.

(4)

Gottheiten bzw. Stemenkonstellationen sind. Einige dieser Namen stehen darüber

hinaus untereinander in Beziehung. Diese Titel werden am Ende jeden Liedes noch¬

mals aufgeführt, gliedem den Text imd verleihen ihm eine scheinbar gewollte Ord¬

nimg.

Einen noch stärkeren Einfluß als der Werkaufbau in Verbindung mit der Vor¬

bemerkung über den Autor übten die jedem einzelnen Kapitel in den "Liedem von

Ch'u" vorangestellten Vorworte auf die Übersetzer aus. Darin wurde erklärt, wann, wo

und wamm Ch'ü Yüan die Gesänge verfaßt hatte. Das Vorwort unterstrich nicht nur

emeut die Einheit des im zweiten Kapitel enthaltenen Materials, sondem enthielt

zusätzliche Informationen, die aus den Gesängen selbst nicht gewonnen werden

konnten. Dun zufolge basierten die Stücke auf Liedem, die während Opfem an Geister

vorgetragen wurden und welche der Verfasser Ch'ü Yüan unter dem gewöhnlichen

Volk im Süden von Ch'u beobachtet hatte. Das Vorwort lautet:

"Die 'Neun Gesänge' wurden von Ch'ü Yüan verfaßt. In früherer Zeit, in der Haupt¬

stadt von Ying, im Süden des Reiches Ch'u, zwischen den Flüssen Yüan und Hsiang, glaubten die gewöhnlichen Menschen an Geister und erachteten Opfer an sie für wich¬

tig. Für diese Opfer war es notwendig, daß Musik gespielt, getrommelt und getanzt wurde, um die Geister wohlwollend zu stimmen. Ch'ü Yüan war verbannt worden und versteckte sich in ihrer Region, er war erfüllt von Trauer und Bitterkeit, und seine traurigen Gedanken führten zu tiefem Schmerz, der ihn in Wellen heimsuchte. Kam er [aus seinem Versteck] heraus, wurde er gewahr, daß die Worte, die die gewöhnlichen Leute während der Opfer verwendeten, und die Musik, die dazu gesungen und zu der getanzt wurde, roh und vulgär waren. Aus diesem Grund verfaßte er die Stücke der 'Neun Gesänge'. Zuoberst drückte er darin den Respekt für den Dienst an den Geistem aus, tmd damnter verdeutlichte er seine ungerechte Verstrickung und vertraute sie den Stücken an, um indirekt Kritik [am König] zu üben. Und aus diesem Gmnd sind das Geschriebene und seine Aussage nicht gleich, Abschnitte und Verse sind durchein¬

andergemischt und haben weitreichende und unterschiedliche Bedeutungen."'

Daß die Gesänge auf poetischen Fassungen von Aufzeichnungen des friihesten

Anthropologen wider Willen, Ch'ü Yüan, beruhten, war grundlegend für die Vor¬

stellung Waleys und anderer Forscher vom Entstehungshintergrund der Gesänge.

Demzufolge waren sie Bestandteile religiöser Praktiken Chinas aus der Zeit vor dem Beginn unserer Zeitrechnung.' Übersetzer, die sich der von Chu Hsi kommentierten

' Takeiji Sadao (Hrsg.): Soji Sakuin: Soji hochu (Index zu den "Liedem von Ch'u" mit Kommentar und Subkommentar). Kyoto 1971, S. 24 f

' Die Wirkung des Vorwortes zum zweiten Kapitel ist vergleichbar mit dem Einfluß des Vorwortes zum dritten Kapitel der "Lieder von Ch'u", den "Fragen an den Himmel" (T'ien wen), auf AUGUST Conra¬

dy. Es veranlaßte ihn zu dem Versuch der Rekonstruktion der Wandgemälde eines Tempels, auf deren Betrachtung Ch'ü Yüans "Fragen an den Himmel" laut dem dazugehörigen Vorwort beruht haben sollen. Der Text selbst enthält jedoch kein einziges Wort über Gemälde oder einen Tempel. Siehe

(5)

Ausgabe bedienten oder sie zusammen mit anderen Editionen verwendeten, erhielten zudem die Information, daß Schamanen bei den Opfem mitwirkten. Der entsprechende Teil des Vorwortes zu den "Neun Gesängen" von Chu Hsi lautet:

"(...) Für ihre Opfer war es notwendig, männliche und weibliche Schamanen einzuset¬

zen, um Musik zu machen, zu singen und zu tanzen, um die Geister fröhlich zu stim¬

men. Die Man [Barbaren] aus der Region von Ching waren roh und gewöhnlich, sowohl ihre Ausdrücke waren grob und unbeholfen, und auch ihre Yin-imd-Yang-Praxis woirde

[im Raum] zwischen Menschen tmd Geistem [ausgeübt], und manche vermochten es

nicht, sich anständig in diesem lasziven und ausschweifenden Durcheinander zu verhal¬

ten. (...)"*

Die Beteiligimg von Schamanen an den Opfem war keine Erfindung des berühmten

Philosophen der Sung-Dynastie. Chu Hsi übemahm diese Information aus dem Kom¬

mentar von Wang I. Jener hatte dem in drei der Gesänge vorkommenden Begriff ling,

der sowohl "Geist" als auch "Schamane" bedeuten kann, in seiner Auslegung die Bedeutung "Schamane" zugewiesen. Demnach hatte bereits der Kommentator der Han-

Dynastie einen Zusammenhang zwischen den Gesängen und Schamanismus tmterstellt.

Als Verfasser der Vorworte zu den einzelnen Kapiteln der "Lieder von Ch'u" sahen

chinesische wie westliche Gelehrte lange Zeit Wang I an. Erst in den letzten zwei

Jahrzehnten wurden Zweifel an ihrer Authentizität laut, welche auf der Entdeckung

von Widersprüchen zwischen Vorworten und Kommentaren sowie kommentariellen

Einschüben in die Vorworte selbst beruhten. Werm es sich daher bei der Version des

Vorwortes, wie es im Wen Hsüan mit den Kommentaren der Fünf Minister (Wu

Ch'en) und Li Shan aus dem 9. Jh. erhalten ist, nicht um eine absichtlich gekürzte Version handelt, bietet sein Vergleich mit den heutigen Vorworten einen erstaunlichen

Blick auf den Wandel der chinesischen Auffassung über den Entstehungs- und Funk-

tionshintergmnd der Gesänge. Das Vorwort lautet:

"Die 'Neun Gesänge' wurden von Ch'ü Yüan verfaßt. Früher, im Süden von Ch'u, in der Hauptstadt Ying, glaubten die gewöhnlichen Menschen an Geister und hatten eine Vorliebe für Opfer. Für die Opfer mußte Musik gemacht, getrommelt und getanzt werden. Deshalb verfaßte [Ch'ü Yüan] die Stücke der 'Neun Gesänge' und vertraute sich ihnen an, um indirekt Kritik zu üben."'

Laut diesem Vorwort verfaßte Ch'ü Yüan die Gesänge zum Opfer in der Hauptstadt des Ch'u-Reiches selbst. Er ist hier nicht in den entlegenen Süden zu den "primitiven"

Eingeborenen verbannt. Das Wen Hsüan liefert des weiteren den Beleg, daß viele der

A. Conrady: Das älteste Dokument zur chinesischen Kunstgeschichte, T'ien-wen: die "Himmels¬

fragen " des K'üh Yuan. (Postum publiziert von E. ERKES), Leipzig 1931.

' Chu Hsi: Ch u Tz'u chi chu. Taibei 1980, S. 35.

' Li Shan: Liu Ch 'en chu Wen Hsüan. Beijing 1987, S. 616.

(6)

in den Vorworten der heutigen Ausgaben hinzugefugten Informationen auf den Kom¬

mentator Chang Hsien aus dem 6. Jh. zurückgehen.'" Sie verschmolzen im Lauf der Zeit mit weiteren Informationen zu dem zuerst zitierten Vorwort. Die Schilderung des entstehungsgeschichtlichen Hintergrundes der "Neim Gesänge" wurde demnach zunehmend verändert und ausgeschmückt. Forscher des 19. und 20. Jh.s erhielten eine

Einfuhrung zu den Gesängen, welche ihre heutige Form nmd zwölfhundert Jahre nach

der Bearbeitung durch ihren vermeintlichen Verfasser erlangte. Diese Einführung ist selbst das Produkt einer mittlerweile fast zwei Jahrtausende währenden Rezeptions¬

geschichte in China.

II

Neu an der Studie von Arthur Waley war eigenthch die Behauptung, daß die

meisten der "Neun Gesänge" ähnlich aufgebaut seien. Aufbau und Inhalt sollten eine bis dahin unbekannte schamanistische Praxis offenbaren. In seiner Einfuhrung heißt es:

"In these songs shamanism assumes a particular form not known, I think, in the classic areas - Siberia, Mandchuria and Central Asia. The shaman's relation with the Spirit is represented as a kind of love-affair.""

Arthur Waley glaubte, in den "Neun Gesängen" die Spuren einer Praxis wieder¬

entdeckt zu haben, welche nicht in Mircea Ell\des weltumspannendem Kompendium

Le Chamanisme aufgeführt war, nämlich eine Beziehung zwischen einem Schamanen

und einem Geist als eine Art von Liebesverhältnis." Die Vorstellung von den "Neun Gesängen" als Schilderungen von Liebesverhältnissen ging laut Waley bereits auf August Conrady zurück." Den Hinweis darauf bezog er aus dem anfangs erwähnten

Werk von BRUNO Schindler, einem Schüler Conradys. Gestützt auf die Angaben

seines Lehrers, hatte jener bereits auf Begriffe in einzelnen Stücken verwiesen, welche

"ein richtiges Liebesverhältnis zwischen dem Gott und der Zauberin anzudeuten"

scheinen.'"

Den grundsätzlichen Aufbau der Lieder in den "Neun Gesängen" beschreibt Waley wie folgt:

"In the Nine Songs the typical form is this: first the shaman (...) sees the Spirit de¬

scending and goes out to meet it, riding in an equipage sometimes drawn by strange or mythical creatures. In the next part of the song, the shaman's meeting with the Spirit

'° Siehe sein Vorwort zu Beginn der Seite, ihid.

" Waley: op. cit. (Anm. 1), S. 13 f

" Die Arbeit Eliades wird gleich zu Anfang der Einfühmng erwähnt; ihid. S. 9.

"/Wrf. S. 19(18).

Schindler: op. cit. (Anm. 2), S. 28, Aimi. 6.

(7)

(a kind of mantic honeymoon) is over. The Spirit has proved fickle and the shaman wanders about love-lorn waiting in vain for the lover's return.""

In den Kommentaren, die seine Übersetzimgen der einzelnen Lieder begleiten, wird jedoch deutlich, daß lediglich vier von neun Stücken in etwa dem ihnen unterstellten

Aufbau entsprechen. Waley weist selbst daraufhin, daß die anderen lediglich einen

Teilaspekt behandeln oder völlig von dem Muster abweichen." Somit stelh er bereits

in den Bemerkungen zu den Übersetzungen seine Behauptung der strukturellen Ge¬

meinsamkeit der Lieder wieder in Frage. Sein Bestreben, die Stücke in den "Neun Gesängen" trotz dieser Widersprüche als eine Einheit zu behandeln, verweist umge¬

kehrt auf die Macht der zuvor geschilderten Einflüsse.

Die chinesischen Vorworte und Kommentare zu den "Neun Gesängen" heben die

Verbindung der Werke mit Ch'ü Yüan immer wieder hervor. So überrascht es, daß

Ch'ü Yüan in Waleys und anderen Bearbeitungen dieses Jahrhunderts fast nur im

Rahmen der Autorenschaft erwähnt wird. Hierfiü- liefert die eingangs erwähnte Studie

von Eduard Erkes eine Erklärung, welche bereits 16 Jahre vor der Publikation

Waleys erschienen war. Erkes legt darin die neue Position dar, die Gelehrte jener

Zeit gegenüber den "Neun Gesängen" eingenommen hatten:

"Daß die Neun Gesänge nicht komponiert, sondem lediglich gesammelt und ausge¬

schmückt wurden, da sie in ihrer ursprünglichen Form ziemlich kmde waren, wird von Wang I, dem frühesten Kompilator und Kommentator der Ch 'u Tz 'u in seinem Vorwort zu den Neun Liedem erklärt und scheint allgemein anerkannt zu sein.""

In einer Fußnote fügt er den Hinweis auf einen Artikel von Hu Shih aus dem Jahr 1922 hinzu. Hu stellte darin nicht nur die Existenz einer Person namens Ch'ü Yüan in Frage,

sondem lehnte die aUen Kommentare rundweg ab. Erkes schloß sich Hu's Position an,

weim er feststellte:

"Wang I der Han-Zeit, die [fünf Minister] Wu Ch'en der T'ang Periode und der Sung Kommentator Hung Hsing-tsu behandeln die Neun Gesänge, als ob sie Chü's eigene Gedanken ausdrückten und entdecken fortlaufend nicht nur moralische und politische Ideen sondem auch Anspielimgen auf Chü's Leben und seine Taten. Selbst Chu Hsi,

" Waley: op. cit. (Anm. 1), S. 14.

" Es sind die Lieder 2, 5, 6 und 9. Lied 1 {Tung huang t'ai i) ist ausgelassen, weil es laut seinem Kommentar von den meisten der anderen abweicht, da keine Liebesbeziehung vorkommt und ein Speiseopfer erwähnt wird; ibid., S. 24. Lied 8 {Ho Po) fällt nicht unter das Muster, weil das Lied beginnt, als das Treffen zwischen Geist und Schamanen zeitweise vorüber und für die Rückkehr des Gottes am Ende deutlich andere Interpretationen möglich sind; ibid., S. 52. Lied 3 {Hsiang Chün) und Lied 7 {Tung Chün) enthalten kern Treffen von Liebenden und werden anders interpretiert; ibid., S. 31, 46. Lied 4 {Hsiang Fu-jen) gehört auch nicht dazu, weil Waley es zu großen Teilen für eine andere Version von Lied 3 hält; ibid., S. 35. Die Lieder 10 imd 11 sind aufgmnd abweichenden Inhalts von vomherein ausgeschlossen.

" Erkes: op. cit. (Anm. 2), S. 197.

(8)

obwohl wesentlich nüchtemer und kritischer als seine Vorgänger, ist nicht gänzlich frei von dieser Tendenz. Nun, all dies sollte selbstverständlich komplett verworfen werden, genauso wie die alte symbolische Interpretation des [Buches der Lieder] Shih ching von Granet und Waley zurückgelassen werden mußte, als sie den Weg zu einem wahren Verständnis der Dichtung des alten Chinas aufzeigten.""

Die Studie Arthur Waleys bestätigt, daß er sich den "Neun Gesängen" näherte

wie sein französischer Kollege Marcel Granet dem Shih ching. In seinem Buch

Fetes et Chansons faßte Granet die Lieder als Werke der Volksreligion auf und

verwarf die traditionelle Interpretation als eine Mißkonzeption der Texte."

Die Gelehrten begaben sich damit sozusagen in einen "Spagat": Ihr Zugang beruhte

nun auf der Annahme, daß die im Vorwort hinsichtlich des Urspnmgs der "Neun

Gesänge" enthaltene Information richtig war, die in den Kommentaren enthaltene

Information zu den Texten hingegen falsch, obwohl Wang I nach wie vor sowohl als

Verfasser des Vorwortes als auch des Kommentars galt.

Die Übersetzer hätten sich demnach auf die Texte selbst beschränken und die

Richtigkeit ihrer Auslegungen bestimmter Inhalte durch Vergleichsbeispiele aus

anderen, nach Möglichkeit nichtkonflizianischen Quellen stützen müssen. Jedoch zeigt

eine genauere Betrachtung der Übersetzungen, daß auch weiterhin Informationen aus

den Standardkommentaren Eingang in die Übersetzungen fanden. Dem Übersetzer

blieb zuweilen gar nichts anderes übrig, als den Kommentar zu Hilfe zu nehmen, und sei es nur ziu- Anregung. Daraus ergab sich ein weiteres Problem: Die Zielsetzung einer

Textauslegung, auf der Grundlage von Einzelerklärungen eine Gesamtdeutung eines

Werkes vorzunehmen, um damit gegen eine herrschende Auslegung zu argumentieren

oder eine bestehende Deutung zu untermauem, fand keine Berücksichtigung mehr.

Lediglich der Interpretation des jeweiligen Übersetzers "sinnvoll" scheinende Er¬

klärungen wurden in die eigene Übersetzung übemommen, andere wurden übergangen, oder man bediente sich weiterer Kommentare. Die Übersetzungen gerieten in der Folge

zu Gemengelagen von Auslegungsteilen aus verschiedenen, sich teilweise wider¬

sprechenden Kommentaren, verbunden mit den eigenen Interpretationen.

in

In den vorhergehenden Teilen wurde gezeigt, daß die Informationen und Vorgaben,

von denen sich Gelehrte bei der Übersetzung der "Neun Gesänge" leiten ließen, zuvor

selbst verschiedensten Transformationen unterworfen waren. Daher taugen sie nur

bedingt als Ausgangspunkt für eine Übersetzimg. Obwohl ein Paradigmenwechsel am

"Ibid^S. 196.

" M. Granet: Festivals and Songs of Ancient China. London 1932, S. 6.

(9)

Anfang dieses Jahrhunderts zu einer neuen Herangehensweise an die Gesänge führte,

wurde zudem der mit diesem Wechsel entstandene Widerspruch von den Forschem

nicht erkannt.

Im folgenden soll einmal in der Gegenrichtung der Entwicklung der geschilderten

Forschungstradition vorgegangen werden: Da Wang I die friiheste und zumindest bis

in das 12. Jh. allein verbindliche Lesart der Gesänge festschrieb - der Text erschien

nicht mehr ohne seinen Kommentar - bietet eine durchgängige Übersetzung der

Gesänge in seiner Lesart die Möglichkeit, sich der Zeit des Beginns der Rezeption zu nähem imd zu erfahren, wie der Text danach gelesen wurde. Daher wird im folgenden

die Übersetzung eines Gesanges von Arthur Waley einer Übersetzung gegenüberge¬

stellt, welche den Text in der Lesart des fiühesten Kommentators wiedergibt: Der

zweite Gesang, dessen Titel von Waley mit "Der Herr inmitten der Wolken" wie¬

dergegeben wird und der für den von ihm vermuteten Aufbau "typisch, wenn auch in verkürzter Form" ist, lautet in seiner Übersetzung wie folgt:

1 "I have washed in brew of orchid, bathed in sweet scents, 2 Many-coloured are my garments; I am like a flower.

3 Now in long curves the Spirit has come down 4 In a blaze of brightness unending.

5 Chien! He is coming to rest at the Abode of Life;

6 As a sun, as a moonbeam glows his light.

7 In dragon chariot and the vestment of a god 8 Hither and thither a little while he moves.

9 The spirit in great majesty came down;

10 Now he soars up swiftly amid the clouds.

1 1 He looks down on the province of Chi and far beyond;

12 He traverses to the Four Seas; endless his flight.

13 Longing for that Lord I heave a deep sigh;

14 My heart is greatly troubled; I am very sad."'°

Waley hält den Sprecher des Textes durchgehend für einen Schamanen. Dieser

redet von sich in der ersten Person. In Zeile 1 und 2 reinigt und kleidet er sich. Danach kommt ohne irgendein weiteres Ritual der Geist herab. Er verbleibt in einer speziellen Halle. Im Konmientar des Übersetzers wird diese Halle als "eine Art Kapelle für die Anbetung der Geister" beschrieben. Der Geist leuchtet hell, er wird von einem Dra¬

chenwagen getragen" und ist ausgestattet wie ein Gott. Vom Wagen ist übrigens im

Text nicht die Rede. Diese Hinzufügung entstammt dem im Wen Hsüan enthaltenen

Waley: op. cit. (Anm. 1), S. 27. (Die Zeilennummem wurden vom Autor des Artikels hinzugefügt).

" Die Aussage in der Einführung und die Übersetzung widersprechen einander. Im Text scheint es doch der Geist zu sein, der getragen wird. Laut der Einführung ist es der Schamane. Ibid.

(10)

Kommentar der Fünf Minister." Die folgenden Zeilen kommentiert Waley wie folgt:

"Zwischen Zeile 8 tmd 9 hat man das zärtliche Treffen zwischen dem Schamanen imd der Gottheit anzunehmen und vielleicht auch den zentralen Tanz des Stückes". Dem¬

nach versteht Waley den Inhalt der Zeilen 3 bis 8 als Beschreibung des Herabsteigens des Geistes und projiziert das Treffen zwischen Zeile 8 und 9." Die folgenden Zeilen beschreiben des Geistes Verschwinden und in Zeile 13 und 14 artikuliert der Schamane seinen Zustand der Niedergeschlagenheit danach.

Folgen wir seiner Übersetzung, dann handelt der Schamane in zwei Rollen. Er ist

gleichzeitig der Leiter des Rituals und auch der Erzähler desselben. Außerdem ist er in der Lage, etwas über den Verbleib der Gottheit zu sagen, als jene längst entschwunden

ist. Welche Informationen lassen sich in der Übersetzung Waleys über ein Ritual

gewinnen? Am Anfang steht eine Reinigung einer Person und ihr Kleiden in farben¬

prächtige Gewänder, welche einer Blume ähneln. Weshalb daraufhin der Geist er¬

scheint, wird jedoch nicht klar. Dieser Geist begibt sich selber an einen speziellen Ort.

Der Rest ist eine Beschreibung der Erscheinung und einiger Eigenschaften des Geistes,

seines emeuten Verschwindens und des anschließenden Zustandes des Schamanen.

In der Lesart Wang Is weicht der Gesang eigentlich nur in wenigen Zeilen von dem

Waleys ab. Jedoch ist dessen Auslegung in sich konsistent. Gerade dort, wo seine

Deutung von der Übersetzung Waleys abweicht, treten zudem Teile eines Rituals

zutage:

1 "[Ich veranlasse einen Schamanen] in Wasserdost-Sud zu baden, sich mit Bären¬

klau zu reinigen sowie

2 seine vielfältig bunte Kleidung mit Pollia-Blüten [zu variieren und sich dadurch rein zu machen].'"

3 Während sich [der Schamane Meister] Gottheit noch [respektvoll und ehrfürchtig]

windet und krümmt, da verweilt bereits [der erfreute Geist].'*

" Takeiji Sadao: op. dt. (Anm. 6), S. 26.

" Dies wird von der Edition unterstrichen, welche die Zeilen 9-14 vom Teil davor absetzt. Waley: op.

cit (Anm, 1), S. 27.

" Bei der Wiedergabe des Kommentars in den folgenden Fußnoten wurden viele Glossen aus Platz¬

gründen weggelassen und lediglich die Paraphrasen wiedergegeben. Vergleiche mit dem vollständigen Text in der Ausgabe von takeiji sadao: op. cit. (Anm. 6). Die Paraphrase zu diesen Zeilen lautet: Das heißt [m.a.W.]: Da ich selbst im Begriff bin, ein Opfer darzubringen und der Wolkengottheit zu Diensten zu sein, veranlasse ich daraufhin einen Schamanen (Ung wu), zuerst in Wasserdost-Sud zu baden, sich mit duftendem Bärenklau zu reinigen, sich in fünf Farben zu kleiden, seine Kleidung und seinen Schmuck mit Pollia-Blumen zu variieren und sich [dadurch] zu läutern und rein zu machen.

" "[Meister] Gottheit" bedeutet Schamane. Die Menschen in Ch'u beneimen Schamanen mit "Meister Gottheit" (Ung tzu).

(11)

4 Sein Schein ist so strahlend und grell, daß er nirgends endet.''

5 Oh, durch Nahrung [derart] beruhigt, [verweilt er] im Palast [zur Erreichung]

langen Lebens."

6 Und mit Sorme und Mond ebenbürtig ist sein Leuchten.'*

7 [Der Himmel ehrt ihn dadurch, daß er] von einem Drachen getragen wird und den [fünf] Herrschem gleich gekleidet ist."

8 Überdies fliegt er und streift hemm, umherkreisend und [sich dabei] entfaltend.'"

9 Des [Wolken-]Geistes Erscheinung war hehr tmd erhaben, als er herabstieg."

10 Wirbelwindgleich wird er, [gerade vom Opfer gesättigt], in die Feme und inmitten von Wolken gehoben."

11 [Von dort] überblickt er die Region von Chi und auch das Weitere."

12 [In nur einem Moment] quert er zwischen den Vier Meeren. Wie [körmte es] etwas ihn Begrenzendes geben?"

13 Ich [Ch'ü Yüan] denke daran, diesem Fürsten zu folgen. [Jedoch da dies nicht möglich sein wird] seufze ich schwer."

14 Bis zum Äußersten steigert sich die Last auf meinem Herzen tmd ich bin bedrückt

" Das heißt [m.a.W.]: Die Vorgehensweise des Schamanen ist respektvoll und ehrfurchtig, er begrüßt ihn höflich und führt ihn an, wobei sein Gesichtsausdmck würdig ist und sein leiblicher Körper sich windet und krümmt, woraufhin der Geist derart erfreut ist, daß er bleiben und anhalten muß. Seine leuchtende Erscheinung wird sichtbar, welche so strahlend hellscheinend ist, daß sie nirgendwo aufhört.

Das heißt [m.a.W.]: Der Wolkengott ist bereits im Palast des langen Lebens angelangt, er nimmt freudig den Duft des [geopferten] Weines und der Speisen an, welche, solchermaßen beruhigend, ihn zufriedenstellen und erfreuen, daß er nicht den Wunsch hat, sich wieder zu entfemen.

'* Das heißt [m.a.W.]: Die Position der Wolkengottheit Feng Long ist derart ehrwürdig und hoch, daß er der Helligkeit von Sonne und Mond gleichkommt. Gmndsätzlich betrachtet sind, wenn Wolken aufkommen, Sonne und Mond verdeckt. Wenn die Wolken verborgen sind, dann [leuchten] Sonne und Mond hell. Deshalb heü3t es [in der Zeile] "ebenbürtig ist sein Leuchten".

" Das heißt [m.a.W.]: Der Hünmel ehrt den Wolkengott, indem er ihn auf einem Drachen reiten läßt, und kleidet ihn dazu in blaugrün und gelb der fünf erlesenen Farben, so daß er mit den fünf Herrschem der Himmelsrichtungen gleich gekleidet ist.

'" Das heißt [m.a.W.]: Linter den Aufenthaltsorten der Wolkengottheit ist keiner dauerhaft, bewegt er sich, dann schwebt er hemm, treibt in Runden umher, geht hin, kommt zurück und vergnügt sich darüber hinaus beim Umherwandem.

" Mit Geist ist hier der Wolkengott gemeint. Das heißt [m.a.W.]: Kommt der Wolkengott hemnter, ist seine Erscheinung hehr und erhaben und seine Schönheit von leuchtender Helligkeit.

" Das heißt [m.a.W,]: Der Wolkengott kommt her in großer Eile, und sobald er sich an Getränken und Speisen gesättigt hat, wird er wie em Wirbelwind in die Feme gehoben und kehrt wieder zu seinem Platz zurück,

" Das heißt [m,a.W,]: Der Ort, an dem der Wolkengott sich [nun] befindet, ist so hoch und entlegen, daß er auf die Region von Chi blickt und darüber hinaus auch andere Gegenden sieht,

" Das heißt [m,a,W,]: Des Wolkengottes Heraustreten und Einkehren vollzieht sich äußerst schnell, innerhalb eines Momentes überquert er [die Distanz] zwischen den vier Weltmeeren, Wie sollte es da für ihn ein begrenzendes Äußerstes geben?

" Mit [Fürst] ist hier der Wolkengott gememt.

(12)

und niedergeschlagen.'"*

In den ersten beiden Zeilen wird hier ein Schamane durch eine andere Person

veranlaßt, sich zu reinigen. Die dritte Zeile weicht von der Fassung Waleys insofem

ab, daß Wang I die erste Hälfte auf den Schamanen bezieht. Diese Lesart wird ihm

durch die Ambivalenz des zuvor erwähnten Ausdmckes ("Gottheit - Schamane" ling) ermöglicht. Deshalb ist das Winden und Krümmen, welches von den meisten Überset¬

zem dem Geist zugeschrieben wird, Teil des Rituals des Schamanen, um die Gottheit zum Herabsteigen zu bewegen. In Zeile 5 liest Wang "Nahrung" fur den Begriff, der meist als eine die zukünftige Handlung anzeigende Partikel verstanden wird, und weist

so ein Speiseopfer auf welches den Geist zum Bleiben bewegen soll. Was wie eine

Beschreibung einer Reise in Waleys Übersetzung der Zeilen 11 und 12 armiutet, wird bei Wang I zu einer Darlegung der Kräfte des Geistes.

Wang I verbindet den Text zwar ausdrücklich mit der Person Ch'ü Yüans, jedoch ist

seine Deutung des Gesanginhalts als eine Abfolge von Reinigung, Aimiflmg des

Geistes durch Tanz in Verbindung mit einer Speisegabe, Herabkunft des Geistes,

Nähmng imd anschließendes Entschwinden desselben im Gegensatz zu Waleys

Übertragung in sich konsistent. Durch die Einfühmng der zweiten Person des Erzäh¬

lers, nämlich Ch'ü Yüan, gibt es auch keine Überlagemng von ritueller Handlung und gleichzeitiger Erzählung darüber. Die Ritualschildemng übertrifft in der frühesten Lesart sogar noch die Erwartungen, welche Arthur Waley hinsichtlich eines schama¬

nistischen Rituals geweckt hatte. Von einer Liebesbeziehung kommt bei Wang I

jedoch nichts vor.

Dieses Beispiel verdeutlicht, daß der konsequente Rückgriff auf den Anfang der

Rezeptionsgeschichte eine Zahl überraschender Übersetzungsoptionen aufzeigt, welche

in keiner der mir vorliegenden Übertragungen Berücksichtigung fanden. Meines

Erachtens ist diese Rückkehr zum Ausgangspunkt die notwendige Bedingung ftir eine

Lösung vom vorherrschenden rezeptionsgeschichtlichen Rahmen und für den Fortgang der Erforschung der "Neun Gesänge".

" Ch'ü Yüan sieht, daß die Wolken nüt einer Bewegung 1000 Li zurücklegen und die [Gegend zwi¬

schen den] vier Meeren auf einmal durchkreisen, und wünscht sich, daß es ihm gelänge, ihnen zu folgen und die Gegenden in den vier Himmelsrichtungen zu betrachten und dadurch seine traurigen Gedanken zu vergessen. Jedoch, als er daran denkt, daß er dies nie erreichen wird, stößt er daher schwere Seufzer aus, und in seinem Innem ist er belastet und erschöpft sowie bedrückt und niedergeschlagen. Jemand anderes sagt: Mit [Fürst] ist König Huai gemeint. Ch'ü Yüan hat den Wolkengott dergestalt arrangiert und die Bedeutung des Textes derart festgelegt und beschränkt, daß seine kummervollen Gedanken ihn wieder erreichen, und er klagt, denkt er an König Huais dunkle Umnachtung und Unklarheit [über die wirkliche Lage], weshalb er folglich heftig seufzt und häufiger stöhnt, sein Herz wieder bedrückt und bekümmert ist und er nicht m der Lage ist, dem Einhalt zu gebieten.

(13)

Leitung: Claus Wilcke (Leipzig)

Folgende Vorträge wurden in der Fachgruppe gehalten:

Vladimir Jakobson (St. Petersburg): Staat und soziale Psychologie.

Ludwig D. Morenz (Oxford): Fremde als potentielle Feinde. Die prophylaktische Szene der Erschlagung der Fremden in Altägypten.

Andrea M. Ulshöfer (Bielefeld): Bibel, Babel und Herodot. Ein Beispiel für das Überleben alter Vorurteile gegen Fremde.

Michael P. Streck (München): Das Kasussystem des Amurritischen.

Josef Tropper (Berlin): Terminativ und Lokativ im Westsemitischen.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Weg zum Hutberg 12 06295 Lutherstadt Eisleben.. Kindertagesstätte

Hort Freizeitstrolche Huttenstraße 12 OT Merseburg 06217 Merseburg Tel.. 15

Internationaler Bund, IB Mitte gGmbH für Bildung und Soziale Dienste, Niederlassung S-A, Gebiet Süd Jugendhilfe- u.. Bildungsverbund Halle/BLK

Hort Gröbzig SteJH Hallesche Straße 72 OT Gröbzig, Stadt 06388 Südliches Anhalt Tel. Jugendhilfe Dr.-John-Rittmeister-Straße 06

Uns wird aus Bremerhaven gemeldet, dass eine Verankerung wieder aufgetaucht ist, die wir vor drei Tagen ausgelegt haben.. Jede Verankerung ist mit einem Satellitensender

Während der Reise besuchten Gerfalken die "Polarstern" zweimal und ließen sich für eine kurze Weile auf dem gelben Bugmast nieder.. Mit einer Vermessung des

Die Messungen werden alle 15 Sekunden durchgeführt und liefern aneinandergereiht Informationen über die Sed-.. i---ment-dicke und Topographie

Als 1952 die Universität Harnburg an Franz Nus- ser, der sich als Mitglied der Geographischen Gesellschaft in Hamburg und außerhalb seines dienstlichen Tätigkeitsfeldes engagiert