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Bericht und Meinung
71. Jahrgang/Heft 51 19. Dezember 1974 Postverlagsort Köln
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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Ärztliche Mitteilungen
Herausgeber: Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung
Das Machbare anstreben
Präsidium des Deutschen Ärztetages
beriet über Neuregelung des Kassenarztrechtes Vorbereitung des 78. Deutschen Ärztetages Entschließungen über die „Zwangsernährung von Häftlingen" und über den Umweltschutz
Die Tagesordnung der Sitzung des Präsidiums des Deutschen Ärztetages am 7. Dezember 1974 schien weitgehend „Routinebe- ratungen" zu verheißen. Doch wider Erwarten wurde es spannend.
Denn nach dem „Bericht zur Lage", in dem der Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages, Professor Dr. med. Hans Joachim Sewering, die berufspolitischen Schwer- punkte und Schwierigkeiten gekennzeichnet hatte („Ein kalter Wind weht uns entgegen. Es geht um die Grundsatzfrage: Kann der frei- beruflich tätige Arzt seinen Lebensraum halten?"), wurde im Klartext über die geplanten Änderungen des Kassenarztrechts dis- kutiert. Brisant war zudem das Thema „Zwangsernährung von Häftlingen". Dazu verabschiedete das Präsidium einstimmig eine Erklärung, die inzwischen in der Öffentlichkeit lebhaft disku- tiert worden ist.
Auch bei dieser Sitzung bewährte sich das Präsidium als ein Aus- sprachegremium, in dem offen und kontrovers diskutiert werden kann, bei dem sich aber dann der Wille zum gegenseitigen Ver- stehen und zum gemeinsamen Vorgehen durchsetzt. Die Appelle des Ersten Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. Hans Wolf Muschallik, gerade jetzt, angesichts der unabseh- baren Verläufe der Parlamentsberatungen über das Kassenarzt- recht, Solidarität zu bekunden, wurden von der Versammlung aufgenommen. Gerade auch solche Verbandssprecher, die den Vorhaben der Bundesregierung und des Landes Bayern besonders kritisch gegenüberstehen, betonten letztlich die Bereitschaft zum abgestimmten Vorgehen.
Zuvor wurden freilich die verschiedenen Positionen verdeutlicht. Das war notwendig. Dazu wurde es auch Zeit. Denn eine günstige Gelegenheit, strittige Fragen um die Niederlassungssteuerung im
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Kreis der ärztlichen Organisationen und Verbände vorzubringen, war nicht recht genutzt worden. Auf der Sitzung des Erweiterten Vorstan- des der Bundesärztekammer näm- lich, am 21. September 1974 in Ba- den-Baden, hatte man auffallend zurückhaltend darüber gesprochen.
Inzwischen haben sich offenbar die Positionen geklärt.
Unterschiedliche Standpunkte zur Änderung des Kassenarztrechtes
Die Darstellung der Standpunkte auf der Dezember-Sitzung des Prä- sidiums begann mit einer Er- klärung des Vorsitzenden des Deutschen Kassenarztverbandes, Dr. Helmut Walther, der sich aus grundsätzlichen Erwägungen ge- gen Beschränkungen der Zulas- sungsfreiheit wandte. Er und auch die übrigen Verbändevertreter sprachen dann vor allem die Schiedsamtsregelung an. Sie soll nach dem bisherigen Stand des Gesetzgebungsverfahrens geän- dert werden, was zu einer unan- gemessenen Stärkung der Position des Staates führen müßte.
Einen speziellen Aspekt der Nie- derlassungssteuerung betonte der Vorsitzende des Berufsverbandes der praktischen Ärzte und Ärzte für Allgemeinmedizin, Dr. Werner Haupt. Eine „Sperre der Niederlas- sung" müsse sich zu Lasten gerade der Allgemeinärzte auswirken. Es werde dazu kommen, daß sich dann erst recht keine jungen Ärzte mehr als Praktiker niederlassen wollten. Dr. Erwin Odenbach, Vor- sitzender des Marburger Bundes, unterstützte ihn: „Die Zulassungs- sperre wäre der Todesstoß für den Allgemeinmediziner".
Unterschiedlich waren die Meinun- gen über die Beunruhigung „an der Basis" über die „Pläne von Pirkl und Arendt". Während in der Dis- kussion die einen „mehr Unruhe in der Ärzteschaft, als man anneh- men möchte" diagnostizierten und glaubten, „an der Peripherie fühlen sich die Leute verlassen", wiesen die anderen solche Beurteilungen zurück. Wie dem auch sei, Beunru-
higung besteht offenbar zumindest bei einigen ärztlichen Verbänden.
Und wenn es nur an dem von HB- Chef Dr. Horst Bourmer angedeu- teten „leicht mangelnden Informa- tionsfluß" liegt. Allenthalben beun- ruhigt ist man aber wegen der Un- wägbarkeiten bei dem bevorste- henden parlamentarischen Hürden- lauf.
Angesichts der engagierten Dis- kussion im Präsidium, aber auch eingedenk mancher Äußerungen, die in letzter Zeit schriftlich oder mündlich aus ärztlichen Kreisen kamen, sah sich Dr. Muschallik zu einer Klarstellung veranlaßt, die schon ein kleines Grundsatzreferat genannt werden konnte. Er beton- te, daß es ja keineswegs auf Be- treiben der Ärzteschaft zu den jetzt vorliegenden Entwürfen gekommen sei. Er wandte sich energisch (von Professor Sewering nachdrücklich unterstützt) gegen gewisse Flüster- parolen, die Kassenärztlichen Ver- einigungen hätten ein Eigeninter- esse an den geplanten Neurege- lungen. „Die Kassenärztlichen Ver- einigungen sind für die Ärzte da und nicht umgekehrt", erklärte Mu- schallik. Er scheute sich freilich auch nicht, darauf hinzuweisen, daß es bei der Niederlassung nicht nur um ärztliche Positionen geht.
Kurzum, er wies betont auch auf die Sozialgebundenheit des ärztli- chen Berufes hin.
Die fast zwangsläufige Entwicklung bis zu den heutigen Gesetzentwür- fen zeichnete Muschallik in seinem Statement nach. Er wies auf die vielen Äußerungen, Studien und programmatischen Forderungen der letzten Jahre hin; sie reichen von der WSI-Studie bis zu Ver- staatlichungsforderungen aus der Industriegewerkschaft Metall. Was den Bonner Regierungsentwurf selbst angehe, so sei es schließlich ein CSU-Entwurf in Bayern gewe- sen, der Arendt in Zugzwang ge- bracht habe, erinnerte Muschallik.
In der Diskussion wurde noch wei- ter verdeutlicht, es gelte jetzt, die Situation realistisch einzuschätzen und auch aus ärztlicher Sicht das Machbare anzustreben.
Vor dem Hintergrund der oben an- gedeuteten Forderungen, die gele- gentlich schon als Pressionen von
„Para-Parteien" (so Bourmer) zu werten sind, und angesichts von Auffassungsunterschieden, die sich in den letzten Monaten in Teilen der Ärzteschaft zeigten, fragte der KBV-Vorsitzende: „Ist es nicht an der Zeit, uns zusammenzuschlie- ßen, und sollten wir nicht damit aufhören, den Eindruck zu erwek- ken, als verträten die Repräsentan- ten der Ärzteschaft nicht die Prinzi- pien, unter denen sie angetreten sind?" Eine Frage, die zugleich eine Antwort ist.
Dieser Aufruf zur Solidarität ist im Präsidium zweifellos verstanden worden. Dr. Kaspar Roos, NAV- Bundesvorsitzender, sah Divergen- zen lediglich hinsichtlich der einzu- schlagenden Taktik, nicht mehr hinsichtlich der Prinzipien. Er regte ein baldiges gemeinsames Ge- spräch der Verbände mit der Bun- desärztekammer und der Kassen- ärztlichen Bundesvereinigung an.
Dessen Erfolgsaussichten nach Roos: „Die Einigkeit ist viel leich- ter zu erzielen als etwa in früheren Jahren beim Blank-Entwurf." Sewe- ring und Muschallik: Einverstanden mit dem vorgeschlagenen Ge- spräch.
Im Zusammenhang mit dem „Be- richt zur Lage" faßte das Präsidium ferner zwei Entschließungen:
Erklärung zur Zwangsernährung von Häftlingen
Von besonderer Aktualität ist die einstimmig beschlossene Stellung- nahme zum Problem der Zwangser- nährung von Häftlingen (beachten Sie auch den Bericht aus Berlin auf Seite 3664). Sie lautet:
• „Mit Bestürzung nimmt das Prä- sidium des Deutschen Ärztetages davon Kenntnis, daß Ärzte, die sich zur Behandlung von Häftlingen bereit erklärten, die in den Hungerstreik getreten sind, mit Entführung und Mord bedroht wer- den. Es spricht diesen Kollegen
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Einstimmig faßte das Präsidium des Deutschen Ärztetages eine Erklärung zur sogenannten Zwangsernährung von Häft·
lingen. Das Bild zeigt einen Blick in den Sitzungssaal im Haus der Bundesärztekammer während der Abstimmung
seinen Dank und seine Anerken- nung aus für einen Einsatz, der lei- der öffentlich bisher kaum aner- kannt wird. Angesichts der kaum zu- mutbaren Umstände, unter denen diese Ärzte ihre Arbeit leisten müs- sen, hätte das Präsidium durchaus Verständnis dafür, wenn diese Kol- legen sich gezwungen sähen, ihre Behandlung notfalls einzustel- len. Das Präsidium des Deut- schen Ärztetages bekennt sich unverändert zu der Aufgabe des Arztes, das menschliche Leben mit allen ihm zur Verfügung ste- henden Möglichkeiten zu erhalten und zu retten. Diese Verpflichtung des· Arztes muß jedoch dort ihre Grenze finden, wo ein eindeutiger, auf freier Willensbildung beruhen- der Beschluß des einzelnen Men- schen vorliegt, die ärztliche Be-
handlung abzulehnen und sich ihr sogar aktiv zu widersetzen. Kein Arzt darf zu einer derartigen Zwangsbehandlung verpflichtet werden."
Vorausgegangen waren ausführli- che Beratungen im Vorstand der Bundesärztekammer am Tage vor der Präsidiumssitzung. Der Vor- stand hatte sich eingehend über die Umstände, unter denen die
"Zwangsernährung" vorgenommen werden muß, unterrichten lassen und beschlossen, unverzüglich eine ärztliche Kommission einzu- berufen, um noch offene wissen- schaftliche Fragen zu klären. Nach dem Wunsch des Vorstandes soll die Arbeit dieser Kommission kurz- fristig abgeschlossen werden; die Ergebnisse werden Grundlage für
eine Stellungnahme der Bundes- ärztekammer sein, mit der auch eine entsprechende Anfrage des Generalbundesanwaltes beantwor- tet werden soll.
Die zweite Entschließung des Prä- sidiums:
Acht-Punkte-Programm für den Umweltschutz
~ "Die fortschreitende Industriali- sierung gefährdet die Umwelt zu- nehmend, der damit ständig wach- sende Energiebedarf beschleunigt die Störung des ökologischen Gleichgewichtes. Die Bewohner der Erde können nicht warten, bis auch der letzte Energieträger im Raubbau verbraucht ist; es wäre dann nur schwerlich noch möglich, DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 51 vom 19. Dezember 1974 3661
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Einige Schnappschüsse aus der Sitzung: Der Präsident der Bundesärztekammer, Professor Dr. Sewering, die Vizepräsi- denten Dr. Jungmann und Dr. Bourmer (auf dem linken Bild). Rechts: Die Spitze des Berufsverbandes der Praktischen Ärzte und Ärzte für Allgemeinmedizin: Dr. Haupt und Dr. Tetzlaff (stehend)
in ein ökologisches Gleichgewicht zurückzufinden.
Für den Raum der Bundesrepublik hält es das Präsidium des Deut- schen Ärztetages für notwendig, folgende Punkte besonders her- auszustellen:
O Trotz wachsenden Energiebe- darfs sind bei jedem einzurichten- den Atomkraftwerk die größtmögli- chen Sicherheitseinrichtungen zu installieren, wobei die Kosten nur eine untergeordnete Rolle spielen dürfen.
O An der zunehmenden Luftver- schmutzung haben die Abgase der Kraftfahrzeuge erheblichen Anteil.
Dabei ist der Gehalt der Luft an Kohlenmonoxiden, an Schwefeldi- oxiden, bleihaltigen Gasen und krebserregenden Stoffen gerade in den Verkehrsballungsräumen schon an der Grenze des Gesundheits- erträglichen. Die bereits eingelei- teten Maßnahmen zur Entgiftung von Abgasen sollten daher noch in- tensiviert werden.
O Durch die industrielle Wasser- verschmutzung (durch Salze, Fäul-
nisstoffe und Mineralöl) ist die Trinkwasserversorgung erheblich gefährdet, so daß es im Interesse der Bevölkerung erforderlich ist, Trinkwasser von Gebrauchswasser noch besser zu trennen als bisher.
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Bei der Müllbeseitigung ist eine vorherige Sichtung der brennbaren und nichtbrennbaren Stoffe vorzu- nehmen und bei den brennbaren darauf zu achten, ob sie bei der Verbrennung Giftstoffe (Chlorgase) entwickeln.O Die Lärmbekämpfung ist beson- ders an den Verkehrsstraßen der Städte, an Flugplätzen und in lärm- erzeugenden Industriegebieten da- durch zu intensivieren, daß Raum- und Städteplaner diese Fragen be- reits bei der Planung berücksichti- gen und zum Beispiel Gewerbege- biete von Wohn- und Erholungsge- bieten sinnvoll abgrenzen.
O Die medizinische Ursachenfor- schung über Umweltgefahren steht erst am Anfang. Das Präsidium des Deutschen Ärztetages fordert des- halb, vordringlich Forschungsvor- haben auf dem Gebiet der Umwelt- medizin zu fördern. Nur eine sach-
liche wissenschaftliche Vorarbeit ist frei von propagandistischen Ef- fekten und vom Wunschdenken industrieller Interessenten.
O Es ist sicherzustellen, daß vor der Entwicklung und der Einfüh- rung neuer industrieller Verfahren ihre Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit geprüft werden.
O An den Gesetzgeber geht die dringende Bitte, entsprechend die- sen Vorschlägen die notwendigen rechtlichen Grundlagen für den Um- weltschutz weiter auszubauen."
Vorbereitung
des 78. Deutschen Ärztetages Zu den originären Aufgaben des Präsidiums des Deutschen Ärzteta- ges gehört die Mitwirkung bei der Vorbereitung der Ärztetage. Es stimmt unter anderem Ablauf und Tagesordnung sowie die verschie- denen Programmteile aufeinander ab. Nach dieser Präsidiumssitzung sieht die Tagesordnung des näch- sten Ärztetages, der vom 5. bis 9.
Mai 1975 in Hamburg stattfinden wird, die Punkte „Neufassung der
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Dr. Schmidt, Präsident der Ärztekammer Berlin, und Dr. Salbach, einer der beiden Vertreter der angestellten Ärzte im BÄK-Vorstand. Im Vordergrund: Dr. Degenhard, Präsident der Landesärztekammer Baden-Württemberg (links), und Dr. Delius (Vor- sitzender der KV Niedersachsen) Fotos (6): Eifrig
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Dr. Maiwald (Vizepräsident der Landesärztekammer Baden-Württemberg und Stellvertretender NAV-Bundesvorsitzender). Auf dem Bild rechts: Die „KBV-Bank" mit Drs. Schmitz-Formes, Muschallik, Döring, Löwenstein. Es folgen Dr. Rosenberger (Vor- sitzender des Verbandes Deutscher Werks- und Betriebsärzte) und Dr. Krein (Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin)
Weiterbildungsordnung", „Novellie- rung der Reichsversicherungsord- nung" sowie „Fortbildung" vor.
Dazu kommen die üblichen Regu- larien und schließlich die anste- henden Neuwahlen. Außerdem wird sich dieser 78. Deutsche Ärztetag
mit einer Änderung der Satzung der Bundesärztekammer und der Geschäftsordnung der Deutschen Ärztetage zu beschäftigen haben.
Vorgesehen ist unter anderem die Einführung einer Antragskommis- sion.
Die „inhaltlichen" Tagesordnungs- punkte dürften weitgehend be- stimmt werden von der politischen Entwicklung: Das trifft sowohl für das Thema „RVO" wie für den Punkt „Weiterbildung" zu. Letzte- rer wird sich zu richten haben nach dem Stand der Ländergesetz- gebung über das Facharzt- bzw.
das Weiterbildungswesen. Auf die- sen Punkt kam Prof. Sewering auch in seinem „Bericht zur Lage"
vor dem Präsidium zu sprechen.
Als akzeptablen Kompromiß be- zeichnete er den bereits vorliegen- den Gesetzentwurf aus Nordrhein- Westfalen.
Sewering konnte auch auf erste Maßnahmen zur Intensivierung der Öffentlichkeitsarbeit hinweisen, wie sie der 76. Deutsche Ärztetag in München schon gefordert hatte.
Die „Aktionsgemeinschaft der deutschen Ärzte" habe über einen Maßnahmenkatalog und dessen Fi- nanzierung beraten, an der sich die
„Aktionsgemeinschaft" beteiligen wolle. Mit den finanziellen Konse- quenzen einer verstärkten PR-Ar- beit wird sich im übrigen auch der Deutsche Ärztetag zu beschäftigen haben. Norbert Jachertz
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