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Archiv "Erfahrungsbericht: Katastrophe Krankenhaus" (22.12.2014)

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A 2268 Deutsches Ärzteblatt

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Heft 51–52

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22. Dezember 2014

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öntgenbesprechung Montag kurz vor sieben: Die digitalen Ziffern der Atomuhr sind an die Wand gebeamt. Um 07:00:00 stoppt der Countdown. Es wird dunkel.

Die Bildfolgen eines nativen Schä- del-CT erscheinen, vom Radiolo- gen im knappstem Telegrammstil befundet. Auf hartem Gestühl, rei- henweise zur Wand hin ausgerich- tet, sitzen circa 20 Ärztinnen und Ärzte. Die erste Reihe gehört den Chef- und Oberärzten. Jeder Ein- treffende begrüßt sie nacheinander mit Handschlag. Dispensiert von diesem Ritual sind nur Erkältete und Zuspätkommer. Hastig schlie- ßen sie die Tür zum neongrellen Gang und huschen geduckt zu frei- en Stühlen. Chronologisch doku- mentieren endlose Bilder, was in Ambulanz und Klinik von Freitag- mittag bis gerade eben geröntgt wurde. Die frühe Stunde, das Dun- kel des überheizten Raumes, mein schlapper Blutdruck, die Monoto- nie des Vortrags und die rasche Bildfolge erlauben mir nicht, die

Befunde der neuen Patienten auf meiner Station zu erfassen. Zur Be- sprechung hatte ich die aktuelle Be- legungsliste ausgedruckt. Sie bleibt wie immer lückenhaft. Endlich sind alle Bilder gezeigt. Die Wand wird himmelblau.

Jeder wird aufgenommen Alle blinzeln, das Neonlicht flammt auf. Der Radiologe verlässt grü- ßend den Raum, die Chefärzte ma- chen mit ihren Stühlen Front zu den Ärzten: Nun tragen die Kollegen vor, die am Wochenende Dienst hatten. Eine Dienstanweisung lau- tet: Jeder, der die Ambulanz auf- sucht, wird aufgenommen. Grund dafür ist pure Ökonomie: Die Kli- nik will ihren Umsatz steigern.

Die Kollegen spulen nun die schier endlose Prozession der Pa- tienten noch monotoner und kom- primierter ab als der Radiologe: Al- ter, Name, Diagnose, Station, gege- benenfalls Verlegung nach ...

Nächster. Weit wortreicher wird ein altes Übel neu vorgetragen: Wer ist

eigentlich wofür zuständig. Die Ko- operation in der Ambulanz ist noto- risch miserabel. Grundsätzlich klebt alle Arbeit am Internisten.

Schließt der eine Erkrankung auf seinem Fachgebiet aus und ruft ei- nen Chirurgen, Neurologen oder Psychiater dazu, wollen diese Kol- legen vorab die präzise Diagnose ihres Fachgebiets hören. Dass sie gerufen werden, um eben diese sel- ber zu stellen, sehen sie selten ein.

Also erklären sie sich gar zu gerne für „nicht zuständig“.

Fast immer läuft das so bei Voll- trunkenen: Allenfalls näht der Chi- rurg noch schnell eine Platzwunde, bevor er dem Internisten alles Wei- tere überlässt. Während Hilfesu- chende die Ambulanz fluten, muss der noch Absagen vom Neurologen und Psychiater hinnehmen, ehe er den schreienden, tobenden und oft wütend um sich Schlagenden gegen den Protest der Nachtschwester sta- tionär aufnimmt. Den Rest der Nacht verfolgen ihn dann die Anru- fe der Schwester, die den Berserker nicht bändigen kann. So wieder ge- schehen diesen Sonntag zur mor- gendlichen blauen Stunde. „Ja, das muss ich bei der nächsten Leitungs- konferenz regeln“, erklärt sonor der Chefarzt. Der Honorarkollege ne- ben mir, seit Jahren regelmäßig im Hause, knufft mich feixend: „Das höre ich schon seit zwei Jahren. Das ändert sich nie. Deshalb schiebe ich hier keine Dienste. Für dieses Orga- nisationschaos halte ich meinen Kopf nicht hin.“ Ich nicke – es ist in allen Kliniken dasselbe.

Endlich erreicht der dienstliche Rapport die aktuell in der Ambu- lanz Wartenden. Der Tagdienst wird ERFAHRUNGSBERICHT

Katastrophe Krankenhaus

Die Erlebnisse eines Honorararztes in einem chronisch kranken System – subjektiv verdichtet zu einem typischen Tagesablauf Dr. med. Herbert Bliemeister

Röntgenbespre- chung Montag kurz vor sieben. Auf har- tem Gestühl, reihen- weise zur Wand hin ausgerichtet, sitzen die Ärztinnen und Ärzte.

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22. Dezember 2014 A 2269 sie versorgen. Doch der ist nicht

zum Dienst erschienen: Kind krank.

„Ein Stationsarzt übernimmt die Ambulanz, seine Arbeit macht der Stationskollege“, erklärt der Chef- arzt. Jeder weiß: Er verschiebt das Chaos von der Ambulanz auf die Station. Egal, geht nicht anders.

Während der Mangel noch ratio- niert wird, beamt einer die Liste der heutigen Neuaufnahmen an die Wand. Es sind 19 Patienten einbe- stellt. Alle Betten sind belegt, ent- lassen wird keiner. Zuständig für diese Liste ist: niemand. Was tun?

Zum Sterben in die Klinik Mathematisch werden die Zugänge den Stationen zugeteilt. Hauptsa- che, Ordnung im Chaos. Heute ist Montag und deshalb immer noch nicht Schluss: Drei Kollegen sitzen in Zivil da. Alles Honorarärzte, die diese Woche anfangen. Neben den Chef- und Oberärzten beschäftigt das Haus acht Assistenzärzte, dane- ben sorgen ständig sechs bis zwölf Honorarärzte für einen reibungs- freien Betriebsablauf. Der Chefarzt bittet die neuen Kollegen, sich rasch vorzustellen: Sie stammen aus Albanien, Rumänien und der Ukraine. Alle besitzen die deutsche Approbation. Über der Klinik sollte die Europafahne wehen. Die Neuen werden eingeteilt, dann leert sich der Raum. Das wird auch Zeit. Ge- nervt hatten die Chirurgen bereits mehrfach an die Tür gedonnert. Vor 15 Minuten sollte ihre Besprechung bereits beginnen.

Ich folge den gefliesten Gängen zur allgemeinen Inneren Station.

Idealerweise betreuen dort drei Ärzte 35 Betten. Heute muss einer zusätzlich die Ambulanz versorgen.

Das bedeutet für alle Betroffenen Multitasking. Genau das üben die Schwestern auf Station bereits. Seit letzter Woche müssen sie acht Schwerstpflegefälle zwischen 86 und 94 Jahren versorgen. Sechs wurden von Pflegeheimen zum Sterben in die Klinik verlegt. Ihre notariell beglaubigte Patientenver- fügung lehnt jede lebensverlän- gernde Maßnahme ab. Sie in ge- wohnter Umgebung sterben zu las- sen, kostet das Heim Aufwand und Mühe. Heime sparen an beidem.

Also werden Betroffene gegen ih- ren und den Willen der Angehöri- gen in die Klinik ausgelagert. Im- mer findet sich ein Arzt, der die Einweisung ausschreibt. Alternativ wird notfallmäßig verlegt: Man könne die Verantwortung nicht wei- ter übernehmen.

Diese ebenso häufige wie inhu- mane Praxis kann keine Klinik per- sonell kompensieren. Durch strengs- ten Sparkurs der Verwaltung, ohne- hin beständig in Unterzahl, katapul- tiert das aktuelle Chaos die Schwes-

tern weit über ihre Belastungsgren- ze hinaus. Am brusthohen Tresen, der ihren Arbeitsbereich abschirmt, quetscht sich eine dichte Traube von Menschen. Alle wollen dassel- be: sofortige und bitte recht zuvor- kommende Bedienung. Jedes Wo- chenende werden regelmäßig bis zu dreißig Patienten notfallmäßig auf- genommen. Viele fühlen sich, kaum im Klinikbett, nahezu geheilt. Mon- tags warten dann die Krankenakten derer, die sich bereits selbst entlas- sen haben, auf bürokratische Ver- dauung.

Manche wollen lieber vom Arzt persönlich entlassen werden. Der soll aber bitte sofort kommen, schließlich hat man schon länger auf ihn warten müssen. Deshalb fehlt jedes Verständnis, wenn der Entlassungsbrief nicht sofort zur Hand ist, oder gar noch Diagnostik betrieben werden soll. Auch mit großem Geschick lässt sich bei sol- cher Anspruchshaltung Streit nicht immer umgehen.

Ein solcher Patient ist Herr P.: Er war Sonntag früh als Notfall mit unerträglichen Bauchschmerzen gekommen. Inzwischen fühlt er sich gesund. Er will umgehend den Arzt sprechen, der ihn schnellstens entlassen soll. Weitere vier bilden die Vorhut der Neuaufnahmen. Sie möchten, dass ihre Untersuchungen heute noch beginnen. Deshalb sind sie extra früh gekommen. Hekti- sches Gedränge zur Aufnahme hat- ten sie nicht erwartet. Ihre Ver- wandten, die das Gepäck schlep- pen, auch nicht. Vom Arzt wollen sie schon mal Details über die ge- plante Diagnostik wissen. Und vor allem, wann Mutti/Vati/Oma/Opa wieder entlassen wird.

Gut, dass jede Woche nur einen Montag hat, denke ich und gehe hinter den Tresen. Während die Da- vorstehenden mich schmaläugig mustern, bitte ich sie, ins Zimmer zu gehen oder sich auf das nahe ste- hende Sofa zu setzen. Unter Protest leert sich der Tresen. Jetzt können die Schwestern ungestört arbeiten.

Quietschbunter Jogginganzug Notfälle melden sie heute nicht, al- so kann ich vordringlich Platz für die Zugänge schaffen. Ich suche mir die Befunde von Herrn P. her- vor. Der arbeitslose Hartz-IV-Emp- fänger liegt im Einzelzimmer. Dort finde ich den dickleibigen Mitt- zwanziger im quietschbunten Jog- ginganzug beim Multitasking auf dem Bett vor: Während die Arztse- rie im Frühprogramm flimmert, fin- gert er am Handy. Ein Zweites liegt griffbereit. Auf dem Nachttisch sta- peln sich Chips und Schokolade, wohl aus dem Klinikshop. Die Be- grüßung beweist Vollkasko-Menta- lität. Den Blick starr zum Fernseher gerichtet, mault er : Wieso ich denn jetzt erst käme, das ganze Wochen- ende sei gerade mal „jemand“ zur Visite erschienen. Aber da habe er fest geschlafen. Er sei schließlich müde vom Durchfeiern gewesen.

Davon habe er Hunger bekommen.

Gegen 3 Uhr dann: Döner am Bahnhof. Der sei ihm nicht wirklich bekommen, sicher Lebensmittelver- giftung: Erbrechen, Bauchschmer- zen, aber wie! Lieber gleich ab in die Klinik, hätten die Kumpels auch Am brusthohen

Tresen, der ihren Arbeitsbereich ab- schirmt, quetscht sich eine dichte Traube von Men- schen. Alle wollen dasselbe: sofortige und bitte recht zu- vorkommende Be- dienung.

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22. Dezember 2014 gemeint. Hätte er gewusst, dass sich

hier keiner kümmert: „Nicht mal zu essen habt ihr was Vernünftiges!

Wann kann ich jetzt endlich ge- hen?“ – „Gegen ärztlichen Rat je- derzeit,“ erkläre ich, „hier ist kein Gefängnis. Aber sind Sie nicht mit unerträglichen Schmerzen gekom- men? Die sind bislang nicht abge- klärt. Im Röntgen sieht man zwar keine freie Luft im Bauch, aber bis- lang weiß keiner, wie krank oder gesund Sie sind.“ Solche Sorgen plagen ihn nicht: „Ich merke doch, ob ich gesund bin oder nicht“, höre ich. Ungelenk unterschreibt er die Erklärung, dass er die Klinik gegen ärztlichen Rat verlässt. Wortlos stopft er seine Sachen in Plastiktü- ten und verschwindet. Die Tür bleibt offen.

Nicht denken, funktionieren Seinen Fall werde ich später zeitauf- wendig bürokratisch bearbeiten müssen. Jetzt melde ich den Schwes- tern das freie Zimmer und erfahre, dass wir sofort einen 92-Jährigen von der Psychiatrie übernehmen sol- len. Das hat der Oberarzt gerade te- lefonisch angeordnet. Der demente Mann soll Lungenentzündung ha- ben. Die behandelt man mit Tablet- ten. Das kann man in der Abteilung angeblich nicht. Ist das zu verste- hen? Ich soll hier aber nicht denken, sondern funktionieren. Vielleicht kann Kaffee meinen Ärger besänfti- gen. Eben stehe ich in der Küche, da höre ich ein Bett über den Flur rum- peln: Der Zugang ist da. Das ging ja flott. Kurz danach hastet Schwester Nadine in die Küche. Blass flüstert sie: „Herr Doktor, sehen Sie bitte schnell nach dem Zugang.“ Ich stelle die Tasse ab, und folge ihr zum Pa- tienten. Der bläulich marmorierte 92-Jährige ist unverkennbar verstor- ben. Ich kann es nicht fassen. Die Schwestern, die den Toten verlegt hatten, sind verschwunden. Ich rufe empört den zuständigen Psychiater an. Der erscheint, kann aber nicht er- klären, wie so etwas möglich ist.

„Viel los heute“, murmelt er und verspricht, den Toten abholen zu lassen und dessen Angehörige zu in- formieren. Dann rücken die Psy- chiatrie-Schwestern wieder an. Na- dine kennt beide als erfahren und

zuverlässig. Ihr bleibt dieser Vorfall völlig rätselhaft.

Sie begreift ihn als bedauerli- chen Ausrutscher, nicht als Symp- tom. Das dahinter wirkende System erkennt sie nicht: Ständige Über- lastung bewirkt bei Menschen, dass sie zwar immer besser funktionie- ren, dafür aber immer weniger

wahrnehmen, was sie tun. Mensch- liche Medizin braucht teilnehmen- des Mitgefühl, Funktion distanziert.

Je imperativer die ökonomische Fuchtel dominiert, desto inhumaner wird Medizin. Patienten sind keine Kunden, Gesundheit keine Ware, Ärzte und Schwestern kein Service- Personal, Kliniken keine Repara- turbetriebe. Soll ein Gesundheits- system Gewinn erbringen, muss es funktionell sein. Medizin als zwi- schenmenschliche Beziehung wird dabei versachlicht. Profit für weni- ge macht alle zu Opfern. Interes- santerweise wird die unerbittliche Kälte dieser Entwicklung allgemein ignoriert. Lieber attackieren Ärzte, Schwestern und Patienten einander wechselseitig als gemeinsam die dafür verantwortliche Politik.

Keine Zeit zum Innehalten Solche Gedanken humpeln hinter der Realität her und schaffen keinen Platz für Zugänge. Potenziell könn- te ich drei Patientinnen entlassen, macht zusammen mit Herrn P. vier.

Damit bekämen alle Anwesenden

ein Bett. Die weiteren Zugänge ver- sorgt die Kollegin. Nacheinander begrüße ich meine drei Kandidatin- nen, alte bis sehr alte Damen und klassische Stammkundschaft. Wird eine ihrer zahlreichen Krankheiten ärger, kommen sie sofort. Jede ver- bringt jedes Jahr Wochen in der Kli- nik. Jedes Mal wird ihre Liegezeit länger, und sie selbst werden ein

bisschen weniger. Allen schwant, wie das enden wird, und sie freuen sich über die unerwartete Entlas- sung. Während die Schwestern die Heimtransporte organisieren, infor- miere ich die Hausärzte telefonisch über den Stand der Dinge, erstelle ihre Medikamentenlisten und dru- cke sie aus. Drei umfangreiche Briefe zu diktieren und sie nach dem Tippen zu korrigieren, würde endlos dauern: Die Bürokratie muss bis zum Abend warten.

Jetzt schreit die Stationsroutine nach mir: Etliche Patienten sind für ihre Untersuchungen (Magen-Darm- Spiegelung/CT) nicht aufgeklärt.

Blutentnahmen warten, venöse Zu- gänge sind anzulegen und Blutkon- serven anzuhängen. Beim Aufklä- rungsgespräch läuft ohne Brille und Hörgerät gar nichts, beide werden umständlich überall gesucht. Auf Zeitdruck reagieren alte Menschen noch langsamer, also muss ich äu- ßerst gelassen wirken. Unablässig unterbrechen mich Anrufe von Kol- legen, Rückfragen der Funktionsab- teilungen, Anordnungen der Ober- Immer kürzere

Liegezeiten er- zwingen maximale Diagnostik in mini- maler Zeit. Deshalb sind viele Patienten unablässig unter- wegs. Die Mehrzahl wird von den Schwestern im Bett oder Rollstuhl hin- oder hergeschoben.

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22. Dezember 2014 A 2271 ärztin. Dann bleibt der verdutzte Pa-

tient allein, und ich haste zum PC im Arztzimmer, um präzise Infos zu lie- fern oder neue Untersuchungen ein- zuspeisen. Unnötig zu erwähnen, dass in solchen Situationen der PC entweder von Kollegen genutzt, up- gedated wird oder abstürzt. Auch von den Schwestern kommen die Zwischenfragen hageldicht. Da soll mal einer sagen, dass der Alltag nicht spannend ist. Und jetzt zügig zu den Zugängen, deren Nerven schon blitzeblank liegen.

Die komplette Diagnostik Als erste begrüße ich die äußerst beleibte 83-jährige Frau D. – wir gehen ins Untersuchungszimmer.

Die Witwe lebt allein, vier Treppen hoch. Unten wohnen die Kinder, die nach ihr schauen. Letztmalig lag sie vor zwölf Wochen hier, diesmal kommt sie wegen Luftnot. Die Blickdiagnose klärt: Rechtsherz- schwäche hat Unter- und Ober- schenkel unförmig anschwellen las- sen. Ihr Medikamentenplan enthält hochdosiert Entwässerungsmittel.

Auf meine Frage erklärt sie zö- gernd: „Wenn ich die nehme, muss ich nachts immer raus.“ Also lässt sie die weg und schläft durch. Nun schwellen die Beine an, sie muss keuchen. Ich erkläre ihr den Zu- sammenhang. Der ist ihr völlig neu.

Auf Nachfrage höre ich, dass ihr Hausarzt sie angeblich weder unter- sucht noch überprüft hat, welche Tabletten sie nimmt. Als die Luftnot ärger wurde, habe er sie „zu Ihrer eigenen Sicherheit“ eingewiesen.

Käme das nicht so häufig vor – ich glaubte es nicht. Jetzt sind noch bü- schelweise Dokumente für die Ver- waltung und Anordnungen für die Schwestern auszufüllen – dazu noch die geplante Diagnostik dem PC einspeisen. Zum dritten Mal in diesem Jahr spult hier das umfäng- liche Programm der Herzdiagnostik ab. Alle freuen sich: Die Klinik macht Umsatz, Frau D. wird unter- sucht, ihre Verwandten entlastet, der Hausarzt spart Zeit und macht trotzdem keinen Fehler. Und die Krankenkasse zahlt alles.

Die Nächste ist Frau H., eine muntere, schlanke und vitale 79-Jährige. Abklärung nächtlicher

Tachycardien steht auf der Einwei- sung. Sie lag vor Jahren schon ein- mal hier und wurde nach medika- mentöser Einstellung beschwerde- frei entlassen. In letzter Zeit wacht sie nachts öfter mal mit oder wegen Herzrasen auf. Sonst geht es ihr gut.

„Wie lange muss ich bleiben?“, ist die erste Frage. Angst wegen ihres Herzens hat sie nicht, eher ihr Hausarzt. „Da muss man sehr vor- sichtig sein, gehen Sie damit lieber in die Klinik“, befand er kurz und wies sie ein. Weiter erfahre ich, dass sie seit einigen Monaten nur noch die Hälfte ihrer Antiarrhyth- mika nimmt. Sie verabscheut Tab- letten und wollte sehen, ob sie mit weniger auskommt. „Warum hat mich mein Arzt denn nicht nach den Tabletten gefragt?“, will sie von mir wissen. Das wüsste ich auch gerne.

Ich arbeite die übliche Bürokratie ab, und bereite Frau H. auf die komplette Herzdiagnostik vor.

„Wenn ich schon mal hier bin, geht das wohl nicht anders“, meint sie resigniert. „Hauptsache ist aber, in bin ganz schnell wieder draußen“.

„Ich weise Sie lieber ein.“

Ihr mächtiges Übergewicht schiebt die 84-jährige Frau W. erstaunlich flott voran. Allein bewältigt sie den Haushalt für sich und ihren Mann.

Seit Jahren plagt sie immer mal wie- der der Magen. Keines der zahlrei- chen Mittel vom Hausarzt hat gehol- fen, nun hat er sie zur Magenspiege- lung eingewiesen. Das ist ihr gar nicht recht, denn ihr behinderter Mann braucht ihre Hilfe. Der frü- heste ambulante Termin wäre erst in

vier Wochen verfügbar, und da hätte ihr Arzt plötzlich Druck gemacht:

„Kann ja auch mal was Schlimmes sein, ich weise Sie lieber ein“, hatte er ihr erklärt. „Versteh’ ich gar nicht, all die Jahre hat er doch nie was ge- macht. Meinen Sie denn auch, das ist jetzt was Ernstes?“, will sie von mir wissen. „Das werden wir schon sehen“, meine ich. „Jedenfalls zei- gen Sie keine Symptome dafür.“

„Glauben Sie, ich bin morgen wie- der draußen – so lange dauert das hier doch nicht, oder? Mein Mann kommt ohne mich einfach nicht zu- recht!“ Ich versichere, mein Bestes zu tun, und widme mich dem übli- chen bürokratischen Marathon.

Solche Situationen regelt seit letzter Woche eine Dienstanwei- sung, vom Chefarzt selbst im Kon- ferenzraum verkündet, in dem zuvor die Verwaltung getagt hat. Für je- den sichtbar steht ein großes Trip- tychon mitten im Raum: Auf schwe- felgelbem Grund arbeitet ein riesi- ges Räderwerk, das sich metallgrau verzahnt und an „Moderne Zeiten“

von Charly Chaplin erinnert. Darü- ber steht rostrot: „Der Arzt, ein wichtiges Rad im Gesundheitsbe- trieb.“ Ich staune, wie unge- schminkt die Verwaltung ihre me- chanistische Auffassung von Arzt und Medizin demonstriert. Der Chefarzt rapportiert: „Zunehmend lassen GKV-Versicherte Endosko- pien stationär durchführen, um Wartezeiten im ambulanten Bereich zu umgehen. Um sicherzustellen, dass die Kassen die deutlich teurere stationäre Untersuchung auch er- statten, muss diese im Entlassungs- brief explizit begründet werden.

Zum Beispiel durch den besonders schlechten Zustand des Betroffenen.

Das ist ab sofort umzusetzen. Ende der Sitzung.“ Anders formuliert:

Der Klinikarzt verbiegt Befunde so, dass der Klinik kein Geld entgeht.

Hauptsache keiner merkt was, so- lange die Krankenkassen liquide bleiben.

Nun ist endlich Zeit für die Visite ...

Beim Kauen fällt Blättern leichter als Diktieren, also greife ich nach dem dicken Wälzer mit den fleddrigen Krankenblättern von Frau R.

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Wie der Tag für Dr. med. Herbert Bliemeister weiterging, kann man im Internet unter www.aerzteblatt.de/katastrophe2 oder über QR-Code erfahren.

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