DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Hinterbliebenenversorgung:
Das "Anrechnungsmodell"
verletzt Verfassungsgrundsätze
Die vom Deutschen Bundestag beschlossene und vom Bundes- verfassungsgericht (mit Urteil aus 1975) geforderte Gleichstellung von Witwern mit Witwen bei der Hinterbliebenenversorgung in der gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) auf der Grundlage des so- genannten Anrechnungsmodells stößt unvermindert auf erhebliche rechtssystematische und verfas- sungsrechtliche Bedenken. Die Gesetzentwürfe der Bundesregie- rung und SPD-Fraktion seien we- der ausreichend und gründlich beraten, noch seien die kompli- zierten sozial- und ordnungspoliti- schen Konsequenzen ausgelotet worden. Dies erklärte der Vorsit- zende des Vorstandes der Arbeits- gemeinschaft berufsständischer Versorgungseinrichtungen (ABV), Dr. med. Klaus Dehler, Internist aus Nürnberg, anläßlich einer Pressekonferenz in Bann.
Die Grundentscheidung, ander- weitige Einkommen auf die Hin- terbliebenenrente der gesetzli- chen Rentenversicherung anzu- rechnen und dabei auch die Bezü- ge aus berufsständischen Versor- gungswerken mit einzubeziehen, berühre essentiell den Eigen- tumsschutz, den Vertrauens- grundsatz und das Prinzip der Sy- stemgerechtigkeit, betonte die ABV unter Berufung auf zwei ak- tuelle Rechtsgutachten, die ein- zelne Versorgungswerke bei den Rechtswissenschaftlern Prof. Dr.
jur. Bernd von Maydell und Prof.
Dr. jur. Jürgen Salzwedel, beide Bann, eingeholt haben.
Wegen der systemverändernden Eingriffe in das gegliederte Sy- stem der Alterssicherung und des mittelbaren Eingriffes in die be- rufsständische Versorgung bliebe
Dr. med.
Klaus Deh- ler, Vorsit- zender des Vorstandes der Ar- beitsge- meinschaft berufsstän- discher Versor- gungsein- richtungen, Nürnberg Foto:
Archiv
1 kein anderer Weg, so ABV-Chef Dr. Dehler, als Verfassungsbe- schwerde in Karlsruhe in einem
"geordneten Feldzug" einzule- gen.
Aus der Sicht der Gutachter und der Arbeitsgemeinschaft der Ver- sorgungswerke ist das "Gesetz zur Reform der Hinterbliebenen- versicherung" völlig ungeeignet, das vorgegebene Ziel zu errei- chen:
~ Das Gesetz ist mit den im Grundgesetz garantierten Prinzi- pien des Eigentumsschutzes, des Vertrauensgrundsatzes und des Postulats der Systemgerechtig- keit unvereinbar.
~ Die von der SPD-Fraktion an- gestrebte völlige Beseitigung des Befreiungsrechts für angestellte Freiberufler von der Versiche- rungspflicht in der Rentenversi- cherung (§ 7 Absatz 2 Angestell- tenversicherungsgesetz) sei ebenfalls ve rfassu ngswid rig und zerstöre das gewachsene, geglie- derte System der Alterssicherung.
~ Durch die "Anrechnung" auch von Pensionen aus den Versor- gungswerken würden Elemente der Bedürftigkeit, die eigentlich in
THEMEN DER ZEIT
das Fürsorgerecht gehören, in die gesetzliche Rentenversicherung eingeführt und damit das weithin geltende Versicherungsprinzip und das Prinzip der beitragsge- rechten, lohnbezogenen Rente untergraben werden.
~ Die im Regierungsmodell vor- gesehene Anrechnung bedeutet zumindest einen mittelbaren Ein- griff in die berufsständische Ver- sorgung, weil sich deren Leistun- gen nunmehr anspruchmindernd im Rahmen eines anderen Siche- rungssystems - der gesetzlichen Rentenversicherung - auswirken würden.
~ Zudem sei die Unterscheidung zwischen anzurechnenden und nichtanzurechnenden Einkünften
"willkürlich, sozialpolitisch und
logisch nicht nachvollziehbar",
heißt es unter Berufung auf das
Von-Maydeii-Gutachten.
Die grundsätzlichen Bedenken der Kölner Arbeitsgemeinschaft könnten auch nicht dadurch ent- kräftet werden, daß minimale
"Nachbesserungen" am Gesetz- entwurf der Bundesregierung im Schlußgalopp vollzogen worden seien. So ist der Freibetrag nicht- anrechenbarer Beträge - minimal - von 25 auf 27,5 Prozent angeho- ben worden. Ferner ist der maß- geblich von der Arbeitsgemein- schaft berufsständischer Versor- gungseinrichtungen vorgetrage- ne Vorschlag aufgegriffen wor-
den, nämlich ein Optionsrecht zu-
gunsten des bisherigen (alten) Rechtes einzuführen für jene Frei- berufler-Ehepaare, die ihre Ver- sorgungs-Lebensplanung infolge des neuen Gesetzes nicht mehr umstellen können.
Dr. Dehler kündigte an, die 40 in der Arbeitsgemeinschaft zusam- mengeschlossenen Freiberufler- Versorgungswerke (deren Mitglie- der finanzieren ihre Anwartschaf- ten völlig selbst- also ohne staat- liche Zuschüsse) würden "alle rechtsstaatlich möglichen Schrit- te ergreifen, um die Anrechnungs- regelung bald verfassungsrecht- lich zu Fall zu bringen".
C>
Ausgabe A 82. Jahrgang Heft 27 vom 3. Juli 1985 (23) 2005
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
,,Anrechnungsmodell''
Auch Versorgungswerke können klagen
Mutmaßungen, die Versorgungs- werke selbst besäßen kein ur- sprüngliches Klagerecht, weil sie nicht "grundrechtsfähig" seien, hält die ABV das Gutachten von Professor Dr. Jürgen Salzwedel, Sonn, entgegen. Dieses vertritt die Auffassung, auch berufsstän- dische Versorgungswerke seien Träger des Eigentumsgrundrech- tes, da sie "organisatorischer Aus- druck kollektiver Selbstversor- gung einzelner Berufsstände" sei- en und nicht typischerweise Teile der Staatsgewalt. Sie stünden in- sofern den in ihnen organisierten freien Berufen näher als der Staatsverwaltung. Die berufsstän- dischen Versorgungswerke und ihre Arbeitsgemeinschaft erwä- gen, gegen das Gesetz zur Re- form der Hinterbliebenenversor- gung selbst Klage einzulegen, aber auch betroffene "natürliche Personen" würden in Karlsruhe als Antragssteiler auftreten. Die ABV kündigte an, die Klagebatrei- ber zu beraten, "da die individuel- le Gestaltung des jeweiligen Ver- sorgungsverhältnisses von großer Bedeutung" sei.
Das Gutachten des Rechtswissen- schaftlers Professor von Maydell hebt folgende Punkte als klage- trächtig hervor:
~ Durch die Anrechnung werden systemfremde Elemente in die Rentenversicherung hineingetra- gen, da bislang Versicherungslei- stungen ihrer Höhe nicht durch Bezug anderweitiger Einkommen bestimmt werden. Eine Anrech- nung sei auch nicht notwendig, um den Bestand des Sozialversi- cherungssystems insgesamt zu erhalten. Vielmehr werde das ge- gliederte System durch die An- rechnung geschwächt, weil der Versicherungsbeitrag in seiner Funktion als Finanzierungsmittel in Frage gestellt werde.
~ Ein Anspruch, der der laufen- den Überprüfung und potentiellen Kürzung bei gleichzeitiger Offen-
barungspflicht hinsichtlich des anderweitigen Einkommensbezu- ges unterliege, vermittle dem In- haber ein wesentlich geringeres Maß an Dispositionsfreiheit, als dies bei einem unbedingten An- spruch der Fall sei. Deshalb kön- ne die Anrechnung von Einkom- men auf die Hinterbliebenenren- ten in der vorgegebenen Form nicht mehr als zulässige Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums angesehen werden.
~ Das Prinzip der Systemgerech- tigkeit werde dadurch verletzt, daß zwar Renten aus den Versor- gungswerken angerechnet wür- den, Bezüge aus anderen Regel- systemen der Alterssicherung (et- wa der Beamtenversorgung) blie- ben aber völlig unberücksichtigt.
Dies führt nach Ansicht von May- dells zu einem "gleichheitswidri- gen Ergebnis", nämlich daß die Hinterbliebenenrente aus der ge- setzlichen Rentenversicherung durch den Bezug einer Eigenpen- sion gekürzt werde, nicht aber die Witwenpension durch die Bezüge einer Eigenrente aus der gesetzli- chen Rentenversicherung.
~ Wenn die Bundesregierung das Anrechnungsmodell auch mit dem Unterhaltsersatzprinzip der Hinterbliebenenrente rechtferti- ge, müsse es alle Einkünfte einbe- ziehen, wenn es konsequent durchgeführt werden soll. Der Ge- setzgeber, der Ausnahmen zulas- se und nicht willkürlich handeln
wolle, müsse dies mit Sachkrite-
rien begründen.
~ Schließlich sei die Unterschei-
dung von öffentlich-rechtlichen und privatrechtliehen Sicherungs- systemen ebenfalls für die Frage der Anrechnung irrelevant. Auch öffentlich-rechtlich organisierte Systeme könnten auf dem Prinzip der Eigenvorsorge basieren - wie die berufsständischen Versor- gungswerke. Dieser Gesichts- punkt der Eigenvorsorge wäre ein Aspekt, so Professor von Maydell, der die mittelbare Beeinträchti- gung durch die Anrechnung ver-
biete. Harald Clade
2006 (24) Heft 27 vom 3. Juli 1985 82. Jahrgang Ausgabe A
KURZBERICHT
Mehr Sorgfalt nötig beim Postversand medizinischer Proben
Angesichts zunehmender beschä- digter Sendungen mit medizini- schem Untersuchungsmaterial weist die Post auf besondere Ver- packungsvorschritten hin. Danach haftet der Absender für Personen- und Sachschäden infolge unzurei- chend verpackter Sendungen. Bei Fragen zur Verpackung können sich die Versender durch die Ein- lieferungsämter oder die zustän- digen Oberpostdirektionen bera- ten lassen.
Bei Proben ohne Krankheitserre- gern muß die Verpackung so be- schaffen sein, daß sie gegen Be- anspruchungen wie Druck, Stoß oder Fall sicher schützt. Zum Bei- spiel sind Flüssigkeiten in dicht schließenden Behältern so zu ver- packen, daß sie nicht auslaufen können. Darüber hinaus müssen Urin und andere Ausscheidungs- produkte in festen, undurchlässi- gen Behältern versandt werden, deren Innenverkleidung die Flüs- sigkeit bei einem Gefäßbruch voll- ständig aufsaugen kann.
Wenn der Absender jedoch nicht ausschließen kann, daß die Pro- ben Erreger enthalten, muß er die Sendung entsprechend kenn- zeichnen.
Für den Versand von erregerhalti- gen Proben gilt die Neufassung
der "Bekanntmachung betreffend
Vorschriften über Krankheitserre- ger vom 21. November 1917", die im Bundesgesetzblatt (Teil 111 2126-1-1 Folge 27, Seite 19) veröf- fentlicht wurde.
Derzeit erarbeitet die Bundesre- gierung unter Federführung des Bundesministers für Jugend, Fa- milie und Gesundheit eine Ver- ordnung über den Transport und Versand von Krankheitserregern, die auf die technischen Möglich- keiten der Gegenwart abgestellt
werden soll. jv