• Keine Ergebnisse gefunden

Untersuchung zur erhöhten Inanspruchnahme stationärer und teilstationärer Behandlungen von Patienten aus dem schizophrenen Formenkreis

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Untersuchung zur erhöhten Inanspruchnahme stationärer und teilstationärer Behandlungen von Patienten aus dem schizophrenen Formenkreis"

Copied!
105
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

der Medizinischen Hochschule Hannover Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. med. Stefan Bleich

und

dem Asklepios Fachklinikum Teupitz, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik

Chefarzt: Prof. Dr. med. Stefan Kropp

Untersuchung zur erhöhten Inanspruchnahme stationärer und teilstationärer Behandlungen von Patienten aus dem schizophrenen Formenkreis

Dissertation

zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin in der Medizinischen Hochschule Hannover

vorgelegt von Karsten Nadler aus Neubrandenburg

Hannover 2015

(2)

Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. med. Stefan Kropp

1. Referent: Prof. Dr. med. Petra Garlipp

2. Referent: Prof. Dr. rer. pol. Christian Krauth

Tag der mündlichen Prüfung: 22.08.2017

(3)

1 Einleitung ... 1

1.1 Problematik und Fragestellung ... 1

2 Allgemeiner Teil, Grundlagen ... 6

2.1 Entwicklung der Schizophrenie - frühere Krankheitsbegriffe ... 6

2.2 Krankheitsmodelle ... 7

2.2.1 Biopsychosoziales Modell ... 7

2.2.2 Psychisches Modell ... 8

2.2.3 Biologische Sichtweise ... 10

2.2.3.1 Genetik ... 10

2.2.3.2 Funktionell-biologische Sichtweise ... 11

2.2.4 Soziale Ursachen ... 13

2.3 Epidemiologie der Schizophrenie ... 14

2.4 Psychiatrisches Versorgungssystem ... 15

2.5 Verlauf und Behandlung der Schizophrenie ... 18

2.6 Symptomatik, Diagnostik, Klassifikation ... 21

2.7 Heavy User im Gesundheitssystem ... 21

2.8 Soziale Stigmatisierung ... 23

3 Material und Methoden ... 25

4 Ergebnisse ... 30

4.1 Merkmale des Untersuchungskollektivs ... 30

4.2 Deskriptive und Analytische Statistik ... 30

4.2.1 Geschlecht ... 30

4.2.2 Alter und Altersgruppen ... 30

4.2.3 Gesamtanzahl der Aufenthalte innerhalb des 4-Jahres-Zeitraumes ... 33

4.2.4 Gesamtaufenthaltsdauer in Tagen innerhalb des 4-Jahres-Zeitraumes ... 34

4.2.5 Dauer eines stationären Aufenthaltes ... 35

(4)

4.2.5.1 Aufenthaltsdauerintervalle ... 36

4.2.6 Hauptdiagnose nach ICD-10 ... 37

4.2.7 Anzahl der psychiatrischen Nebendiagnosen nach ICD-10 ... 38

4.2.8 Psychiatrische Nebendiagnosen nach ICD-10 ... 39

4.2.9 Wohnsituation ... 40

4.2.10 Beschäftigungsstatus ... 41

4.2.11 Personenstand ... 42

4.2.12 Kinder ... 42

4.2.13 Geschäftsfähigkeit ... 44

4.2.14 Gerichtliche Verurteilungen ... 44

4.2.15 Rechtliche Behandlungsgrundlage zum Aufnahmezeitpunkt ... 45

4.2.16 Krankheitseinsicht und Behandlungseinsicht zum Aufnahmezeitpunkt ... 46

4.2.17 Suizidalität und Fremdgefährdung zum Aufnahmezeitpunkt ... 47

4.2.18 Vorzeitige Entlassung ... 48

4.2.19 Ambulante Medikamenteneinnahme ... 48

4.2.20 Anzahl Psychopharmaka zum Entlassungszeitpunkt ... 49

4.2.21 Dosierungen aller Psychopharmaka ... 52

4.2.22 Einweisungsmodus nach Akuität ... 54

4.2.23 Aufnahmezeitpunkt ... 55

4.2.24 Ambulante ärztliche Versorgung ... 56

5 Diskussion ... 57

5.1 Diskussion der Methodik und Limitation der Studie ... 57

5.2 Diskussion der eigenen Ergebnisse ... 60

5.2.1 Definition eines Heavy Users ... 60

5.2.2 Geschlecht, Alter und Aufenthaltsdauer ... 60

5.2.3 Diagnosen ... 61

5.2.4 Soziodemographische Faktoren ... 62

5.2.5 Behandlungsfaktoren ... 63

5.3 Diskussion der eigenen Ergebnisse im Vergleich mit denen anderer Autoren ... 65

5.3.1 Definition eines Heavy Users ... 65

5.3.2 Vergleich mit Arbeiten über Heavy User mit psychotischen Erkrankungen ... 68

5.3.2.1 Einführung ... 68

5.3.2.2 Aufenthaltsdauer, Aufenthaltszahl, Behandlungskosten ... 69

(5)

5.3.2.3 Geschlecht, Alter ... 70

5.3.2.4 Diagnosen ... 70

5.3.2.5 Soziodemographische Faktoren ... 72

5.3.2.6 Behandlungsfaktoren ... 74

5.3.2.7 Zusammenfassung des Vergleichs und ergänzende tabellarische Übersicht ... 75

5.3.3 Schlussfolgerungen für die klinische Praxis ... 78

6 Zusammenfassung ... 83

7 Literaturverzeichnis ... 85 Lebenslauf

Danksagung

Erklärung zur Dissertation

(6)

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Tabellenverzeichnis

Tab. 3.1 Daten aus der Patientenakte ... 27

Tab. 4.1 Geschlechtsverteilung ... 30

Tab. 4.2 Durchschnittsalter in Jahren ... 31

Tab. 4.3a Häufigkeit der verschiedenen Altersgruppen pro Patient ... 32

Tab. 4.3b Häufigkeit der verschiedenen Altersgruppen pro Behandlung ... 32

Tab. 4.4 Anzahl der Aufenthalte ... 33

Tab. 4.5 Häufigkeit der verschiedenen Aufenthaltszahlen ... 34

Tab. 4.6 Kumulative Aufenthaltsdauer im Durchschnitt ... 35

Tab. 4.7 Kumulative Aufenthaltsdauer in Intervallen ... 35

Tab. 4.8 Durchschnittsverweildauer in Tagen ... 35

Tab. 4.9 Häufigkeit der verschiedenen Verweildauerintervalle ... 37

Tab. 4.10a Hauptdiagnose nach ICD-10 pro Patient ... 38

Tab. 4.10b Hauptdiagnose nach ICD-10 pro Behandlung ... 38

Tab. 4.11 Anzahl psychiatrische Nebendiagnosen nach Patienten ... 39

Tab. 4.12 Häufigkeit der psychiatrischen Nebendiagnosen... 40

Tab. 4.13 Wohnsituation ... 41

Tab. 4.14 Beschäftigungsstatus... 41

Tab. 4.15 Personenstand ... 42

Tab. 4.16 Anzahl der Kinder... 42

Tab. 4.17 Häufigkeit der verschiedenen Kinderzahlen ... 43

Tab. 4.18 Geschäftsfähigkeit ... 44

Tab. 4.19 Gerichtliche Verurteilungen ... 45

Tab. 4.20 Aufnahmerechtsstatus ... 45

Tab. 4.21 Krankheitseinsicht, Behandlungseinsicht zum Aufnahmezeitpunkt ... 46

Tab. 4.22 Suizidalität, Fremdgefährdung zum Aufnahmezeitpunkt ... 47

Tab. 4.23 Vorzeitige Entlassung ... 48

Tab. 4.24 Ambulante Medikamenteneinnahme ... 49

Tab. 4.25a Anzahl Psychopharmaka I ... 50

Tab. 4.25b Anzahl Psychopharmaka II ... 51

Tab. 4.26 Dosierungen der Psychopharmaka ... 53

Tab. 4.27 Einweisungsmodus ... 55

Tab. 4.28 Aufnahmezeitpunkt ... 56

Tab. 4.29 Ambulante ärztliche Versorgung ... 56

(7)

Tab. 5.30 Vergleich der Arbeiten über Heavy User ... 76-78 Abbildungsverzeichnis

Abb. 4.1 Altersgruppen pro Patient ... 32

Abb. 4.2 Aktuelle Verweildauer ... 36

Abb. 4.3 Anzahl psychiatrischen Nebendiagnosen nach Behandlungen... 39

Abb. 4.4 Häufigkeit psychiatrischen Nebendiagnosen ... 40

Abb. 4.5 Anzahl Kinder ... 43

Abb. 4.6 Krankheitseinsicht ... 46

Abb. 4.7 Behandlungseinsicht ... 46

Abb. 4.8 Suizidalität und Fremdgefährdung zum Aufnahmezeitpunkt ... 47

Abb. 4.9 Anzahl der Psychopharmaka ... 51

Abb. 4.10 Dosierungen anteilig von Maximaldosis ... 53

Abb. 4.11 Einweisungsmodus ... 55

(8)

1 Einleitung

1.1 Problematik und Fragestellung

Der wiederholt behandelte psychiatrische Patient als medizinisches und gesundheitsökonomisches Phänomen erlangte in den letzten Jahren zunehmend Beachtung. Dies wird als Drehtüreffekt oder der Patient als Drehtürpatient oder „Heavy User“ bezeichnet. Die Fragestellung ist vor allem, wa- rum eine bestimmte Patientengruppe überdurchschnittlich häufig eine Behandlung in Anspruch nimmt bzw. nehmen muss. Es geht also um die Frage nach den Bedingungen der Behandlung und ob und inwieweit diese reduziert werden kann. Zwei sehr umfangreiche Literatur-Reviews von Kent et al. (1995) und Roick et al. (2002a) zeigten, dass 10-30% der psychiatrischen Patienten zwischen 50-80 % der Ressourcen in Anspruch nehmen. Daran hat sich auch bis heute wenig ver- ändert, wie neuere Forschungen bei Graca et al. (2013) und Frick et al. (2013a) belegen.

Dabei kommen neben medizinischen Ursachen genauso soziale Probleme, aber auch die Art des psychiatrischen Versorgungssystems in Betracht (Montgomery und Kirkpatrick, 2002; Roick et al., 2004a; Silva et al., 2009; Morlino et al., 2011; Stulz et al., 2012; Sander et al., 2014).

Die bisherigen im Verlauf des Kapitels genauer erläuterten Forschungen konzentrierten sich aller- dings in den meisten Fällen auf den psychiatrischen Patienten im Allgemeinen, d.h. nicht auf eine Diagnosegruppe fokussiert. Die vorliegende Arbeit soll daher einen weiteren Schritt in Richtung einer diagnosespezifischeren Forschung darstellen.

Ihren Ausgangspunkt nahm die Diskussion zum Thema Heavy User bei der Beobachtung inner- halb von Versorgungsinstitutionen, dass ein relativ geringer Prozentsatz von Patienten z.B. in der stationären Psychiatrie (aber nicht nur dort) einen relativ großen Anteil an allen Behandlungstagen

„konsumiert“. Die sprachliche Formulierung dieser Beobachtung legt in vielen Fällen schon durch die Wortwahl nahe, dass hier ein besonders zu beachtendes und dringlich zu lösendes „Problem“

bestünde. Einerseits wird eine Ungerechtigkeit in der Verteilung von Ressourcen auf die Patienten suggeriert, andererseits wird darauf reflektiert, ob die Versorgungsmöglichkeiten für eine Sub- gruppe der Patienten besonders ungeeignet seien (Frick und Frick, 2008). Moderne Begrifflich- keiten wie „high utilizer“, „frequent utilizer“ versuchen der Wertung „konsumieren“ aus dem Weg zu gehen, eher ungünstige aber historisch verwendete Begriffe wie „Systemsprenger“ oder

„bed-blockers“ sind obsolet. Neben diesen personenbezogenen Deutungen einer intensiven Inan- spruchnahme bevorzugten manche Autoren aber auch Begriffe, die nicht auf die betroffenen Pati- enten, sondern auf die Prozesse und Abläufe in der Gesundheitsversorgung abzielen, welche bei Heavy Usern als problematisch oder aus dem Lot geraten thematisiert werden: „frequent rehospi-

(9)

talization“, „long-term service use“ (Frick und Frick, 2008). Der Begriff „Heavy User“ gilt heute als anerkannt.

Die Relevanz der psychotischen Erkrankungen für die Betroffenen und die Gesellschaft ist hoch.

Die WHO führt seit dem Ende der 1980er Jahre die Global Burden of Disease (GDB)-Studie durch, mit dem Ziel, die Gesundheits- bzw. Krankheitslage der Weltbevölkerung umfassend und vergleichbar zu beschreiben. Krankheitslast wird insbesondere in den „Disability Adjusted Life Years“ (DALYs) quantifiziert, in denen sowohl die Sterblichkeit als auch die gesundheitlichen Einschränkungen durch die Krankheit erfasst werden. Nach der unipolaren Depression und der bipolaren Störung rangiert die Schizophrenie auf dem dritten Platz der Psychischen- und Verhal- tensstörungen (WHO, 2014). In den „Years of Life with Disability“ (YLDs), einer Komponente der DALYs, die das Leben in suboptimaler Gesundheit quantifiziert, ist die Schizophrenie trotz verhältnismäßig geringer Inzidenz auf dem 16. Platz aller Krankheiten weltweit (WHO, 2014).

Für Deutschland gilt eine 12-Monatsprävalenz der psychotischen Erkrankungen von 2,4% in der Gesamtbevölkerung bei einer Gesamterkrankungsrate an psychischen Störungen von 33,3%

(Wittchen und Jacobi, 2012).

In zwei Dritteln der Fälle verlaufen die psychotischen Erkrankungen chronisch oder rezidivierend, sodass sich die Betroffenen in der Regel ihr Leben lang, und folglich auch das Gesundheitssystem und die Gesellschaft, damit auseinandersetzen müssen (Rössler und Theodoridou, 2006).

Dies ist nicht zuletzt dadurch bedingt, dass an Schizophrenie oder einer schizoaffektiven Psychose Erkrankte frühzeitiger aus dem Arbeitsprozess ausscheiden bzw. bei der beruflichen Reintegration weniger erfolgreich sind als jene mit anderen psychischen Erkrankungen (Holzinger et al., 2002;

Hoffmann und Kupper, 2003; Wagner, 2009)

Aus gesundheitsökonomischer Perspektive ist die Schizophrenie eine der teuersten psychiatri- schen Erkrankungen in Deutschland, wobei 30% der Behandlungskosten bereits im ersten Jahr entstehen. Die direkten und indirekten Kosten sind mit den somatischen Volkskrankheiten ver- gleichbar oder liegen sogar höher (DGPPN, 2005). In Deutschland betragen die jährlichen Be- handlungskosten nach einem systematischen Literaturüberblick von 2009 durchschnittlich 14.000

€ pro Patient (Konopka et al., 2009). Ursachen sind z.B. häufig ein frühes Ersterkrankungsalter, hohe Rehospitalisierungsraten oder häufige Frühberentungen (Gaebel und Wölwer, 2010). Laut Statistischem Bundesamt betrugen nach neuesten Datenauswertungen (diese erfolgen zeitlich ver- setzt) aus dem Jahr 2008 die Gesamtkosten für Psychische und Verhaltensstörungen (F00-F99 gemäß ICD-10) 28,654 Milliarden Euro bei Gesamtgesundheitskosten von 254,280 Milliarden Euro. Die höchsten Kosten bei den Psychischen und Verhaltensstörungen verursachten Demenzen (F00-F03 gemäß ICD-10) mit 9,364 Milliarden Euro, gefolgt von Depressionen (F32-F34 gemäß

(10)

ICD-10) mit 5,233 Milliarden Euro, gefolgt von der Schizophrenie, schizotypen und wahnhaften Störungen (F20-F29 gemäß ICD-10) mit 2,936 Milliarden und Psychischen und Verhaltensstö- rungen durch psychotrope Substanzen (F10-19 gemäß ICD-10) mit 2,948 Milliarden Euro. Zum Vergleich waren die direkten Kosten für Krebserkrankungen 15,466 Milliarden Euro oder für die Herz-Kreislauf-Erkrankungen 36,973 Milliarden (Statistisches Bundesamt, 2010).

Die insbesondere volkswirtschaftlich interessanten indirekten Kosten (Erwerbsunfähigkeit, Früh- berentung, vorzeitige Mortalität) werden bei der Schizophrenie als bis zu dreimal höher als die direkten Kosten mit bis zu 9,2 Milliarden Euro geschätzt. Im Vergleich zu anderen Erkrankungen wie der Alkoholabhängigkeit, der Depression oder dem Diabetes mellitus, ist der Anteil an Er- werbsunfähigkeitsjahren relativ hoch (Gaebel und Wölwer, 2010; Recker, 2011).

Nach Institutionen bzw. Kostenbereichen aufgeschlüsselt entfallen die höchsten Kosten der Schi- zophrenie auf die berufliche Rehabilitation mit über 40.901 € pro Patient, die stationär 33,061 €, Langzeitpflege 22.725 €, betreutes Wohnen 21.738 €, Institutsambulanzen 3.588 €, Psychiater 2.959 € (Gaebel und Wölwer, 2010). Heavy User nehmen wie oben genannt 50-80% der Ressour- cen, auch der finanziellen, in Anspruch.

Strategien zur Vorbeugung der Behinderung durch die Erkrankung und zur Senkung der Kosten sind Früherkennung, Stärkung des ambulanten Sektors, weitgehender Erhalt des psychosozialen Funktionsniveaus und das Abwenden oder zumindest die Verzögerung der Chronifizierung (Schultze-Lutter und Ruhrmann, 2008).

Bezüglich der Ursachen der Chronifizierung und den entsprechenden Folgen soll diese Arbeit ihren Beitrag leisten. Denn, und dies lässt sich bereits im Vorfeld sagen, der Heavy User benötigt eine intensivere sektorenübergreifende und damit kostenintensivere Behandlung, was sich an dem hohen Ressourcenverbrauch erkennen lässt.

Die intensivierte Heavy User-Forschung begann um 1980, wobei der früheste Artikel in einem umfangreichen Literaturreview von Frick und Frick (2008) schon auf 1958 datiert werden konnte.

Montgomery und Kirkpatrick stellten 2002 in einer rückblickenden Arbeit fest, dass bereits 1972 Anthony und Kollegen in einem Review konstatierten, dass es eine „Basisrate“ von wiederholten Klinikaufenthalten bei psychisch schwer Erkrankten gibt. Die kürzer zurückliegenden Studien zur Zeit dieser Arbeit (Fisher und Stevens, 1999; Goering, Wasylenki, Lancee und Freeman, 1984;

Owen, Rutherford, Jones, Tennant und Smallman, 1997; Yamada, Korman, und Hughes, 2000) konnten ebenso feststellen, dass es hohe konsistente Rehospitalisierungsraten gibt. Die Frage, wann solche wahrscheinlich werden, blieb allerdings, bis auf das Faktum, dass die Anzahl vorhe- riger Aufenthalte zukünftige vorhersagen können, uneindeutig, bisweilen sogar widersprüchlich.

Ähnliches wurde lt. den Autoren in einem Review von Klinkenberg und Calsyn (1996) über die Studien der vorausgegangenen 20 Jahre gesagt (Montgomery und Kirkpatrick, 2002). Eine große

(11)

Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums stellt das Konzept des Heavy Users ins- gesamt in Frage (Frick und Frick, 2010).

Im Allgemeinen gilt die Regel, dass 10-30% der gesamten psychiatrischen Patienten als Heavy User identifiziert werden und diese 50-80 % der Ressourcen benötigen. Beispielsweise wurden, wie genannt, zwei umfangreiche Literaturreviews von Kent et al. (1995) (200 identifizierte Publi- kationen, 72 beschrieben) und Roick et al. (2002a) (250 identifizierte Publikationen, 105 be- schrieben) dazu durchgeführt.

Zudem wurde oft darüber geschrieben, was Heavy Use prädiziert, wobei sich als Teillösung her- ausstellte, dass die Schizophrenie, schizoaffektive Psychosen und die schweren affektiven Störun- gen die dominierenden Erkrankungen unter den Heavy Usern sind. Dies könnte gleichwohl mehr über die Krankheit als über den Heavy User aussagen, sodass mindestens zusätzlich diagnosespe- zifisch geforscht werden sollte (Roick et al., 2004b). Auch noch 2013 kamen Barekatain et al.

(2013) zu einem ähnlichen Ergebnis, dass es hauptsächlich die Diagnosen (und die psychosoziale Unterstützung) sind, die häufige Wiederaufnahmen vorhersagen.

1999 versuchten Fisher und Stevens Subgruppen unter den Heavy Usern zu identifizieren, wobei sich zunächst, wie eben genannt, herausstellte, dass deren Heavy User an einer psychotischen, affektiven oder einer Störung der Persönlichkeit litten. Die drei Subgruppen machten dann junge Männer mit Suizidalität, junge Männer mit Non-Compliance oder Frauen mittleren Alters mit einer depressiven Episode in Zusammenhang mit der Grunderkrankung aus (Fisher und Stevens, 1999).

Stulz et al. resümierten 2012 für die bisherige Heavy User-Forschung, dass bislang kein einheitli- ches Vorgehen wegen uneinheitlicher Definitionen möglich sei. Sie versuchten, über Patienten- und Krankheitsmerkmalen hinaus, die regionale Versorgungsstruktur mit in die statistischen Be- rechnungen einzubeziehen, was sicher sinnvoll ist, damit eine internationale Vergleichbarkeit möglich wird. Ihre Untersuchungen kamen zu einem mit vergangenen Studien vergleichbaren Ergebnis, dass schizophrene Patienten, gefolgt von Patienten mit bipolaren Störungen und mit Persönlichkeitsstörungen den größten Teil der Heavy User ausmachen. Weitere psychosoziale oder krankheitsbedingte Faktoren konnten, wie in vielen Arbeiten, gefunden werden. Graca et al.

(2013) und Frick et al. (2013a) setzen die eben genannte Reihe fort.

Insofern wäre, wie in der vorliegenden Arbeit, zusätzlich empfehlenswert, diagnosespezifisch zu forschen, um womöglich vergleichbarere Definitionen von Heavy Usern zu finden. Zumal sich Patientenverhalten innerhalb einer Krankheitsentität besser vergleichen lässt und spezielle Thera- pieprogramme bzw. langfristige Behandlungspläne überschaubarer innerhalb separater Gruppen der Psychiatrie etabliert und beforscht werden können.

(12)

Dem Autor sind bislang fünf Studien bekannt, die sich mit dem Heavy User unter psychotischen Patienten auseinandersetzen. Das sind Weiden und Glazer (1997), Roick et al. (2004a, b), Botha et al. (2009), Asher-Svanum et al. (2010) und Sander et al. (2014). Gleichwohl wurde in keiner dieser Studien der Heavy User unter schizophrenen Patienten mit anderen Arbeiten über schizo- phrene Heavy User verglichen, dem Autor ist eine solche Untersuchung auch nicht bekannt.

Die Auseinandersetzung mit diesen Arbeiten erfolgt in der Diskussion. Es lässt sich gleichwohl an dieser Stelle schon sagen, dass über die Arbeiten hinweg und auch in vielen anderen zum Thema Heavy User, Empfehlungen dahingehend geäußert werden, dass der ambulante und auch der sozi- ale Sektor, sowie die berufliche Rehabilitation eine Stärkung erfahren sollten, um die Klinikau- fenthalte reduzieren zu können. Dies entspricht zudem einer konsistenten Logik, da Ressourcen wie Eigenverantwortlichkeit und Selbstständigkeit in einer Art Aufwärtsspirale zu mehr psychi- scher Stabilität führen (Rössler und Theodoridou, 2006; Frick und Frick, 2010).

Ziel dieser Arbeit ist es, das Thema des schizophrenen Heavy Users weiter zu spezifizieren und Faktoren oder Gruppen von Faktoren zu analysieren, die es erlauben, Patienten, die von einer psy- chotischen Erkrankung betroffen sind und vielleicht erst Heavy User werden, früher zu erfassen.

Nach der Darstellung der Problematik und Fragestellung folgen ein allgemeiner Teil und ein Grundlagenteil. Zur Einleitung dessen erfolgt ein kurzer geschichtlicher Abriss. Es erfolgt dann eine Darstellung der verschiedenen Krankheitsmodelle, die einen Bezug zum Heavy User und einen medizinischen Rahmen herstellen. Die epidemiologischen Aspekte, der Verlauf, die Symp- tomatik, Diagnostik, Klassifikation und Behandlung der Schizophrenie sowie die Darstellung des psychiatrischen Versorgungssystems und auch die Frage der Stigmatisierung dienen der Vertie- fung der Problematik, insbesondere in Bezug zum Heavy User, da dieser in allen Aspekten eine Herausforderung darstellt.

Als Studien-Design wird eine Fall-Kontroll-Studie mit retrospektivem Untersuchungsmodus ver- wendet. Vorab werden eine Heavy User-Gruppe und eine Normal User-Gruppe definiert. Es sol- len dann retrospektiv über einen Zeitraum von vier Jahren soziodemographische, medizinische und klinische Faktoren der beiden untersuchten Gruppen erhoben und mithilfe bewährter statisti- scher Methoden verglichen werden. Die Ergebnisse sollen dann interpretiert werden und der Ver- gleich mit den o.g. fünf anderen Untersuchungen über schizophrene Heavy User erfolgen. Mithil- fe des ausführlichen Vergleichs und der Darstellung der Relevanz von Heavy Use unter psychoti- schen Erkrankten sollen die Schlussfolgerungen für die Medizin und Gesundheitspolitik erfolgen.

Vor dem Hintergrund einer zunehmend sektorübergreifenden Patientenbehandlung sollen die möglichen Ergebnisse dieser Arbeit dann zukünftigen Entwicklungen und Ansätzen weiterer Ver- besserungen psychiatrischer Arbeit als Ausgangspunkt dienen.

(13)

2 Allgemeiner Teil, Grundlagen

2.1 Entwicklung der Schizophrenie - frühere Krankheitsbegriffe

In den antiken Hochkulturen und auch bei den Naturvölkern kannte man noch keine eigene Lehre der Geisteskrankheiten. Krankheiten wurden als metaphysische Phänomene, die man wenig beeinflussen könne, aufgefasst (Assion, 2005).

Im Mittelalter sporadisch und in der Renaissance etwas verstärkt sind zum ersten Mal mehr oder weniger Krankenhäuser mit sog. Irrenabteilungen zu verzeichnen, was im Gegensatz zu der Krankheitslehre, psychotische Menschen seien besessen, v.a. Frauen seien Hexen, als ein verhältnismäßiger Fortschritt zu sehen war (Ackerknecht, 1985).

Im weiteren Verlauf, namentlich im 16. und 17. Jahrhundert, war eine Tendenz zu spüren, die in Richtung (der Zeit) der Aufklärung führte, indem die Hexen und vom Teufel Besessenen in den Hintergrund traten, wobei psychisch Kranke nunmehr als Randfiguren oder Asoziale aus- gegrenzt wurden. Psychiatrien waren demnach eher Obdachlosenheime, kirchliche Privatan- stalten und Teile von Gefängnissen (Ackerknecht, 1985).

Im 18. Jh. setzte sich der Rationalismus durch, eine neue Art zu denken entstand, sodass eine allgemeine Wissenschaft als solche zu existieren begann, die allen Phänomenen mit Logik und Forschung begegnen wollte. Somit entfielen gleichzeitig die Mystifizierung und die Aus- grenzung psychisch Kranker. Die Psychiatrie wurde zu einer Disziplin, die sich mit Präventi- on, psychosozialen Umgebungsfaktoren oder Entstehungsbedingungen beschäftigte.

Die romantische Psychiatrie im 19. Jh., die vor allem in Deutschland blühte, beschäftigte sich tendenziell mit dem Nebulösen (z.B. Träume), dem Mysterium einer Seele im Menschen, als Kontrapunkt zur Idee der Dominanz der Ratio. Einige Psychiater waren gleichzeitig Dichter (Schott und Tölle, 2006).

Zum Ende des 19. Jh. ist als besonders wichtig die sog. „Entartungs- oder Degenerationsleh- re“ hervorzuheben. Sie wurde neben vielen anderen von Kraepelin (1856-1926) beschrieben und bezeichnet das, was man generationsübergreifenden progressiven seelischen Verfall nen- nen würde. Leider wurde dieses Konzept von den Nationalsozialisten in abgewandelter Form aufgenommen (Schott und Tölle, 2006).

Mit Freud (1856-1939) und dessen Konzeption von der Entstehung von psychischen Krank- heiten erwachte eine Perspektive, die größtes Gewicht auf die individuelle Entstehungsge- schichte legte, und die für diese Zeit revolutionär war. Die wissenschaftliche Entdeckung, dass es neben dem Bewusstsein, einen unbewussten Teil in der Psyche mit wenig zu über- schätzendem Einfluss auf das Seelenleben, gibt, eröffnete eine sich bis heute hinziehende ei-

(14)

gene wissenschaftliche Denk- und Herangehensweise – die Psychoanalyse. Der Behavioris- mus, ebenso entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vertrat eine gegenteilige Position, die v.a. vom beobachtbaren Verhalten ausging. Vorreiter war Watson (1878-1958). Heute spricht man u.a. von Verhaltenstherapie bzw. kognitiver Verhaltenstherapie (Ackerknecht, 1985).

Mit Jaspers (1883-1969) wird von vielen der Autoren der eigentliche Beginn moderner me- thodisch-reflektierter Forschung konstatiert. Seine „Allgemeine Psychopathologie“ (1913) erlangte große Berühmtheit. Jaspers´ Zugang war phänomenologisch und an einer Philosophie orientiert, die das Bewusste und Sichtbare hervorhob, so dass bei ihm Psychodynamik wenig Eingang fand. Er verließ die Psychiatrie mit 32 Jahren.

Schneider als Zeitgenosse Jaspers‘ (1887-1967) kann als ein Vorreiter der heutigen operatio- nalisierten psychiatrischen Diagnostik gesehen werden. Das erste Klassifikationssystem DSM bezog ihn eingehend mit ein. Sein Hauptwerk ist die „Klinische Psychopathologie“.

Parallel, ebenso in den fünfziger Jahren, entwickelte sich mit den neuen Möglichkeiten der Psychopharmakologie – Chlorpromazin 1952, Haloperidol 1958 (Ackerknecht, 1985), der bildgebenden Verfahren, der neurochemischen und neurophysiologischen Ansätze und der Molekulargenetik ein biologischer Forschungsansatz, der im Verlauf bis heute immer weiter verfeinert wurde. In den letzten Jahrzehnten bis heute konnte man weltweit zu einer besseren Vereinheitlichung der psychiatrischen Sprache kommen, indem die operationalisierte Diag- nostik in Europa als ICD und im angloamerikanischen Raum als DSM ihren Platz einnahm.

2.2 Krankheitsmodelle Einleitung:

Grundlage einer jeden Krankheit, bzw. deren Therapie ist ein Modell, auf dessen Grundlage man diagnostiziert, therapiert und forscht. Dieses Modell sollte empirisch geprüft und im wis- senschaftlichen Kontext wiederholbar sein. Heutzutage gilt als erfolgreichster Ansatz das bi- opsychosoziale Modell, welches als integrativstes gilt, alsdann die Summe verschiedener Per- spektiven am ehesten den komplexen Vorgängen psychiatrischer Krankheitsbilder entspricht (Gaebel, 2002). Dieses Modell kann ebenso als Erklärungsgrundlage für Heavy User mit einer psychotischen Erkrankung dienen.

2.2.1 Biopsychosoziales Modell

Dieses Modell geht von einer wechselseitigen Interaktion der Biologie des Individuums, des- sen Psyche und seiner Umwelt aus. Jeder Faktor kann als Ursache, mitbedingend für den

(15)

Krankheitsverlauf und als Krankheitsfolge gesehen werden. Dies gilt auch für die psychoti- schen Erkrankungen. (Schüssler, 2002). Damit eng verzahnt ist das Vulnerabilitäts-Stress Modell. Alle psychischen Störungen zeigen ein unvollkommene Konkordanz (80% oder ge- ringer) bei monozygoten Zwillingspaaren. Dies kann als Beweis dafür gesehen werden, dass Gene allein nicht die Ursache einer Erkrankung sind (neben den Genen gibt es Embryonal- entwicklungsstörungen und Geburtskomplikationen, die als sogenannte Vulnerabilitätsindika- toren gelten). Die schizophrene Psychose entsteht als Folge einer reduzierten bzw. überlaste- ten kognitiven, emotionalen und autonomen biologisch-psychischen Verarbeitungskapazität.

Das Individuum, d.h. dessen mentaler Apparat, bricht bei einem bestimmten Level an Stress zusammen und es kommt zur psychotischen Dekompensation. Die statistisch weitaus häufigs- ten Stressereignisse sind Konflikte in Partnerschaft und Familie (Häfner, 2005). Da Heavy User, wie einleitend dargestellt, neben sozialen oder anderen Faktoren, als schwerer erkrankt gelten, ist davon auszugehen, dass einer oder mehrere Parameter vulnerabler, d.h. anfälliger für Krankheit, sind. In den folgenden Abschnitten werden die möglichen bedingenden biolo- gischen, psychischen oder sozialen Komponenten (des biopsychosozialen Modells) eingehen- der betrachtet.

2.2.2 Psychisches Modell

Es gibt neben anderen zwei dominierende Modelle, die auf verschiedenen Grundannahmen basieren. Das ist erstens das psychodynamische Modell und zweitens das kognitiv- behaviorale Modell.

Die psychodynamische Sichtweise ist biographisch orientiert, bringt dabei aber natürlich der mitgebrachten Konstitution des heranwachsenden Menschen keine geringe Beachtung bei. Sie ist v.a. an individuellen psychologischen Parametern der Krankheitsentwicklung interessiert und arbeitet interpretativ (Gaebel, 2002).

Später, nach Freuds Entdeckung des Unbewussten und dem Einfluss der frühkindlichen Ent- wicklung auf die spätere Persönlichkeit bzw. dem Einfluss der erziehenden Eltern, kam zuerst Fromm-Reichmann (1950) und folgend andere Psychoanalytiker (Rosen, Sullivan) mit dem Modell der „schizophrenogenen Mutter“ auf, die durch Überfürsorglichkeit und dominieren- des Verhalten ihre Söhne immer tiefer in eine Fehlentwicklung getrieben hätte, die sodann in einer Psychose enden müsse. Es folgten eine Reihe theoretischer Weiterentwicklungen.

Eine dieser Weiterentwicklungen war die sog. „Double-Bind-Theory“, 1956 von dem ameri- kanischen Psychiater und Kommunikationsforscher Bateson und Kollegen konzipiert, die

(16)

davon ausgeht, dass, wenn kommunizierte Botschaften in z.B. Ausdruck und Sprache, also auf verschiedenen Kommunikations- oder Beziehungsebenen inhaltlich differieren, es beim Kind Misstrauen und Verwirrung stiftet. Die Reaktion des Kindes kann folglich nicht voll- ständig passend sein, da nur auf eine der beiden oder mehreren Ebenen richtig, auf die andere oder die anderen zwangsläufig falsch reagiert werde. Die Amerikaner prägten den Ausspruch

„damned-if-you-do-and-damned-if-you-don´t“ Die Theorie konnte nie hinreichend bestätigt werden, wenngleich es als unspezifischer Risikofaktor gilt (Otte und Rädler, 2003).

Benedetti (1920-2013) mit seinem Hauptwerk „Todeslandschaften der Seele“ (Benedetti, 1983) und Mentzos (1930-2015) mit „Psychodynamische Modelle in der Psychiatrie“ (Men- tzos, 1991) können ferner als bedeutende Forscher psychoanalytischer Psychosebehandlung gesehen werden.

Die kognitive Verhaltenstherapie geht von den Grundannahmen fehlgelenkter Informations- verarbeitung mit Wahrnehmungsstörungen, irrationalen Überzeugungen und dysfunktionalen Schemata der Kognitionen und Emotionen mit den Folgen von psychotischer Symptomatik aus, deren Ursachen ebenso in der biographischen Entwicklung zu suchen sind (DGPPN, 2005). Sie hat aufgrund einer besseren Studienlage eine vorrangige Empfehlung gegenüber der psychodynamischen Behandlungsmethode in der Psychotherapie der psychotischen Er- krankungen (Morrison et al., 2014).

Kritisch ist anzumerken, dass psychologische Theorien nicht als alleinige Ursachen hinrei- chen können, sondern als Möglichkeit oder Teilaspekt gesehen werden müssen. Unreflektierte und ungerechtfertigte Schuldzuschreibungen an die Eltern können die Folge sein. Was man aber heute definitiv weiß, ist, dass eine Atmosphäre von Ablehnung, Kälte und mangelnder Unterstützung innerhalb der Familie die Auslösung und Verlaufsweise der Erkrankung beein- flussen kann, wenn eine genetische Vulnerabilität besteht. Es sei hier auf das zusätzlich Kon- zept der „expressed emotion“ verwiesen, dass einen familiären Kommunikationsstil be- schreibt, in welchem überkritisch und bzw. oder entmündigend und letztlich feindselig intera- giert wird (Otte und Rädler, 2003).

Der Krankheitsverlauf der Heavy User findet hier, ausgehend vom biopsychosozialen Modell, einen Teil der Ursachen.

(17)

2.2.3 Biologische Sichtweise

Das biomedizinische Modell mit seiner naturwissenschaftlichen Grundlage geht von der An- nahme aus, physikochemische Vorgänge bedingen letztlich alles Psychische, beziehungsweise deren Deviation (Gaebel, 2002).

2.2.3.1 Genetik

Ihren Ursprung nahm die Genetik in Darwins (1809-1882) Evolutionstheorie und in den von Mendel (1822-1884) entdeckten Gesetzen der Vererbung. Leider führte dies zunächst dazu, dass eine bereits 1853 von Morel formulierte eigene Lehre innerhalb der Psychiatriegeschich- te, die sog. „Degenerationslehre“, in der es heißt, psychische Krankheiten perpetuieren von einer Generation zur nächsten und nehmen sogar an Stärke zu, Unterstützung und eine wis- senschaftliche Basis fand (Häfner, 2005). Diese Lehre fand ihren fragwürdigen Höhepunkt in den eugenischen Bewegungen in Deutschland, den USA, der Schweiz, Frankreich, England und in den skandinavischen und weiteren Ländern noch vor dem und während des 2.Weltkrieges. Als Beispiele sind „Eugenic Booths“ und Heinrich Himmlers „Lebensborn“- Bewegung zu nennen, in denen es um die Züchtung von „reineren“ Menschen mit Mitteln der Zwangssterilisation, Aussetzung oder Tötung ging (Häfner, 2005).

Gleichwohl ist seit langem bekannt, dass es familiäre Häufungen psychischer Erkrankungen gibt. Molekularbiologen sind heute in der Lage, bestimmte Genloci zu identifizieren, die das Auftreten einer psychischen Erkrankung zumindest beeinflussen. Man überlegt, ob genetische Fehlsteuerung z.B. Zellmigration oder Synapsenbildung während der Entwicklung negative Einflüsse haben. Die indirekten, seit Jahrzehnten praktizierten Methoden sind Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien. Beispielsweise weiß man heute, dass der biologische Ver- wandtschaftsgrades mit der Inzidenz und der Stärke der Ausprägung der Krankheit korreliert (Winn, 2000).

Aus Familienstudien geht hervor, dass die Wahrscheinlichkeit an einer schizophrenen Psy- chose zu erkranken, für einen genetisch Vorbelasteten höher ist im Gegensatz zu jemandem ohne Vorbelastung. Sie beträgt in der Allgemeinbevölkerung, unabhängig von Land und Kul- tur, ca. 1% weltweit. Ist ein Elternteil erkrankt, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für das Kind auf 12%, sind es beide, steigt sie auf 40%. Ähnlich ist es mit Zwillingen und Geschwis- tern. Ist ein Geschwisterteil erkrankt, ist die Wahrscheinlichkeit bei einem weiteren 10%, bei zweieiigen Zwillingen 15% und bei eineiigen 40%. Nimmt der genetische Verwandtschafts-

(18)

grad auf Verwandte zweiten Grades wie Onkel und Neffen bspw. ab, sinkt die Wahrschein- lichkeit auf 4% (Bäuml, 2008).

Viele groß angelegte Studien des letzten Jahrhunderts belegen einen weiteren wichtigen Punkt, dass nicht die schizophrene Psychose an sich vererbt wird, sondern, dass biologische Angehörige eher durch Auffälligkeiten innerhalb eines psychotischen und eines nicht- psychotischen Spektrums charakterisiert werden können. Von der voll ausgebildeten schizo- phrenen Psychose über schizoaffektive Psychosen bis hin zur schizoiden Persönlichkeit und subklinischen Störungen bzw. Normvarianten (z.B. unterhalb der Krankheitsschwelle liegen- de leichte kognitive Dysfunktionen oder eine erhöhte emotionale Reagibilität) finden sich alle Kontinuitätsstufen hochsignifikant gehäuft. Dies belegt einen weiteren wichtigen Punkt, näm- lich, dass die Schizophrenie kein monogenes Übertragungsgeschehen darstellt, sondern aus einem komplexen Pool verschiedener (genetischer) Dysfunktionen gespeist wird, angefangen bei neuropsychologischen Deviationen von der Norm (am relativ deutlichsten in den Berei- chen verbales Gedächtnis, exekutive Funktionen und Aufmerksamkeit) bis hin zu paranoiden und halluzinatorischen Symptomen. Neurophysiologisch zeigen sich ebenso Deviationen. Die Molekulargenetik (der Schizophrenie) ist noch kein altes Forschungsfeld, und bedarf daher noch viele Jahre weiterer Entwicklung, um der Komplexität des Themas gerecht zu werden.

Polygene Vererbung, Suszeptilitätsgene (sog. Risikogene) im Gegensatz zu kausalen Genen bei monogenem Erbgang (z.B. Chorea Huntigton), Genkopiezahlvariante (=CNVs) und Um- gebungsfaktoren (Schwangerschaft und Geburt, familiäre und soziale Faktoren, „Life Events“) beeinflussen die Morphologie und Funktion im mikroskopischen und im makrosko- pischen Bereich des später an Schizophrenie Leidenden. Der aktuelle Forschungsstand ist, dass man Kandidatenregionen der DNA mit mittlerweile einigen identifizierten Suszeptilitäts- genen kennt bzw. weiß, dass diese Endphänotypbefunde beeinflussen (Wagner und Petrovsky, 2010).

2.2.3.2 Funktionell-biologische Sichtweise

Generell lässt sich behaupten, dass sich bei psychiatrischen Erkrankungen, nicht wie in tradi- tioneller Sichtweise, wenngleich auch mit modernen Methoden, ein so eindeutiges organi- sches Korrelat, wie bei den klassischen degenerativen Hirnkrankheiten, zur klinischen Symp- tomatik finden lässt. Als Beispiele seien der Morbus Parkinson oder Chorea Huntington ge- nannt. Gleichwohl weiß man heute, dass die Strukturen, die zu schizophrenieformer Sympto- matik führen, bzw. deren pathologische Alteration, im limbischen Endhirnsystem (Hippo- kampus, Amygdala, Orbitalhirn) und den damit funktionell eng verbundenen neokortikalen

(19)

Assoziationsarealen liegen. Dieses (limbische Endhirnsystem) liegt phylogenetisch zwischen dem Neokortex und dem sehr alten Septum-Hypothalamus-Hirnstamm-Bereich. Ersteres ist mit dem „Über-Ich“ im weitesten psychoanalytischen Sinne und Zweiteres mit dem „Es“ as- soziiert worden, bzw. diese funktionelle Dreiteilung zeigte eine erstaunliche Parallele zu Freuds „Drei-Instanzen-Modell“, sodass das „Ich“ in das limbische System verlagert würde.

Studien zu Hirnläsionen oder Tumoren in diesem System, die dementsprechend zu Psychosen führten, unterlegten dies beispielhaft (Bogerts, 2002). Nach Bleuler bestünde also ein Defekt in der Vermittlungsinstanz zwischen (archaischen) Emotionen und (höheren) Kognitionen.

Was mittlerweile ebenso als gesichert gilt, ist, dass an Schizophrenie Erkrankte ein durch- schnittlich verringertes Hirnvolumen haben, v.a. im fronto-parietalen Kortex, im Temporal- lappenbereich und im Thalamus sowie eine Erweiterung der Ventrikelsysteme. Das Ausmaß der Liquorraumerweiterung korreliert mit der Krankheitsschwere. Zahlreiche MRT-Studien fanden ebenso subtile Strukturdefekte in diesen Regionen. Eine Volumenminderung frontopa- rietal geht dabei eher mit Negativ-, eine Minderung in den temporolimbischen Regionen eher mit Positivsymptomatik einher. Auf biochemischer Ebene sind bei Wahn und Halluzinationen besonders die Dopaminfunktion und die Rezeptoren beeinträchtigt. Eine intrauterine Fehlver- netzung der entsprechenden Hirnregionen gilt als einflussreiche Hypothese. Zusammenfas- send lässt sich behaupten, dass es auf makroskopischer und auf mikroskopischer Ebene hirn- morphologische Veränderungen gibt, die aber vielmehr als Vulnerabilitätsfaktoren und nicht als Krankheitsursache zu sehen sind (Braus et al., 2010).

Verfolgt man die Krankheitsbilder auf einer biochemischen Ebene, kommt man zu den Neu- rotransmittern als einer möglichen Ursache psychiatrischer Krankheitsbilder, insbesondere der schizophrenen Psychose. Zum einen gibt es die Dopaminhypothese, die von einer „dopami- nergen Hyperaktivität“ in den o.g. Systemen ausgeht. Es gibt bislang fünf bekannte Rezep- torsubtypen, wobei man relativ gesichert davon ausgeht, dass die Blockade der Subtypen D2, D3 und D4 eine antipsychotische Wirkung hat. Die Glutamathypothese geht von einem Hy- pometabolismus in Teilen (Teile des frontalen und temporalen Kortex) der o.g. Systeme aus.

Gleichwohl sind Mono-Neurotransmittertheorien nach heutigen Kenntnissen nicht mehr halt- bar (Thome und Riederer, 2002). Ein weiterer gesicherter Einflussfaktor auf die Zeit, bzw. das Lebensalter des Krankheitsausbruchs und auf die Krankheitsschwere ist das weibliche Sexu- alhormon Östrogen. Bekanntermaßen erkranken Frauen im „jungen Alter“ später, und nach der Menopause kommt es zu einem Inzidenzschub. Eine Häufung postpartaler Psychosen und menstruationszyklusbegleitende Krankenhausaufenthalte unterstützen die Hypothese der Schutzwirkung von Östrogen (Häfner, 2005).

(20)

Weitere Forschungsgebiete sind die Psychoneuroimmunologie, Zusammenhänge zwischen dem Neuroendokrinum und psychischen Störungen oder psychophysiologische Grundlagen psychiatrischer Erkrankungen.

Zusammenfassend ist auch hier für Heavy User, ausgehend vom biopsychosozialen Modell, eine erhöhter genetisch-biologische Vulnerabilität wahrscheinlich, in jedem Fall für einen Teil der Heavy User. Biologische Theorien sollten, ebenso wie psychologische, nicht als alleinige Ursache gesehen werden.

2.2.4 Soziale Ursachen

Eindeutige und belegte Risikofaktoren aus diesem Bereich sind eine größerer Belastung der Arbeits- und Ausbildungssituation und eine schwächeres supportives soziales Netzwerk (Schultze-Lutter und Ruhrmann, 2008). Des Weiteren ist bekannt, dass eine Atmosphäre von Ablehnung, Kälte und mangelnder Unterstützung innerhalb der Familie die Auslösung und Verlaufsweise der Erkrankung beeinflussen kann, wenn eine genetische Vulnerabilität be- steht. Dieses bereits genannte Konzept der „expressed emotion“ beschreibt einen familiären Kommunikationsstil in welchem überkritisch und bzw. oder entmündigend und letztlich feindselig interagiert wird (Otte und Rädler, 2003).

Des Weiteren wurde die „social-causation“-Hypothese aufgestellt, in der man davon ausgeht, dass sozial benachteiligte Schichten häufiger kritischen und belastenden Lebensereignissen ausgesetzt sind (z.B. Arbeitslosigkeit) und weniger soziale Unterstützung zur Verfügung ha- ben, was höheren Stress und somit eine erhöhte Anfälligkeit für Schizophrenie bedeutet (Cooper, 2005; Kwok, 2014). Die „social-drift“-Hypothese zielt in eine ähnliche Richtung, laut derer bereits prämorbide Beeinträchtigungen im sozialen, kognitiven und emotionalen Bereich dazu führen, dass an Schizophrenie Erkrankte sukzessive sozial absteigen und somit höherem Stress ausgesetzt werden, welcher in der Folge wieder zu einer erhöhten Anfälligkeit für Schizophrenie führt (Hudson, 2005).

Das bereits genannte Vulnerabilitäts-Stress Modell bezieht ebenso soziale Ursachen mit ein.

Die schizophrene Psychose entsteht als Folge einer reduzierten bzw. überlasteten kognitiven, emotionalen und autonomen biologisch-psychischen Verarbeitungskapazität. Das Individuum, d.h. dessen mentaler Apparat, bricht bei einem bestimmten Level an Stress zusammen und es

(21)

kommt zur psychotischen Dekompensation. Die statistisch weitaus häufigsten Stressereignisse sind Konflikte in Partnerschaft und Familie, d.h. (psycho-)soziale Ursachen (Häfner, 2005).

Zusammenfassend ist auch hier für Heavy User, ausgehend vom biopsychosozialen Modell, eine schlechtere soziale Einbindung für einen Teil der Erkrankten verantwortlich.

2.3 Epidemiologie der Schizophrenie

Jährlich erkranken weltweit unabhängig vom sozioökonomischen Status zwischen 11 und 20 Personen von je 100.000 Einwohnern neu an Schizophrenie, d. h. die Jahresinzidenz liegt bei 0,01 % bis 0,02 %. In Deutschland werden nach der aktuellen Gesundheitsberichterstattung des Bundes pro Jahr etwa 19 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner diagnostiziert; d. h.

bei einer Einwohnerzahl Deutschlands von 82,3 Millionen ist im Jahr mit etwa 15.600 neu diagnostizierten Schizophrenieerkrankungen zu rechnen (Gaebel und Wölwer, 2010). Für Deutschland gilt ferner eine 12-Monatsprävalenz aller psychotischen Erkrankungen von 2,4%

in der Gesamtbevölkerung bei einer Gesamterkrankungsrate an psychischen Störungen von 33,3% (Wittchen und Jacobi, 2012).

Die Lebenszeitprävalenz, also das Risiko mindestens einmal im Leben an Schizophrenie zu erkranken, liegt in der Altersgruppe der 15- bis 60-Jährigen weltweit je nach Weite der Diag- nosekriterien zwischen 0,7 % und 1,4 % und wird durchschnittlich mit 1 % angegeben. Dies bedeutet, dass im Durchschnitt eine von hundert Personen irgendwann in ihrem Leben eine schizophrene Episode erlebt. Bedingt durch den hohen Anteil rezidivierender und chronischer Verläufe der Erkrankung liegt auch die Jahresprävalenz, d. h. der Anteil derjenigen Personen, die während eines Jahres mindestens einmal die Diagnose-Kriterien einer Schizophrenie F20 gemäß ICD-10 erfüllen, nur unwesentlich niedriger: Eine Metaanalyse von 24 nationalen (in- klusive drei deutschen) und drei transnationalen Bevölkerungssurveys aus europäischen Län- dern weist in der Gruppe der 18- bis 65-Jährigen auf eine Jahresprävalenz von Schizophrenie von 0,8 % bis 0,9 % hin (Gaebel und Wölwer, 2010).

Die epidemiologisch ferner sehr wichtige Global Burden of Disease (GDB)-Studie der WHO wurde im ersten Kapitel im zweiten Abschnitt dargelegt.

Es bestehen nach heutigem Kenntnisstand keine transkulturellen (ebenso wenig klimazonen- abhängige) Unterschiede bzgl. der Häufigkeit, im Leben an einer Schizophrenie zu erkran- ken. Unterschiede zwischen entwickelten und Entwicklungsländern bestehen lediglich in der Symptomatologie und im Verlauf (Häfner, 2005).

(22)

Gleichwohl gibt es mehrere große Studien seit den sechziger Jahren, denen zufolge u.a. in den USA, Dänemark, Deutschland, den Niederlanden ein relativ höheres Risiko besteht, an einer Schizophrenie zu erkranken, wenn man in einer großen Stadt wohnt, und das umso mehr, je weiter zentral man wohnt. Ebenso ist eine Zugehörigkeit zur bildungsfernen Schichten zu beobachten, wobei diese Hypothesen jedoch auch als Folge der Erkrankung und nicht als ätio- logischer Faktor betrachtet werden können und vielleicht sogar müssen („Drift Hypothese“, s.o.). Migration von psychisch Kranken in die Städte sei als Beispiel genannt. Unterschiede bestehen ebenso im Einfluss von Alter und Geschlecht auf das Erkrankungsrisiko. Das Ge- samtlebenszeitrisiko von Männern und Frauen soll nach aktueller Studienlage gleich sein.

Unterschiede sind aber in jedem Fall, dass Männer im jungen Alter zwischen 15 und 25 Jah- ren ca. 3-4 Jahre früher und auch häufiger erkranken, Frauen aber im Alter zwischen 40 und 50 Jahren einen deutlichen Gipfel zeigen. Frauen haben somit bei Ersterkrankung und beim 2.Gipfel, da sie bei Erkrankung oft schon Familiengründung und Berufsausbildung abge- schlossen haben, eine bessere Ausgangslage für die Prognose. Man konstatierte auch schon saisonale Unterschiede, dass in der kalten Jahreszeit geborene Kinder später eher an einer schizophrenen Psychose erkranken würden. Dies blieb aber nicht unangefochten. Man ver- suchte ferner, Unterschiede in verschiedenen Ethnien festzustellen, was zum Teil gelang, zum Teil aber auch eindeutig widerlegt wurde (Haasen, 2003).

2.4 Psychiatrisches Versorgungssystem

Geschichtlich betrachtet wurden vom Mittelalter bis weit in das 20. Jahrhundert hinein psy- chisch Kranke (die damaligen Bezeichnungen differieren) meistens weit außerhalb der norma- len Bevölkerung u.a. regelrecht verwahrt. Der Staat sah darin kaum einen Teil seiner Aufgabe (Regus, 1998). Noch 1930 betrug die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in württembergi- schen Heil- und Pflegeanstalten ca. 8.5 Jahre. Hohe Mauern und vergitterte Fenster der ge- schlossenen Stationen waren obligat. In der ersten Hälfte des 20. Jh. verbrachten bis zu 65 Prozent von Erstaufgenommenen länger als ein Jahr in einer Einrichtung bzw. einem Kran- kenhaus. Dies ist heute nahezu nie mehr der Fall (Häfner, 2005).

Mit der „Enquête der 200“ des Bundestages 1975, dem anschließenden Bundesmodellpro- gramm 1988 (BMJFFG 1988) und weiteren Expertenempfehlungen wurde die Versorgung psychisch Kranker eine moderne. Tageskliniken, Wohnheime und beschützte Wohngruppen, Werkstätten und sozialpsychiatrische Dienste sowie berufliche Rehabilitation wurden deutschlandweit gefördert (Crefeld, 1998).

(23)

Nicht zu vergessen, wenngleich schon 1952 entwickelt und als eigentliche Wende im medizi- nischen Behandlungssystem zu sehen, ist das in Frankreich entdeckte und eingeführte erste Neuroleptikum Chlorpromazin. Wenig später gelang es Delay und Deniker, den dramatischen Effekt in der Symptomreduktion von Psychosen zu demonstrieren (Colasanti, 2000).

Die Psychiatrie-Enquête 1975 war die große Reform in der Versorgung psychisch Kranker.

Sie gründete sich auf folgenden Prinzipien: psychisch Kranke sollten in ihrem Anspruch auf gesundheitliche und soziale Hilfen anderen Kranken gleichgestellt werden und die Versor- gung sollte gemeindenah stattfinden, klinisch in Allgemeinkrankenhäusern sowie multiprofes- sionell. Die Konsequenzen waren, dass über den Arzt hinaus psychotherapeutische, sozio- und ergotherapeutische und pflegerische Berufsgruppen an der Versorgung teilnahmen. Zu- dem wurde das veraltete Entmündigungs- und Pflegschaftsrecht durch das Betreuungsgesetz (eine 1992 in Kraft getretene grundlegende Reform hat die Betreuung als neues Rechtsinstitut des Zivilrechts eingeführt) ersetzt. Die sog. „Empfehlungen der Expertenkommission“ 1988 waren eine Fortentwicklung dessen. Die etablierte psychosoziale Versorgung wurde dahinge- hend optimiert, dass v.a. chronisch psychisch Kranke und chronisch Suchtkranke vermehrt Unterstützung erhielten.

Psychiatrische Versorgung aus heutiger Sicht muss daher ein fester Bestandteil gesundheits- und sozialpolitischer Planung sein. Daran beteiligt sein sollten Wohlfahrtsverbände, Kranken- hausträger und Krankenhäuser, kommunale Ämter (z.B. das Sozialamt, das Ordnungsamt, das Arbeitsamt), Angehörigenverbände oder Selbsthilfegruppen sowie niedergelassene Ärzte. Um über die institutionellen Grenzen eine Koordination zu ermöglichen, entstanden die Sozial- psychiatrischen Dienste.

Die Dienste sollten sektorisiert und mobil-aufsuchend sein und sich v.a. dem Hilfsbedarf der Klientel und nicht umgekehrt anpassen. Hilfsangebote für Angehörige und Bezugspersonen sowie tagesstrukturierende Angebote sind ebenso fester Bestandteil (Crefeld, 1998).

Des Weiteren wurde die Rehabilitation psychisch Kranker etabliert. Dabei geht es um Rehabi- litationsbedürftigkeit, -fähigkeit, -ziel und -prognose. Nicht zuletzt aus Kostengründen solle dies schon während der Akutbehandlung im Krankenhaus geschehen. Arbeitsunfähige Versi- cherte können zur Wiedereingliederung in das Erwerbsleben z.B. schrittweise über das Ham- burger Modell § 74 SGB V im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung in das Er- werbsleben eingeführt werden. Bei schwer schizophren Erkrankten gibt es die Möglichkeit der ambulanten Soziotherapie als Krankenkassenleistung nach § 37 A SGB V.

(24)

Der Rentenversicherungsträger ist gemäß § 10 SGB VI zuständig, wenn es darum geht, medi- zinische Rehabilitation anzubieten, bevor es zu einem massiven Abfall aus dem Erwerbsleben kommt. „Reha vor Rente“ ist der Grundsatz.

Weiterhin gibt es die sogenannte Eingliederungshilfe nach den §§ 53,54 SGB XII, wobei es insbesondere um Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, z.B. Hilfe bei basa- len Dingen wie dem Wohnungserhalt oder dem Einkaufen, ferner um Schulausbildung und die bleibende Teilhabe am Arbeitsleben geht (Irle, 2007).

Wohnen und Rehabilitation: Man schätzte 1996, dass ca. die Hälfte der aus stationären Be- handlungen entlassenen Schizophrenen Hilfe bei der Wohnungs- und Wohnsituation benötig- ten. Heute gilt, dass chronisch psychisch Kranke je nach Schweregrad in betreutes Einzel- wohnen, betreute Wohngemeinschaften, Wohn- oder Pflegeheime eingegliedert werden. Zu- sätzlich gibt es sog. Übergangseinrichtungen und sozialtherapeutisches Wohnen (z.B. für Doppeldiagnosen F2 und F1 gemäß ICD-10). Theoretisches Ziel ist eine stufenweise Wieder- eingliederung über rehabilitative Maßnahmen im weitesten Sinne, wobei es auch um Enthos- pitalisierung geht. Den größten Anteil mit ca. 2/3 der in diesen Einrichtungen lebenden Men- schen stellen solche mit chronifizierten Psychosen dar.

Ressourcenorientierung, Autonomieförderung, ambulante vor stationärer Versorgung, Betreu- ung nach individuellem Bedarf sind die Stichworte für ein modernes adäquates Vorgehen (Moos und Wolfersdorf, 2007).

Ein weiteres wichtiges Kapitel ist die gesetzliche Betreuung psychisch behinderter Menschen.

Dabei gilt der sog. Erforderlichkeitsgrundsatz nach § 1896 BGB, der besagt, dass ein Betreuer nur in den erforderlichen Fällen und in dem insoweit erforderlichen Umfang bestellt werden darf. Ähnliches gilt für das Verhältnis zwischen Betreuer und Betreutem, hier soll ein größt- mögliches Maß an Selbstbestimmtheit beim seelisch behinderten Menschen verbleiben, so- dass im besten Fall dieser Mensch selbständig agiert und der Betreuer lediglich überwacht, bzw. auch eine Anregung der Reduzierung oder Beendigung des Betreuungsverhältnisses an- strebt. Der andere Extremfall ist, wenn ein Betreuer mit allen Aufgabenkreisen einschließlich eines Einwilligungsvorbehaltes betraut ist.

Als ein weiterer wichtiger Punkt der Psychiatrie muss die gesetzliche Unterbringung betrach- tet werden. Nach deutscher Rechtsprechung sind seit ca. 200 Jahren Zwangsunterbringungen möglich. Die Öffentlichkeit vor den „gemeingefährlichen Irren“ zu schützen und auch den

„Blödsinnigen“ vor sich selbst, war lange die Pflicht der Polizei. Als zweite Möglichkeit

(25)

konnte ein „Geisterkranker oder -schwacher“ von seinem Vormund nach dem damaligen Entmündigungsrecht in eine Anstalt eingewiesen werden. In dieser war er aber bis ungefähr zum Ende des 19. Jahrhunderts quasi ohne eigene Rechte. Danach wurden „Irrenschutzgeset- ze“ eingeführt, wenngleich es noch bis 1969 dauerte, bis in Nordrhein-Westfalen das erste PsychKG in Kraft trat. Hiernach werden Personen zum Selbstschutz und zum Schutz der öf- fentlichen Sicherheit bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen gegen ihren Willen in Psychiatrien untergebracht, im Sinne einer öffentlich-rechtlichen Unterbringung. Die zivil- rechtliche Unterbringung nach Betreuungsrecht gem. § 1906 BGB (nach Beantragung durch einen Betreuer, einer ärztlichen Stellungnahme und einer Genehmigung durch ein Gericht) dient dem akuten Selbstschutz des Betroffenen bzw. wenn eine dringende Indikation zu Heil- behandlung besteht. Sie ist nicht Gegenstand polizeilicher Aufgaben (öffentliche Sicherheit).

Dieses Gesetz trat 1992 in Kraft.

Letztlich besteht noch die Möglichkeit der strafrechtlichen Unterbringung in einer forensisch- psychiatrischen Abteilung oder in Maßregelvollzugskrankenhäusern bei krankheitsbedingter verminderter oder aufgehobener Schuldunfähigkeit. Es gilt dabei, dass keine Befristung vor- gesehen ist. Die schrittweise Wiedereingliederung in die Gesellschaft folgt dabei der gut- achterlichen Einschätzung des Gefährdungspotentials für erneute Straftaten (Crefeld, 1998).

2.5 Verlauf und Behandlung der Schizophrenie

Ziel der Behandlung ist die Remission von Krankheitssymptomen sowie eine eigenständige Lebensführung. Neben der weitgehenden Symptomfreiheit und Rückfallprophylaxe zielt die heutige Behandlung auf die Wiederherstellung eines unabhängigen Lebens mit normaler sozi- aler und beruflicher Leistungsfähigkeit, der sog. „Recovery, ab. Neben den pharmakothera- peutischen Verfahren ist die Kombination mit psycho- und sozialtherapeutischen Maßnahmen grundlegend. Zudem erfordert die Komplexität der Erkrankung mit häufigen chronischen oder rezidivierenden Verläufen flexible Gesamtbehandlungspläne und eine Integration der ver- schiedenen Institutionen (stationär, ambulant, soziotherapeutisch) (Gaebel und Wölwer, 2010). Heavy User stellen hier eine besondere Herausforderung dar.

Die Krankheit verläuft in der Regel in mehreren Phasen, welche unterschiedliche Behandlun- gen erfordern. Die Prodromalphase mit unspezifischen Symptomen (z.B. Zurückgezogenheit, Affektverflachung, ungewöhnliche Wahrnehmungserlebnisse, Konzentrationsstörungen) ver- läuft oft über viele Jahre (im Mittel fünf Jahre) vor dem eigentlichen Ausbruch der Erkran-

(26)

kung und bleibt oft unbemerkt oder wird vernachlässigt. Es folgt eine ca. einjährige psychoti- sche Vorphase mit ersten Positivsymptomen (z.B. Wahngedanken).

Die Früherkennung und Behandlung in diesen Phasen ist noch in der Erforschung und Etab- lierung (Schultze-Lutter und Ruhrmann, 2008). Ein international führendes Zentrum ist das 1997 gegründete das Früherkennungs- und Therapiezentrum (FETZ) in Köln.

In der folgenden Akutphase, die dem vollen Ausbruch der Erkrankung entspricht, kommt es in der Regel zur Einweisung in ein psychiatrisches Krankenhaus. Behandlungsziele in der stationären Phase sind neben der Beseitigung und Verminderung von Krankheitssymptomen (vor allem mittels Psychopharmaka) die Etablierung einer therapeutischen Beziehung, Auf- klärung über Krankheit und die Behandlungsmöglichkeiten, Verhinderung von Selbst- und Fremdgefährdung, ferner der Einbezug von Bezugspersonen und anderen Beteiligten, die Verminderung oder Verhinderung von sozialen Folgen der Erkrankung sowie die Vorberei- tung auf die postakute Stabilisierungsphase durch Einleitung rehabilitativer Maßnahmen (DGPPN, 2005; Gaebel und Wölwer, 2010).

Die postakute Stabilisierungsphase sollte der Vertiefung der genannten Aspekte dienen, dar- über hinaus sollten Krankheitseinsicht und Compliance, also die Therapietreue und die Befol- gung ärztlich verordneter Medikamenteneinnahme, Motivation zur Selbsthilfe, Entwicklung individueller Copingstrategien, die Behandlung kognitiver und sozialer Defizite sowie weite- rer Negativsymptomatik (z.B. Affektverflachung, Konzentrationsstörungen, sozialer Rück- zug), Früherkennung drohender Rückfälle, ggf. bestehende Konflikte in Familie und Umwelt vermindern und die Vorbereitung und Weiterführung rehabilitativer Maßnahmen erfolgen (DGPPN, 2005; Gaebel und Wölwer, 2010).

Die Remissionsphase sollte möglichst die letzten Symptome lindern, die soziale Integration mit Verbesserung der Lebensqualität und der beruflicher Rehabilitation fördern, ferner Rück- fallprophylaxe, -früherkennung und -frühintervention sowie Suizidprophylaxe etablieren. Die therapeutische Beziehung und Motivation zur Selbsthilfe sollten weiter vertieft werden (DGPPN, 2005; Gaebel und Wölwer, 2010).

Der Verlauf ist häufig gekennzeichnet von episodisch auftretenden akuten psychotischen Zu- ständen einerseits und andererseits von chronischer Beeinträchtigung mit anhaltenden positi- ven (z.B. Wahn, Ich-Störungen, Halluzinationen) und bzw. oder negativen Symptomen (z.B.

(27)

Antriebsminderung, sozialer Rückzug, Affektverflachung). Kognitive und soziale Einschrän- kungen bestimmen häufig den Langzeitverlauf (Lang et al., 2013).

Der Übergang von der stationären zur ambulanten Behandlung ist gut zu organisieren, da ge- rade in der ersten Zeit nach der Entlassung, insbesondere nach Ersterkrankung, große Unsi- cherheiten bestehen können. Die medikamentöse Therapie sollte vom Patienten eingehalten und ärztlich in ausreichenden Abständen überwacht und bezüglich Wirkung und insbesondere Nebenwirkungen besprochen werden, da gerade die Compliance bzw. Non-Compliance (Nichteinnahme der Medikamente) große Probleme mit hoher Rückfallgefahr darstellen. Den modernen atypischen Antipsychotika sollte gegenüber den konventionellen bzw. typischen Antipsychotika aufgrund einer besseren Wirkung auf Negativsymptomatik und einem weniger erheblichen Nebenwirkungsspektrum der Vorzug gegeben werden (Hasan et al., 2013).

In Abhängigkeit der Schwere der Erkrankung, was insbesondere für Heavy User zutrifft, sind neben den ärztlichen auch psychotherapeutische Maßnahmen zu erwägen, in denen es im Rahmen einer Veränderung des Erlebens und Verhaltens um Rückfallprophylaxe, Verminde- rung der individuellen Vulnerabilität in Verbindung mit Stress- und Krankheitsbewältigung und Förderung sozialer Kompetenzen geht (Gaebel und Wölwer, 2010). In neuerer Zeit wer- den kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren zur Verminderung von Positiv- und Nega- tivsymptomatik beforscht und empfohlen (Morrison et al., 2014). Weitere wichtige Bausteine sind kognitive Rehabilitation, Psychoedukation und Einbeziehung der Angehörigen bzw. Fa- milieninterventionen.

Soziotherapeutische Maßnahmen zielen auf die (Wieder)-Eingliederung des schizophren Er- krankten in die Gesellschaft sowie seine Befähigung zur eigenständigen Lebensführung ab.

Schwer psychisch Kranken, d.h. insbesondere auch Heavy Usern, wird die Teilnahme an der Gesellschaft häufig erst durch Eingliederungshilfe gemäß den §§ 53,54 SGB XII, d.h. betreu- tes Wohnen und bzw. oder eine gesetzliche Betreuung (§ 1896 BGB) und bzw. oder eine mul- tiprofessionelle gemeindepsychiatrische Versorgung ermöglicht. Eine berufliche Rehabilitati- on oder die Arbeitsaufnahme in einer Werkstatt für Behinderte sind nicht selten. (DGPPN, 2013). Eine eingehendere Darstellung findet sich im vorigen Kapitel.

(28)

2.6 Symptomatik, Diagnostik, Klassifikation

Die Schizophrenien sind eine heterogene Gruppe von Erkrankungen, die durch eine Reihe gemeinsamer Symptome bzw. Störungen definiert sind. Die Störungen befinden sich in den Funktionsbereichen Aufmerksamkeit, Denken, Ich-Funktionen, Wahrnehmung, Affektivität, Antrieb und Psychomotorik. Es wird zwischen Positivsymptomatik mit Wahn, Halluzinatio- nen, Ich-Störungen und formalen Denkstörungen, die vor allem die akute Krankheitsphase kennzeichnen und Negativsymptomatik mit Affektverflachung, sozialem Rückzug, Antriebs- störung, Verwahrlosung, Freudlosigkeit usf., die erheblich den Langzeitverlauf (Lang et al., 2013) bestimmen, unterschieden. Ferner kommt es als dritten Aspekt häufig zu einer Vermin- derung der kognitiven Leistungsfähigkeit und Empathie auf allen Ebenen.

Die Negativsymptomatik und insbesondere die kognitive Leistungsfähigkeit schränken die psychosoziale Funktionsfähigkeit, also die Fähigkeit zur selbstständigen Lebensführung er- heblich ein (Gaebel und Wölwer, 2010).

Heavy User mit psychotischen Erkrankungen sind, wie im Verlauf der Arbeit belegt, schwerer erkrankt und haben ein schlechteres psychosoziales Funktionsniveau. Die S3-Leitline „Psy- chosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ zeigt die evidenzbasierten Behandlungspfade (DGPPN, 2013).

Die Diagnose einer psychotischen Erkrankung erfolgt nach Ausschluss (hirn-)organischer Erkrankungen (z.B. Tumore, Stoffwechselerkrankungen, Traumata) und basiert im Wesentli- chen auf der Psychopathologie. Die Unterformen der F2-Diagnosen nach ICD-10 haben ne- ben psychopathologischen ebenso zeitliche Kriterien. Für die Klassifikation wird in Deutsch- land die 10. Revision der Internationalen Klassifikation der Krankheiten zu psychischen Stö- rungen (ICD-10) der WHO, im angloamerikanischen Raum das vergleichbare Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen (DSM-IV) verwendet (Gaebel und Wölwer, 2010). Details finden sich in der einschlägigen Literatur. Für Heavy User mit Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis gilt, dass, da sie, wie im Verlauf der Arbeit belegt, schwerer erkrankt sind, häufiger an den schweren Unterformen leiden.

2.7 Heavy User im Gesundheitssystem

Heavy User haben häufig komplexe medizinische und psychosoziale Probleme, eine hohe Rate an ambulanten und stationären Behandlungen und tragen zu steigenden Gesundheitskos- ten bei (Mercer et al., 2015). Die ungleiche Verteilung der Kosten im Gesundheitssystem ist

(29)

gut erforscht und einschlägig. Nach einer aktuellen amerikanischen Studie nehmen 5% der Bevölkerung 50% der Kosten in Anspruch und die kostenintensivsten 1% benötigen 28% der Gesamtkosten im Gesundheitssystem (Williams, 2015). Eine andere Studie geht von ähnli- chen Zahlen aus, dass weniger als1% der Patienten 21% der gesamten Gesundheitskosten verursachen. Modellprojekte zielen in Richtung der Identifikation und individualisierte Be- handlung sowie Einzelfallmanagement (Collins et al., 2013; Mercer et al., 2015).

Für die psychischen Erkrankungen stellt es sich wie folgt dar. Geschätzte 25% der psychisch kranken Heavy User des hausärztlichen Erstversorgungssystems haben eine depressive Er- krankung (Berghöfer et al., 2012). Patienten mit einer generalisierten Angststörung gelten ebenso als Heavy User der (deutschen) Hausarztversorgung und haben eine 2-3fache Kontakt- frequenz und eine 2-5fach erhöhte Arbeitsunfähigkeitsrate bei signifikant höheren Kosten (Wittchen et al., 2012). Depressionen und Angsterkrankungen rangieren unter den häufigsten psychischen Erkrankungen in Deutschland (Wittchen und Jacobi, 2012). Patienten mit Soma- tisierungsstörungen haben eine doppelt so hohe stationäre Aufnahmerate, eine fast 6fach hö- here Anzahl an Prozeduren in der Poliklink (Schweiz), signifikant mehr Besuche bei Spezia- listen und bei Allgemeinärzten, sowie dreifach höhere Kosten im stationären Sektor und um 50% höhere Kosten im ambulanten Sektor (Frick und Frick, 2008).

Die Schizophrenie, schizoaffektive Psychosen und die schweren affektiven Störungen sind die dominierenden Erkrankungen unter den Heavy Usern mit psychischen Erkrankungen nach Roick et al. (2004b). Zu einem ähnlichen Ergebnisse kamen Stulz et al. (2012), dass schizo- phrene Patienten, gefolgt von Patienten mit bipolaren Störungen und mit Persönlichkeitsstö- rungen den größten Teil der Heavy User ausmachen. Weitere psychosoziale oder krankheits- bedingte Faktoren konnten, wie in vielen Arbeiten, gefunden werden. Ferner ist das Gesund- heitssystem mit seinen verschiedenen Institutionen mit unterschiedlichen Finanzierungen ein mitbedingender Faktor für Heavy Use (Frick und Frick, 2008).

Im Allgemeinen gilt, wie bereits oben genannt, die Regel, dass 10-30% der gesamten psychi- atrischen Patienten als Heavy User identifiziert werden und diese 50-80 % der Ressourcen benötigen. Beispielsweise wurden, wie genannt, zwei umfangreiche Literaturreviews von Kent et al. (1995) (200 identifizierte Publikationen, 72 beschrieben) und Roick et al. (2002a) (250 identifizierte Publikationen, 105 beschrieben) dazu durchgeführt. Daran hat sich auch bis heute wenig verändert, wie neuere Forschungen bei Graca et al. (2013) und Frick et al.

(2013a) belegen.

Die sich daraus ergebenden Konsequenzen in Form einer spezifischeren Diagnostik und Be- handlung werden in den Schlussfolgerungen für die klinischen Praxis (Kapitel 5.3.3) abge-

(30)

handelt. An dieser Stelle sei vorweggenommen, dass im deutschen Raum, um die Versorgung psychisch kranker Menschen entsprechend weiterzuentwickeln, gilt, dass aktuell jedes Bun- desland gemäß § 64b SGB V verpflichtet ist, ein Modellprojekt zur Weiterentwicklung der Patientenversorgung zu etablieren. Die Ziele sind individuellere und integrierte Versorgung und die Schaffung ökonomischer Anreize für eine stärkere ambulante Versorgung sowie eine höhere Zufriedenheit der Mitarbeiter im Gesundheitswesen.

2.8 Soziale Stigmatisierung

Die Ausgrenzung psychisch Kranker hat eine lange Historie. Viele Ängste vor der Unbere- chenbarkeit insbesondere schizophrener Menschen, das gesellschaftliche Diktum der Vernunft und Rationalität als absolute Lebensgrundlage und psychologisch betrachtet die Externalisie- rung oder Projektion eigener unbewusster Aspekte, haben dazu beigetragen. Auch heutzutage ist die psychische Krankheit keineswegs positiv konnotiert. Eine einfache Betrachtung alltäg- licher Schimpfwörter lässt erkennen, inwieweit der „Irre“, der „Spinner“ usw. als ein niedri- geres Wesen gelten soll. Soziologisch betrachtet ist das Hauptproblem der Ausgrenzung, dass der vermeintlich gesunde Mensch den psychisch Kranken meistens als „den anderen“ be- zeichnet. Zudem befinden sich „diese Anderen“ ja auch weit weg von der eigenen vernünfti- gen Lebensumgebung: an besonderen Arbeitsstätten, im Krankenhaus (auch unter Ärzten gel- ten Psychiater und ihre Patienten nicht zur „normalen Klientel“ gehörend), in Heimen oder anderen Einrichtungen. Weiterhin besteht ein ausgeprägtes Wissensdefizit in der Gesellschaft, gepaart mit Laientheorien. Aus einer psychiatrisch-medizinischen Diagnose erwächst dann ein soziales Stigma. Unbekannt aus epidemiologischer Sichtweise ist vielen Menschen auch, dass z.B. auf ein Jahr bezogen 25% der Bevölkerung signifikant psychisch erkranken. Be- kannt ist aber, dass, wenn Menschen mit psychisch Kranken länger im Kontakt sind, sei es auf der Arbeitsstelle oder in der Familie, diese nicht mehr als mysteriös und völlig anders vom eigenen Selbst gesehen werden. Es tragen also zwei Dinge zur sog. Krankenrolle bei: zum einen der Kranke selbst, der natürlich in gewissem Sinne passager oder chronisch nicht den heute definierten Lebensanforderungen und -zielen in einigen oder allen Facetten entsprechen kann und zum anderen die gesellschaftliche Aufbereitung (Eikelmann und Zacharias, 2002;

Häfner, 2005). Anti-Stigma-Bewegungen mögen vielleicht auch ein Teil moderner Rehabilita- tion werden.

Diskriminierung und soziale Isolation der ohnehin schon kontaktscheuen und ängstlichen Gruppe der an Schizophrenie Erkrankten, insbesondere auch der Heavy User, fördern deren

(31)

Probleme bisweilen erheblich und somit auch Rezidive. Ebenso gibt es trotz Wiedereingliede- rungshilfe und einer erfolgreichen Rehabilitation viele Probleme, wirklich wieder ein „norma- les Leben“ zu führen, z.B. bei der Arbeitsplatzsuche und der Überlegung, ob man seine psy- chische Krankheit mitteilt oder nicht, was beides negative Folgen haben kann. Das Privatle- ben und auch Angehörige bzw. die Beziehungen werden oftmals gleichfalls unliebsam in Mit- leidenschaft gezogen. Betroffene internalisieren auch selbst allzu oft den Stereotyp des psy- chisch Kranken (Wundsam et al., 2007).

An dieser Stelle kann man sich auch die Frage stellen, ob eine Früherkennung und - intervention nur positiven Nutzen mit sich bringt, da hieraus ein sozialer Ausgrenzungspro- zess resultieren kann, der durch die Frühintervention gerade vermieden werden sollte (Mach- leidt und Brüggemann, 2008).

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Atypische Antipsychotika wurden bei 23% der Patienten mit einem niederpotenten Antipsychotikum, bei 9% mit einem Anticholinergikum, bei 10% mit einem

und sozialer Ungleichheit im biografischen Interview……….147 Wilfried Datler / Kathrin Trunkenpolz. Zwischen Teilhabe

Menschen unterhalten Bezie- hungen zueinander, lehnen sich aneinander an, grenzen sich voneinander ab, ahmen sich gegenseitig nach oder passen sich an.. Die Identität des

Es ist ein typisches Merkmal von Phytopharmaka, dass für sie als Vielstoffgemische mit einem breiten Wirkstoffspektrum nicht immer eine rein antitus- sive oder expektorierende

Die restlichen Kinder werden in zwei Gruppen eingeteilt: auf der linken Seite die Philister – vor ihnen steht Goliath, und auf der rechten Seite die Israeliten – vor ihnen steht

15. Teil Abschließende Thesen zum Exit der Minderheit aus der GmbH .... 287 Anhang Praxistauglichkeit der gesetzlichen und richterrechtlichen Institute.. zum Exit in den

Auch Studierende und Absolventen von Berufsakademien (bis zu zehn Jahre nach Abschluss des Studiums) mit Haupt- oder Nebenwohnsitz im Freistaat Sachsen zählen zur Zielgruppe.

Nach dieser FRL gewährte staatliche Beihilfen können mit anderen staatlichen Beihilfen (Preisgelder und Prämien gemäß Ziffer V Nummer 7 der FRL „Nachhaltig aus der Krise“)