DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
ÜBERSICHTSAUFSATZA
ngesichts der großen Zahl und der vielfältigen Besonderhei- ten verdienen Behandlung und so- zialmedizinische Bewertung kran- ker Gastarbeiter unsere besonde- re Aufmerksamkeit. Die Migration der Gastarbeiter aus dem Mittel- meerraum in den beiden letzten Jahrzehnten ist eine der großen Wanderungsbewegungen unseres Jahrhunderts. Sie stellt hohe An- forderungen an das Anpassungs- vermögen der Migranten und, wenngleich in geringerem Aus- maß, auch an dasjenige der einge- sessenen und zurückbleibenden Bevölkerung (6).Sowohl bei Gastarbeitern, die eine Rückkehr anstreben, insbesonde- re aber auch bei denjenigen, die inzwischen den Status von Ein- wanderern eingenommen haben, kommt es in dem Spannungsfeld der mehr oder weniger gewollten Akkulturation häufig zu psychi- schen Störungen. Die häufigsten psychopathologischen Syndrome (2) sind:
funktionelle Störungen: Ma- gen-Darm-Störungen, Potenzstö- rungen, die nicht selten versteckt sind hinter allgemeinen Befind- lichkeitsstörungen; hysteriforme Zustände,
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hypochondrisch-depressive Syndrome, die für die Leibver- änderungserlebnisse charakteri- stisch sind, unde
paranoide Syndrome. Hierzu zählen paranoide Reaktionen in sprach- und kulturfremder Umge- bung, aber auch für die Herkunfts- region typische Wahnformen wie der Verhexungswahn bei Gastar- beitern aus Süditalien (6, 9).Im Längsschnitt wurden bei türki- schen Gastarbeitern in den ersten Monaten nach der Einwanderung psychische Störungen mit depres- siven (3) und hysterisch-agitierten (4) Zustandsbildern beobachtet, im späteren Verlauf psychosoma- tische Störungen (3) und im weite- ren Verlauf ein Zurücktreten psy- chischer Störungen zugunsten von Beschwerden infolge organi- scher Erkrankungen wie Hyperto- nie oder koronarer Herzerkran- kung.
Verständigungs- und
Verständnisschwierigkeiten In der sozialmedizinischen Bewer- tung psychischer und psychoso- matischer Störungen von Gastar- beitern treten häufig Verständi- gungs- und Verständnisschwierig- keiten auf (7). Dies gilt weniger für Gastarbeiter, die über eine gute Schulbildung und gute Sprach- kenntnisse verfügen und im urba- nen Raum aufgewachsen sind. Sie können dem Untersucher ihr Be- zugssystem, soweit er damit nicht vertraut ist, verdeutlichen. Schwie-
Bei der sozialmedizinischen Be- wertung von Gastarbeitern er- schweren mangelhafte Sprach- kenntnisse die sprachliche Ver- ständigung, der andersartige kul- turelle Hintergrund das Verstehen des ausgedrückten Leidens. Die Einschaltung eines Dolmetschers wirkt sich auf die Beziehung zwi- schen Untersucher und Proban- den nicht unbedingt nur förderlich aus. Auch führen entsprechende testpsychologische Verfahren in den meisten Fällen nicht weiter.
rigkeiten bereiten in erster Linie diejenigen, die mangelhaft be- schult oder als Analphabeten in die Bundesrepublik gekommen sind, erhebliche Sprachschwierig- keiten haben und uns unvertrau- ten Lebensbedingungen entstam- men.
Erschwernisse bei der
gutachterlichen Untersuchung Schwierigkeiten, die bei der Erhe- bung der Vorgeschichte aufgrund der Akten entstehen, lassen sich meist durch Hinzuziehung eines Dolmetschers beheben. Zu beden- ken ist, der unterschiedliche Ge- brauch des psychiatrischen Voka- bulars.
Weitaus schwieriger ist die per- sönliche Erhebung der Vorge- schichte aufgrund der Angaben des Untersuchten. Bei Sprach- schwierigkeiten kann manchmal ein Angehöriger des Patienten hel- fen. Meist kommen wir nicht um- hin, einen Dolmetscher hinzuzu- ziehen. Man könnte glauben, mit der Zwischenschaltung eines Dol- metschers seien die Verständi- gungsschwierigkeiten überwun- den. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Auch unter Zwischenschaltung eines Dolmetschers bleibt es schwierig, das gefühlsmäßige Er- leben des Probanden zu erfassen.
Begutachtung
von kranken Gastarbeitern
Schwierigkeiten bei der sozialmedizinischen Bewertung psychischer und psychosomatischer Störungen
Ludwig Teusch
Aus der Klinik für Allgemeine Psychiatrie
(Direktor: Professor Dr. med. Max-Paul Engelmeier) der Rheinischen Landes- und Hochschulklinik Essen
3616 (44) Heft 51/52 vom 19. Dezember 1986 83. Jahrgang Ausgabe A
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Kranke Gastarbeiter
C) Infolge des zwischengeschal- teten Dolmetschers wird die Ge- sprächsatmosphäre besonders künstlich. Spontane Äußerungen kommen kaum zustande. Eine ver- trauensvolle Atmosphäre, die ja nicht nur für therapeutische, son- dern auch für forensisch-psychia- trische Untersuchungsgespräche unerläßlich ist (1), entsteht kaum.
Zu den Verständigungs- treten Verständnisschwierigkeiten hinzu, denen ein unterschiedliches Krankheitsverständnis zugrunde liegt. Während dem Arzt in erster Linie ein naturwissenschaftliches Denken vertraut ist, erlebt der Pro- band aus dem Mittelmeerraum Krankheit meist ganzheitlich:
„Krankheit wird in allen südeuro- päischen und kleinasiatischen bäuerlichen Subkulturen als ein im Umfeld des Menschen existie- rendes selbständiges Sein ver- standen. Es dringt von außen in den Körper ein und befällt ihn meist ganzheitlich. Dementspre- chend reagiert der durch eine Krankheit befallene menschliche Körper sofort und umfassend mit allgemeinem Vitalitätsverlust, mit Erschöpfung und Abgeschlagen- heit, meist mit Fieber und fast im- mer mit Schmerzen" (9). Demge- genüber wird Krankheit im natur- wissenschaftlich-medizinischen Denken der westlichen Industrie- nationen gesehen „als ein objekti- ves Faktum, das als Befund abge- löst vom Kranken diskutiert und angegangen werden kann" (8).
Zu den Verständnisschwierig- keiten gehören aber auch weitere Folgen, die sich daraus ergeben, daß dem Untersucher Sitten, Wer- te und Normen des Probanden
nicht vertraut sind, so daß es au- ßerordentlich schwierig sein kann, das innere und äußere Bezugssy- stem des Probanden zu erfassen.
Der Untersucher muß sich auch die besonderen Lebensbedingun- gen der Gastarbeiter im Gastland vor Augen halten, mit ihren vielfäl- tigen Diskriminierungen, der Er- schütterung des Sicherheitserle-
bens durch die Bedingungen des Ausländerrechts, das Getrennt- sein von nahen Angehörigen und den Verlust des sozialen Schutzes, der Sicherheit und Kontrolle durch Familie, Verwandte und Nachbarn (5)!
Elementarer Ausdruck von Schmerz und Leid
Die aufgrund der Verhaltensbeob- achtung erhobenen Befunde sind wegen des ungewohnten Aus- druckscharakters schwer zu inter- pretieren. Gerade der Proband aus dem Mittelmeerraum neigt dazu, seinem Leid in einer Körperspra- che Ausdruck zu geben. Leid wird
„primär und elementar als körper- lich erlebt" (6). Pfeiffer hat darauf hingewiesen, daß es sich dabei um Ausdrucksformen handelt, die in allen Bereichen der Erde gewöhn- lich seien und weniger der Erklä- rung bedürften, als die Entkörper- lichung des Leidens beziehungs- weise der Depression, wie sie sich im intellektuellen Bürgertum des Westens zeige. Der elementare Ausdruck von Schmerz und Leid erscheine hierzulande als „gera- dezu ungehörig" (6). Während hier die Tatsache der Krankschrei- bung ausreiche, um den Status als Kranker zu sichern, müsse sich beispielsweise ein Türke durch an- schauliche Darstellung immer wie- der aufs neue die Anerkennung seines Leidens verschaffen. Die- ses Verhalten läßt hierzulande dann leicht den Verdacht auf Si- mulation oder Rentenneurose auf- kommen.
Verweigerung und Abwehr bei psychologischen Tests Aus der sozialmedizinischen Be- wertung psychischer Störungen sind testpsychologische Untersu- chungen zur Erfassung der Intelli- genz und Leistungsfähigkeit so- wie zur Persönlichkeitsdiagnostik nicht mehr wegzudenken. Sie tra- gen nicht nur dazu bei, psychische Funktionen und ihre Gestörtheit differenzierter zu erfassen, son-
dern leisten vor allem auch einen Beitrag zu einer besseren Objekti- vierbarkeit und Reproduzierbar- keit der Befunde. Die Erfahrung hat gezeigt, daß diese psychodia- gnostischen Verfahren in der Be- gutachtungssituation angesichts einer situationsbezogenen Ab- wehrhaltung nur begrenzt ver- wertbar sind. Oft kommen bei Gastarbeitern weitere erschweren- de Umstände noch hinzu:
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Bei den Intelligenz- und Lei- stungstests hat die mangelnde oder völlig fehlende Beschulung nicht nur ein schlechtes Abschnei- den bei den Wissensfragen zur Folge. Sie schmälert auch die Lei- stungen in Teilbereichen der Intel- ligenz- oder auch der Konzentra- tionsprüfungen, wenn sie bei- spielsweise einfache Rechenauf- gaben enthalten. Mit der mangeln- den Beschulung geht in der Regel eine mangelnde Gewöhnung an Prüfungssituationen einher, die ei- ne größere Befangenheit im Um- gang mit den testpsychologischen Untersuchungsinventaren mit sich bringt. Dies führt zu mißtrauischer Abwehr. Der Proband arbeitet bei den Untersuchungen unzurei- chend mit, so daß die Ergebnisse nicht verwertbar sind.© Die Persönlichkeitsdiagnostik gestaltet sich ebenfalls schwierig.
Hier wirkt sich die — notwendige — Zwischenschaltung eines Dolmet- schers besonders störend aus. Die Untersuchungssituation ist da- durch weniger vertraulich. Hinzu kommt, daß der Dolmetscher nicht geschult ist für die Durchführung psychologischer Testverfahren und dazu neigen mag, den Pro- banden bei der Beantwortung der Fragen inhaltlich zu beeinflussen.
Darüber hinaus zeigt sich, daß stärker traditionsgebundene Men- schen aus bäuerlichen Kulturen oft nicht bereit sind, sich anhand eines Fragebogens persönlich bis hin zu intimen Fragen zu öffnen.
Bei der Auswertung der psycho- diagnostischen Untersuchungser- gebnisse ist eine quantitative Ana- lyse kaum möglich. Zu den bereits Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 51/52 vom 19. Dezember 1986 (45) 3617
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Kranke Gastarbeiterangeführten Schwierigkeiten kommt hinzu, daß Normen aus dem Herkunftsland in der Regel fehlen, Normen der einheimischen Bevölkerung bei Persönlichkeits- tests jedoch nur unter Vorbehalt herangezogen werden können.
Nach unseren Erfahrungen kön- nen testpsychologische Untersu- chungen in der Regel nicht ausrei- chend quantitativ interpretiert werden, sondern allenfalls zu ei- ner besseren qualitativen Analyse der Verhaltensauffälligkeiten so- wie der Beeinträchtigung der Lei- stungsfähigkeit beitragen.
Schlußfolgerungen
Der Sachverständige muß mit der Sprache, den Lebensbedingungen und den kulturellen Normen sei- nes Probanden vertraut sein. Für den einheimischen Gutachter be- deutet dies, daß er sich bei der Würdigung der psychischen Seite, insbesondere auch des Aus- drucksverhaltens des Probanden Zurückhaltung auferlegt. Er sollte sich auch nicht scheuen, dem Ge- richt die Grenzen der eigenen Kompetenz deutlich zu machen und in besonders schwierigen Fäl- len dem Gericht nahelegen, einen sprach- und landeskundigen Sachverständigen zuzuziehen.
Dies bedeutet, daß der Richter be- sondere Mühe auf die Wahl eines entsprechend sachkundigen Gut- achters verwenden sollte.
Es liegt nahe, in der Bundesrepu- blik niedergelassene Nervenärzte zu beauftragen, die aus dem Her- kunftsland des Probanden stam- men. Bei der Begutachtung be- sonders schwieriger psychia- trisch-psychologischer Fragestel- lungen erscheint es sinnvoll, falls kein besonders erfahrener Gut- achter der Herkunftsregion des Probanden benannt werden kann, einen in der sozialmedizinischen Bewertung besonders erfahrenen Arzt (etwa den Chefarzt einer Kli- nik) zu benennen und einen in psychiatrischer Weiterbildung be- findlichen Arzt seiner Klinik, der
aus dem Herkunftsland des Pro- banden stammt, als Sachverstän- digen mit zu benennen. Dies wird zwar nicht immer leicht sein; dem steht das Erfordernis einer befrie- digenden Sachaufklärung gegen- über. Im anderen Fall ergeben sich ausgesprochen zeitraubende, durch Einbeziehung von Dolmet- schern verteuerte und letztlich oft wenig aussagefähige Untersu- chungsergebnisse.
Literatur
(1) Barbey, J.: Das forensisch-psychiatrische Interview. Soz. Ep.-Bericht 1/80 des Bundes- gesundheitsamtes. Reimer, Berlin (1980) - (2) Böker, W.: Psychiatrie der Gastarbeiter. In: K.
P. Kisker et al. (Hrsg.): Psychiatrie der Gegen- wart — Forschung und Praxis. Bd. III, 2. Aufl., Springer, Berlin/Heidelberg/New York (1975) (3) Häfner, H.; Moschel, G.; Ozek, M.: Psychi- sche Störungen bei türkischen Gastarbeitern:
eine prospektiv-epidemiologische Studie zur Untersuchung der Reaktion auf Einwanderung und partielle Anpassung. Nervenarzt 48 (1977) 268-275 — (4) Kielhorn, R.: Wandel im Be- schwerdebild von türkischen Gastarbeitern — Beobachtungen aus einer Allgemeinpraxis in Berlin-Kreuzberg. Vortrag vor der nervenärztl.
Infektionen
beim älteren Menschen
Ältere Patienten sind offenbar prä- disponiert für ernste Infektionen aufgrund chronischer oder akuter Erkrankungen, die die Integu- mentschranken durchbrechen, den Abwehrmechanismus ver- schlechtern oder die Zeltreaktio- nen bei Infektionen beeinträchti- gen. Die ältere Person in einem re- duzierten Gesamtzustand ist ei- nem besonders hohen Risiko aus- gesetzt, da sie oft nicht in der Lage ist, selbst für die eigene Hygiene zu sorgen, dabei schlecht ernährt und immobil ist, an Inkontinenz leidet oder in einem Heim unterge- bracht ist.
Seneszenz des Immunsystems als solche jedoch scheint nicht zu den prädisponierenden Faktoren bei Infektionen in dieser Bevölke- rungsschicht zu gehören. Infektio- nen bei älteren Menschen gehen
Ges. Düsseldorf. Rahmenthema: Der Gastar- beiter als Patient (1983) - (5) Özerturgut-Yurt- das, H.: Muslim Women in Highly Industrializ- ed Societies: The case of Turkish Women in the FRG. Vortrag vor dem VII. Weltkongreß der Psychiatrie in Wien (1983) - (6) Pfeiffer, W. M.:
Psychopathologie der Migration. Vortrag vor der nervenärztl. Ges. Düsseldorf. Rahmenthe- ma: Der Gastarbeiter als Patient (1983) - (7) Teusch, L.: Die psychiatrische Begutachtung von Gastarbeitern. Med. Sach. 80 (1984) 91-95
— (8) Zimmermann, E.: Kulturspezifische Deu- tungsmuster psychischer und somatischer Er- krankungen bei süditalienischen Migranten in der BRD. Ausländerkinder— Forum f. Schule u.
Sozialpädagogik 7 (1981) 30-45 — (9) Zimmer- mann, E.; Petrokowski, W. v.: Magische Krank- heitsvorstellungen ausländischer Eltern als Problem in der Pädiatrie. Kinderarzt 14 (1983) 1113-1122
Anschrift des Verfassers:
Dr. med. Ludwig Teusch Diplom-Psychologe Oberarzt der Klinik für Allgemeine Psychiatrie Rheinische Landes- und Hochschulklinik Essen Hufelandstraße 55 4300 Essen 1
häufig mit nichtspezifischen An- zeichen und Symptomen einher.
Oft fehlen die Anzeichen für eine lokale Infektion überhaupt, oder sie werden einem chronischen Leiden zugeschrieben.
Wenn dann ein Infektionsherd identifiziert werden konnte, soll- ten die Ärzte bei der Behandlung mit Breitspektrumantibiotika be- ginnen, um die Reihe der am mei- sten wahrscheinlichen Keime zu erreichen.
Strategien zur Verhinderung von Infektionen sollten den älteren Menschen helfen, aktiv zu bleiben, nicht in einem Heim unterge- bracht werden zu müssen und die zur Verfügung stehenden Impf- stoffe richtig zu nutzen. Lng
Garibaldi, R. A.; Nurse, B. A.: Infektions in the Elderly, The Am. Journ. of Med. 81 (1986) 53-58.
Dr. Richard A. Garibaldi, Department of Medi- cine, University of Connecticut Health Center, Farmington Connecticut 06032, USA.
FÜR SIE GELESEN
3618 (46) Heft 51/52 vom 19. Dezember 1986 83. Jahrgang Ausgabe A