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Archiv "Verlust der sinnlichen Nähe" (31.01.1980)

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DIE GLOSSE

Verlust

der sinnlichen Nähe

Es sind nicht immer nur die gro- ßen technischen und administrati- ven Veränderungen, die unser Le- ben beeinflussen. Sind nicht sel- ten die kleinen, zunächst un- scheinbaren Änderungen für die menschliche Psyche auf die Dau- er ebenso bedeutungsvoll? So scheint es mit einer neuen Art von Uhren, den Digitaluhren zu sein, derer sich immer häufiger auch Jugendliche und Kinder bedienen.

Gravierender Unterschied gegen- über den bisherigen Zeitanzeigern ist das Fehlen der Zeiger. Bisher konnte man mit Hilfe der Zeiger den Zeitablauf verfolgen, anhand des Zifferblattes zeitlich etwas vor- ausberechnen oder in der Zeit zu- rückblickend sich an etwas erin- nern. Mit dem Blick auf eine sol- che herkömmliche Uhr bewegt man sich im Raum der Sinne; an- gesprochen wird das Vorstel- lungsvermögen. Bei den Digital- uhren hingegen fällt dieses Vor- stellungsvermögen — eine Qualität

— nun fort. Es wird nur eine Zahl gezeigt, ein bloßes Ergebnis, eine Quantität. Unser Sinneserlebnis (Qualität) wird beschnitten; die Sinneswelt des Menschen wird är- mer; eine kleine, aber wichtige Di- mension seiner körperlich-seeli- schen Ganzheit geht verloren. Die- ses Beschneiden von menschli- chen Dimensionen (Qualitäten) beobachten wir mit rasch steigen- der Technisierung unseres Lebens zunehmend häufiger, vor allem in der Arbeitswelt. Daß es sich nun auch immer mehr in der persönli- chen Sphäre und gerade bei Ju- gendlichen ausbreitet, sollte zu denken geben. Das freie Spiel der Fantasie, die ästhetische Funktion (aesthesis = sinnliches Erlebnis) wird dadurch genauso einge- schränkt wie auf anderer Ebene das freie Spiel auf Plätzen und Straßen; und so, wie sich letzteres auf die gesunde körperliche und geistig-seelische Entwicklung ne- gativ auswirkt, so nicht minder das Beschneiden der sinnlichen Erfah- rung. Beides hängt im Geflecht

unseres modernen Lebens eng zu- sammen.

Zur Erläuterung aus unserer tägli- chen ärztlichen Arbeit ein Parallel- beispiel: Bei der einfachen Lun- genfunktionsprüfung wird eine Atemkurve geschrieben, aus de- ren Verlauf sich die einzelnen ge- suchten Atemwerte schnell be- rechnen lassen. Der Atemvorgang wird grafisch dargestellt. Nun gibt es seit einiger Zeit Apparate, bei denen diese Untersuchung elek- tronisch abläuft und sofort die ge- suchte Zahl ohne Kurvenbild an- gezeigt wird. Diese Art der Unter- suchung hat etwas Langweiliges an sich, man hat als Arzt, der stän- dig mehr oder weniger unbewußt mit dem biologisch wichtigen Fak- tor Zeit umgeht, den Eindruck, daß da etwas fehlt. Es fehlt der At- mungsverlauf in der Zeit; es fehlt das Bild der Atmung.

Analog- fehlt bei der Digitaluhr

„das Bild" der Zeit. Mit diesen Bei- spielen von Verkümmerung des Vorstellungsvermögens ist ein an- deres Phänomen unseres rationa- lisierten Lebens verwandt: Die Postleitzahlen und die Numerie- rung kleinerer Ortschaften im Ge- folge der Gebietsreformen. Mit der früheren Art der Ortsbezeichnung war eine Vorstellung verbunden, ein Bild, eine Qualität. Jetzt domi- niert eine Nummer, die in sehr vie- len Fällen eine bildliche Vorstel- lung nur auf Umwegen oder gar nicht mehr aufkommen läßt.

Also auch hier eine Verarmung des Vorstellungsvermögens, ein Umschlag von Qualität in Quanti- tät. Vom „Zerfall sinnlicher Nähe"

spricht der Pädagoge H. Rumpf, wenn er unter anderem von der Auslöschung mancher Ortsnamen spricht. Wird eine Jugend, die in einer derartig numerierten Welt aufwächst, nicht sinnlich ärmer werden, verkümmern und im be- sonderen Maße der Neurotisie- rung ausgesetzt sein? Die ständig ansteigende Zahl von jugendli- chen Alkoholikern, Drogensüchti- gen und sonstwie gestörten Ju- gendlichen hat zweifellos auch in dieser zum Teil gedankenlosen

Entsinnlichung des Lebens eine ihrer Ursachen. Die vielfach be- klagte mangelnde Humanität ge- hört mit in diesen Problemkreis.

Wenn Gesundheitserziehung im letzten Grunde Änderung der Mentalität und damit Änderung des Gesamtverhaltens zum Ziel hat, dann gilt es, dieses fein ge- sponnene Netz der Rationalisie- rung, das zu einem „Verlust der integralen Sinneserfahrung" — so B. Weite in einem Aufsatz über den Verlust der religiösen Dimen- sion — und so zu einer Verkümme- rung des Lebens führt, in unsere gesundheitlichen Überlegungen einzubeziehen.

Die Konsequenz wird sein, daß wir neben der kurativen Medizin eine immer umfassendere Gesund- heitsmedizin praktizieren müssen mit Schwerpunkt im Kindesalter, zusammen mit Eltern, Lehrern und Erziehern aller Art. Ohne auf Ein- zelheiten über einen derartigen Um- und Weiterbau der Medizin einzugehen, sei nur so viel gesagt:

Innerhalb einer Gesundheitsmedi- zin, die zu Gesundheitsbildung führen soll, wird die Pflege der sinnlichen Qualitäten — etwa nach den Vorstellungen von H. Kükel- haus — eine wichtige Rolle spielen.

Vermehrte musische und ästheti- sche Bemühungen werden der Gesundheitserziehung gerade der Jugendlichen entscheidende Im- pulse und Hilfen geben können.

Dr. med. G. Clemens Gelsenkirchen

BLÜTENLESE

Drei Dinge

Charles Gounod (1818 bis 1893) gilt als wirkungssicherer Musikromantiker. Eine weni- ger romantische Erkenntnis faßte er in einem Satz zusam- men: „Drei Dinge verzeiht man seinem Nebenmenschen nicht: Das Gute, das er einem angetan hat, das Böse, das man ihm angetan hat, und das Böse, das man ihm nicht an- tun konnte." Dr. Fleiß

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 5 vom 31. Januar 1980 283

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