• Keine Ergebnisse gefunden

207 Christian Kehrt,

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "207 Christian Kehrt,"

Copied!
57
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Christian Kehrt, Moderne Krieger. Die Technikerfahrungen deutscher Mili- tärpiloten 1910–1945, Paderborn [u.a.]: Schöningh 2010, 496 S. (= Krieg in der Geschichte, 58), EUR 49,90 [ISBN 978-3-506-76712-7]

Es gibt viele Arten die Geschichte der Luftfahrt zu erzählen. Man kann das Leben der oft als »Ritter der Lüfte« apostrophierten Piloten beschreiben, der Professio- nalisierung und Technisierung des Berufsstandes nachgehen oder die technische Entwicklung von Flugzeugen und der Instrumententechnik in den Fokus stellen.

Luftfahrt im Sinne von Luftkampf wird innerhalb der Militärgeschichte als Ein- satz- und Kriegsgeschichte untersucht. Zahlreiche kulturhistorische Darstellungen zur Luftfahrtgeschichte widmen sich den aeronautischen Träumen und den kul- turellen und sozialen Projektionen seit Anbeginn der Menschheit. Wichtige Mo- nografien der letzten zwei Jahrzehnte legen den Schwerpunkt auf die Symbolkraft der Aviatik, ihre politische Bedeutung und Verortung in der Moderne (z.B. Fritz- sche, Nation of Fliers, 1993; Wohl, The Spectacle of Flight, 2005; Esposito, Mythische Moderne, 2011).

Das hier zu besprechende Buch von Christian Kehrt über die Technikerfahrun- gen deutscher Militärpiloten der Jahre 1910 bis 1945 verknüpft sozial-, technik-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen miteinander. Im Mittelpunkt steht aber weder die Gruppenbiografie noch die Technikgeschichte im engeren Sinne, zentral ist hier die Frage nach der Anwendung der neuen Technik. Die mit drei Wissenschaftspreisen ausgezeichnete Dissertation betritt mit diesem methodischen Ansatz Neuland. Kehrt unterscheidet drei Untersuchungsebenen: 1. die Diskurse- bene, in der es um die Heldenbilder und Denkmuster geht, die in den Print- und visuellen Medien präsentiert wurden, 2. die Erfahrungsebene, die sich auf Egodo- kumente von Piloten stützt; 3. die Praxisdimension. Kehrt untersucht auf dieser Ebene welche Mensch-Maschine Interaktionen und sozialen und kulturellen Prak- tiken vorliegen. Dafür wertete er u.a. Dienstvorschriften und technische Handbü- cher aus. Die »Erfahrungs- und Lernprozesse im Umgang mit der Technik« ge- winnt der Autor somit nicht aus subjektiven Erfahrungen einzelner Akteure, weil sich dadurch keine »allgemeine Erkenntnis« deduzieren lasse. Seine Definition von Erfahrung betont die diskursive Rahmung und die institutionelle Vermittlung per- sönlichen Erlebens. Um eine Verknüpfung struktureller und individueller Aspekte zu ermöglichen, bedient er sich der »Brückenkonzepte« des Dispositivs und des Habitus. Das »Dispositiv«, verstanden als eine Art technische Versuchsanordnung, die bestimmte Anforderungen erfüllen muss (Maschinengewehr als Gewaltdispo- sitiv, Schleudersitz als Sicherheitsdispositiv, Blindflug und Radar als weitere Dis- positive) tritt in Wechselwirkung mit den Habitualisierungen der Nutzer. In An- lehnung an Pierre Bourdieus Habituskonzept erforscht Kehrt in seiner Studie den Habitus des Luftwaffenoffiziers, um »Militärpiloten erstmals im Kontext techni- sierter Handlungszusammenhänge zu untersuchen« (S. 19).

Die Arbeit stützt sich auf eine breite Quellenbasis aus Erfahrungsberichten, Denkschriften, Tagebüchern, Luftwaffendienstvorschriften, amtlichen Schriftwech- seln, Dokumentationen aus Firmenarchiven und drei Zeitzeugeninterviews. Zum Ersten Weltkrieg greift der Autor vor allem auf Unterlagen aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv/Kriegsarchiv zurück. Um die Technikerfahrungen im Zweiten Weltkrieg zu analysieren, wertete er Pilotennachlässe aus dem Deutschen Technik- museum Berlin und dem Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg i.Br. aus, darunter den Nachlass des Geschwaderkommodore Hannes Trautloft.

(2)

Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile. Der erste Teil Neue Gewalthorizonte nimmt die Jahre 1908 bis 1918 in den Blick. Kehrt beschreibt die Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Luftkriegsvisionen und untersucht am Beispiel Boelcke, Immelmann und Richthofen, welche neuen und traditionellen Heldenbilder wirkten. In diese Zeit- spanne fällt auch die Entdeckung und Verwendung des militärischen Potenzials des Flugzeugs als Bombenflugzeug, Meldemittel und Infanterieflieger. Nicht nur der Stand der Flugzeugtechnik, sondern auch die körperlichen Belastungen, denen die Flieger ausgesetzt waren, werden veranschaulicht. Im fünften Kapitel wendet sich der Autor dem Luftkrieg als technisierte Gewaltpraxis zu. Da Flugzeuge im Ersten Weltkrieg hauptsächlich zur Luftaufklärung eingesetzt wurden, teilten sich im Cockpit Beobach- ter und Flugzeugführer die Aufgaben, anders als bei den ersten Jagdflugzeugen, (z.B.

Fokker Kampf-Einsitzer), wo der Pilot steuern und zugleich schießen musste. Aus Letz- terem entwickelte sich das Bild des Luftkampfs als Duell, das für die Heroisierung der Jagdpiloten bis heute prägend ist.

Der zweite, umfangreichere Hauptteil des Buches mit der Überschrift Die Aus- weitung und Entgrenzung der Gewalthorizonte untersucht das Erfahrungswissen von Militärpiloten in den Jahren 1933 bis 1945. Getrennt werden die Hauptabschnitte durch einen Exkurs über die Flugbegeisterung in der Weimarer Republik.

Der zweite Hauptteil beginnt mit dem nationalsozialistischen Fliegerdiskurs.

Vorbilder für die neue Pilotengeneration waren erfolgreiche Weltkriegsflieger wie Ernst Udet und Manfred von Richthofen. Ihr Heldenimage erfuhr jedoch eine ide- ologische Neuinterpretation, die Opfergeist, Vernichtungswillen, Härte und hero- ische Überwindung von Schmerzen in den Mittelpunkt der Verehrung stellte. För- derung und Inszenierung der Flugbegeisterung in Form von Flugzeitschriften, Filmen, Flugveranstaltungen, Modellflugzeugausstellungen waren an die Institu- tionen HJ und NS-Fliegerkorps gekoppelt und erklären die hohen Freiwilligen- zahlen für die Flieger-HJ und die Luftwaffe. Der Habitus des Luftwaffenoffiziers war aufgrund der Aufbaudynamik und der kriegsbedingten Veränderungen, die den wachsenden Personalbedarf über die Qualifizierung und Auswahl stellten, einem Wandel unterzogen.

Obwohl die Zusammensetzung des Offizierkorps der Luftwaffe heterogen war, arbeitet der Autor in Bezug auf die Technikerfahrung generationsspezifische Be- sonderheiten von vier Luftwaffengenerationen heraus. Dies ist nur ein Beispiel für die große methodische Bandbreite des Buches.

Das dritte Kapitel des zweiten Hauptteils behandelt den Spanischen Bürger- krieg als Testfeld der Technik. In Spanien wurden neue Flugzeugtypen unter Kriegsbedingungen erprobt und daraus rüstungstechnische und taktische Folgen abgeleitet; diese aktive Problemlösung durch Entwicklung ließ sich im Zweiten Weltkrieg nicht aufrechterhalten, wo mit zunehmender Dauer und im Kontext des entgrenzten Kriegsgeschehens die Mängel so zahlreich und gravierend waren, dass ein Zusammenwirken von Industrie, Erprobungsstellen, Ministerien und Front- praxis nicht mehr möglich war.

In den nächsten Kapiteln wendet sich der Verfasser ausführlich der flugmedi- zinischen Tauglichkeit und der Technisierung körperlicher Leistungsgrenzen zu.

Der Pilot stieß aufgrund der erweiterten technischen Möglichkeiten der Flugzeuge an neue körperliche Leistungsgrenzen. Die technische Überwindung solcher phy- siologischen Grenzen u.a. durch Sauerstoffgeräte, Druckanzeige, Druckkammern, Schleudersitze, Pharmazeutika war entscheidend für die Verwendbarkeit der Mi- litärflugzeuge und die Arbeit des Piloten.

(3)

Das nachfolgende Kapitel widmet sich der Automatisierung der Flugkontrolle.

Auch wenn der Habitus der Piloten auf der aktiven Kontrolle und Beherrschung der Technik basierte, gab es Technisierungsprozesse, welche die Handlungsmäch- tigkeit der Piloten infrage stellten. Der Blindflug beispielsweise musste in Flugsi- mulatoren geübt werden, um die Handgriffe in Handlungsroutinen umzuwandeln (vgl. dazu auch Nanz, Blindflug. Zur Psychotechnik des Piloten und seiner Instru- mente. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 2003/3; nicht im Literaturverzeichnis angeführt).

Der Autor diagnostiziert bei den Militärpiloten ein technikzentriertes Moder- nitätsbewusstsein. Sie lehnten die neue Technik nicht ab, sondern forderten die permanente Modernisierung und suchten die Technikgestaltung des Cockpits und die Anordnung der Waffen zu beeinflussen. Erfahrung, Wissen und Können des Piloten wurden nicht durch Technik abgelöst, sondern flossen in Habitualisierungs- prozesse z.B. beim Blindflug oder beim Starten und Landen ein. Doch anders als der Titel des Buches »Moderne Krieger« vermuten lässt, interessiert den Verfasser der Zusammenhang von Technikvorstellungen und Kultur der Moderne nur am Rande. Kehrt lehnt sich an Jeffrey Herfs Begriff des »reactionary modernism« an, um die Technikaffinität der NS-Elite zu erklären (S. 21) und sieht in Trautloft die Verkörperung des »modernen Kriegers«, weil dieser eine »technikzentrierte, mo- derne Fortschrittsideologie mit dem Ethos eines archaisch-urtümlichen Krieger- tums« verband (S. 290). Doch die modernen Elemente im Habitus des Militärpi- loten, die viel diskutierte Modernität der Technikideologie und -praxis im »Dritten Reich« oder der diskursive Umgang mit Modernisierungsprozessen im Bereich der Militärluftfahrt sind Themen, die Kehrt nur oberflächlich streift.

Die Studie offenbart ein hohes Abstraktions- und Reflexionsvermögen des Au- tors und weist mit einer enormen Vielfalt an Quellen, Themen und Ebenen auf.

Diese Stärke ist gleichzeitig auch eine Schwäche. Die Vielzahl an Kontrast- und Vergleichsebenen hinterlässt im Ganzen betrachtet einen disparaten Eindruck.

Hinzu kommt, dass es nicht jedem Leser leicht fallen dürfte, sich auf diskurstheo- retische und dispositivanalytische Definitionen und Deutungssysteme einzulas- sen. Doch ist das wissenschaftssoziologische Vokabular für die hier angewandte Methode des praxisorientierten Umgangs mit Technikgeschichte angemessen. Der Verfasser hat damit etwas gewagt, was oftmals gefordert, aber selten realisiert wird, nämlich den Versuch, soziologische Ansätze innerhalb eines fest umrissenen his- torischen Forschungsfeldes zu operationalisieren. Sollte der Leser den Erkenntnis- fortschritten praxeologischer Feldversuche kritisch gegenüberstehen, überzeugt das Buch in jedem Fall durch seine zahlreichen breit angelegten Fallstudien und die Materialfülle. Es gelingt dem Autor in hervorragender Weise, die Dynamik und Wechselwirkung zwischen technischer Höherentwicklung, den Erfahrungen und Kenntnissen des Piloten und den Forschungsergebnissen der Wissenschaft, insbe- sondere der Flugmedizin und Technik, für die Jahre 1910 bis 1945 sichtbar zu ma- chen.

Dorothee Hochstetter

(4)

Frank Golczewski, Deutsche und Ukrainer 1914–1939, Paderborn [u.a.]: Schö- ningh 2010, 1085 S., EUR 98,00 [ISBN 978-3-506-76373-0]

Die Beziehungen von Deutschen und Ukrainern zwischen 1914 und 1939 erwei- sen sich in doppelter Hinsicht als eine asymmetrische Geschichte: Hier ein mäch- tiger Militärstaat, der um seinen Status als Weltmacht kämpfte, dort eine agile Gruppe sozialistischer Intellektueller mit ihren überspannten Ideen von einer an- geblich 1000-jährigen Geschichte ihrer Nation. Im betrachteten Zeitraum aber hatte nur für kurze Zeit gegen Ende des Ersten Weltkrieges überhaupt ein ukrainischer Staat bestanden, der zudem auch noch von den Truppen der Mittelmächte fast voll- ständig besetzt war. Für das in einem Zweifrontenkrieg stehende Deutsche Reich war die Ukraine außer Polen und dem Baltikum allerdings immer nur eine Option zur Schwächung des zaristischen Russlands, während die ukrainischen Nationa- listen dagegen voll auf die deutsche Karte setzten und mangels Alternativen viel- leicht sogar setzen mussten. Zwar war die mit Deutschland verbündete Donaumo- narchie mit den Verhältnissen in Galizien und den östlich angrenzenden Gebieten erheblich vertrauter als die Vertreter des Auswärtigen Amtes, doch zugleich au- ßerstande, eine einseitige Stellung zugunsten der Ukrainer zu beziehen, von de- nen doch ein Teil als Ruthenen sogar innerhalb des Reiches lebten und in scharfer Konkurrenz zu den habsburgischen Polen standen.

Gegenüber dieser primären Asymmetrie auf staatlicher Ebene wurde jedoch der politische Diskurs über das, was die Ukraine war oder schließlich sein könnte, fast ausschließlich von den Protagonisten einer ukrainischen Staatlichkeit wie Dmytro Doncov oder Vjačeslav Lypynskyj bestimmt. Nur zu gerne glaubten Mi- litärs und Wirtschaftsführer im Reich nach dem deprimierenden Hungerwinter von 1916 und dem Ausbruch der Russischen Revolution an das trügerische Bild einer unerschöpflichen ukrainischen Kornkammer, die zugleich als strategische Landbrücke zu den begehrten Ölfeldern des Kaukasus und des Nahen Ostens die- nen konnte. Es war eine wirkungsmächtige Imagination, die trotz ihrer raschen und nachhaltigen Widerlegung nach der militärischen Besetzung des Landes im Frühjahr 1918 die Phantasie vieler Offizieller auf deutscher Seite noch im Vorfeld von »Barbarossa« beflügelte. Für die Ukrainer wiederum zahlte sich die einseitige Anlehnung an die Deutschen nach 1918 nicht aus, da dies ihre Vertreter in den Au- gen der siegreichen Entente desavouiert hatte und sie daher mit nur wenig Hilfe gegen den wieder erstarkenden Bolschewismus rechnen konnten. Die Staatlich- keit der Ukraine blieb somit nach dem Zusammenbruch der Mittelmächte im Ok- tober 1918 nur eine Episode.

Der Hamburger Historiker Frank Golczewski hat nun in einer gewichtigen Mo- nografie die facettenreiche Geschichte der Beziehungen der beiden Nationen bis zum Vorabend des Zweiten Weltkrieges nachgezeichnet und dabei auch die Polen mit einbezogen, sodass eigentlich von einer tripolaren Geschichte gesprochen wer- den muss. Es geht dem renommierten Experten für osteuropäische Geschichte al- lerdings weniger um die historischen Abläufe, die bereits hinreichend durch die Arbeiten von Borowsky und Baumgart geklärt sind, sondern mehr um ihre Deu- tung im Lichte der politischen Diskurse auf beiden Seiten. Deutlich wird hierbei, dass Fremdheit und Misstrauen in der deutsch-ukrainischen Zweckpartnerschaft überwogen und alle Beziehungen letztlich auf den Versuch einer Instrumentalisie- rung der Gegenseite hinausliefen.

(5)

Golczewski macht in seiner detailreichen Darstellung auch unmissverständlich deutlich, dass auf keiner Seite von einheitlichen Positionen ausgegangen werden darf. In beiden Lagern herrschten zu jeder Zeit unterschiedliche Vorstellungen über Ziele und Vorgehensweisen, die Golczewski ausführlich referiert und in ihren po- litisch-sozialen Kontext einordnet. So konkurrierten von Beginn an auf deutscher Seite Vorstellungen von einer unabhängigen Ukraine mit traditionellen Konzep- ten, die auf eine engere Zusammenarbeit mit Russland oder später mit der Sowjet- union setzten, während bei Ukrainern auch jene Positionen Gewicht hatten, die auf einen Verbleib des Landes innerhalb einer russischen Föderation setzten. Eine klare Entwicklungslinie von der deutschen Besatzungspolitik im Ersten Weltkrieg zum genozidalen Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten sieht der Verfasser al- lerdings nicht. Letztere sei ohne die ideologischen Radikalisierungen der Zwi- schenkriegszeit kaum denkbar gewesen. Insbesondere spielte im Ersten Weltkrieg der Antisemitismus auf deutscher Seite noch kaum eine Rolle.

Golczewskis Studie füllt fraglos eine Lücke der Historiografie Osteuropas, über- zeugend kann er darlegen, dass deutsche Imperialisten wie Paul Rohrbach die Uk- raine erst im Kriege als politischen Faktor wahrzunehmen begannen und dass – entgegen dem vor allem von Fritz Fischer konturierten Bild eines zielbewussten deutschen Imperialismus – die wesentlichen Impulse, sich überhaupt mit der Uk- raine zu befassen, von den Exilanten selbst ausgingen. Bei der Lektüre des um- fangreichen Textes, der ja nur der erste Teil einer noch umfangreicheren Geschichte der Beziehungen beider Nationen bis 1945 sein soll, stellt sich allerdings wieder- holt die Frage, ob die Behandlung dieses Nebenthemas der internationalen Ge- schichte – trotz der vom Verfasser reklamierten »Tabula rasa« – nicht doch knap- per und konziser hätte ausfallen müssen. Der Leserkreis scheint damit von vornherein auf das Fachpublikum beschränkt, was im Hinblick auf das spannende Thema zu bedauern wäre. Auch einige Überblickskarten hätten bei der Lektüre ge- holfen, da nicht jeder Leser Lage und Umfang der strittigen Teilgebiete genau vor Augen haben dürfte.

Klaus-Jürgen Bremm

Diana Carmen Albu-Lisson, Von der k.u.k. Armee zur Deutschen Wehrmacht.

Offiziere und ihr Leben im Wandel politischer Systeme und Armeen, Frank- furt a.M. [u.a.]: Lang 2011, 286 S., EUR 49,80 [ISBN 978-3-631-61351-1]

Schon zu Beginn der Lektüre dieser Wiener geschichtswissenschaftlichen Disser- tation fragt man sich, was eigentlich ihre Fragestellung ausmacht; diese Ratlosig- keit steigert sich von Seite zu Seite. Weder die äußerst knappe Einleitung noch der nachfolgende Text teilen mehr mit, als dass der Verfasserin aussagekräftige Quel- len (insbesondere Personalakten) zu insgesamt 1642 Offizieren der Armee des Habsburgerreiches vorlagen, die sich ab 1920 um Aufnahme in das Heer der Re- publik Österreich (zuerst als österreichische Wehrmacht, später als Bundesheer be- zeichnet) bewarben. Die Angaben der Bewerber zu ihrem Leben und Werdegang hat die Autorin in eine Datenbank übertragen, die insgesamt 69 Spalten und somit ebenso viele Einzelangaben umfasst (S. 13). Auf über 250 Seiten Text werden so- dann diese Daten statistisch ausgewertet, ohne dass klar wird, welches Erkenntnis-

(6)

interesse – über die bloße Mitteilung der ermittelten Werte hinaus – damit verbun- den sein soll.

Titel und Untertitel des Buches können diese Lücke umso weniger füllen, als sie in irreführender Weise den Eindruck erwecken, es ginge um eine Längsschnitt- studie von der späten Habsburgermonarchie bis zum »Anschluss« Österreichs an NS-Deutschland im März 1938. Tatsächlich liegt das Schwergewicht der Arbeit auf jenen Daten, die mit der Verwendung der Offiziere im Ersten Weltkrieg zusam- menhängen; alle übrigen Zeitabschnitte treten demgegenüber in den Hintergrund.

Erst in ihrer »Conclusio« bestätigt Albu-Lisson einen Verdacht, den der Leser schon während der Lektüre gehegt hat: Auf der vorletzten Textseite behauptet die Ver- fasserin, ihr Sample besitze »zu einem gewissen Teil doch repräsentativen Charak- ter für das Offizierskorps der gesamten Bewaffneten Macht der Donaumonarchie«

(S. 273). Davon kann schwerlich die Rede sein. Abgesehen davon, dass ein erheb- licher Teil der vor allem jüngeren Friedensoffiziere während des Krieges gefallen war, bewarben sich von den Überlebenden wohl nur jene um Übernahme in das österreichische Bundesheer, die ein Naheverhältnis zur jungen Republik hatten.

Es liegt auf der Hand, dass dies in erster Linie auf Deutschösterreicher zutraf, nicht hingegen auf ethnische Tschechen, Polen, Ungarn usw., die – wenn überhaupt – in die Streitkräfte der Nachfolgestaaten eintraten. Albu-Lissons Daten können sich folglich nur auf ein Segment des einst multi-ethnischen Offizierkorps der k.u.k.

Armee beziehen, was die Repräsentativität ihrer Aussagen stark einschränkt. Es ist bezeichnend für ihr Vorgehen, dass solche zentralen Probleme des Quellenkor- pus nirgendwo reflektiert, sondern erst gegen Ende en passant mitgeteilt wer- den.Ohne erkennbare Methodik präsentiert sich die Wiedergabe der 69 erfassten Einzeldaten, bei denen keine sinnvolle Auswahl mit Blick auf eine grundlegende Fragestellung vorgenommen, sondern einfach Befund an Befund gereiht wird. Ne- ben relevanten Kategorien (Lebensalter, Beförderungstempo, Waffengattung, Fa- milienstand usw.) finden sich lange Abschnitte, die nur als Kuriosität bezeichnet werden können. Rund 25 Seiten umfasst allein das Kapitel über die den Offizieren verliehenen Dekorationen, die separat für jede einzelne Auszeichnung, angerei- chert mit langen ordenskundlichen Erläuterungen, dargestellt werden. Auf die Er- fassung der Vornamen der Offiziere verwendet die Autorin insgesamt sechs Sei- ten, sodass man die weltbewegende Tatsache erfährt, dass es unter den Bewerbern einen Theobald, 38 Richards, 10 Pauls usw. gab. Wem ist mit solchen Auszählungen jedes vorkommenden Vornamens (!) gedient? Hier wie auch sonst wird der Blick des Lesers nicht etwa auf das Wesentliche gelenkt, sondern schlichtweg jede in den Quellen, wenn auch noch so vereinzelt, vorkommende Angabe referiert. Typisch ist der Abschnitt über die Sprachkenntnisse der Offiziere, der nicht allein die in der Habsburgermonarchie gebräuchlichen sowie die Weltsprachen Englisch und Französisch erfasst; man erfährt auch, dass nur eine Handvoll Offiziere Esperanto, Schwedisch, Norwegisch und Arabisch beherrschte (S. 129). Wer hätte das ge- dacht?

An den wenigen Stellen, an denen die Autorin eigene Interpretationen wagt, begibt sie sich häufig auf dünnes Eis. So dürfte die hohe Zahl an Eintritten in die Armee im Jahr 1914 nicht auf »Enthusiasmus« (S. 241) zurückgehen, sondern mit der Mobilmachung zu Kriegsbeginn zusammenhängen. Die unterschiedlichen Jahrgangsstärken der Eintretenden lassen keine Rückschlüsse auf die steigende oder fallende Beliebtheit des Offizierberufs zu, da lediglich jene erfasst wurden,

(7)

die 1920 noch am Leben waren und sich beim österreichischen Bundesheer bewar- ben (S. 239). Abwegig ist es, die in Böhmen oder Mähren geborenen Bewerber als

»Tschechen« zusammenzufassen (S. 93), da es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht um solche, sondern um deutschsprachige Österreicher gehandelt hat. Abgerundet wird dieser Eindruck durch sachliche Fehler, welche Albu-Lisson im Zuge der Eingabe ihrer Daten unterlaufen sind. So ist es etwa aus- geschlossen, dass ein Offizier schon nach vier Dienstjahren den Rang eines Oberst- leutnants erreichte (S. 242); der englische Ausdruck für eine Kriegsneurose lautet

»shell shock«, nicht »sell schock« (S. 173), das deutsche Eiserne Kreuz existierte in zwei, nicht drei Stufen (S. 215) usw.

Ein Kapitel für sich ist die Art und Weise, wie die Autorin ihre Befunde präsen- tiert. Auf den ersten Blick scheinen diese durch Diagramme, Grafiken und Tabel- len anschaulich umgesetzt zu sein. Die zahlreichen Kreisdiagramme in der Größe einer 10-Cent-Münze sind jedoch samt ihren Erläuterungen kaum zu erkennen;

manche Grafiken sind ebenso wie die darin erfassten Daten schlichtweg überflüs- sig (z.B. S. 271, Angaben zu den Todesjahren – zwischen 1946 und 1991 – jener k.u.k. Offiziere, die von der Deutschen Wehrmacht im Generalsrang übernommen wurden). Die Erläuterungen zu den Schaubildern sind mitunter unverständlich, so wenn es heißt: »Am Balkan waren um ca. 2,6 Mal weniger Frontdienste als ge- gen die russischen Truppen zu verzeichnen« (S. 149). Besonders schlimm wird es dort, wo sich schlechter Stil mit der Ableitung sinnloser Korrelationen paart: »Die Gruppe der Hauptleute bzw. Rittmeister stellte die zahlenmäßig größte Chargen- gruppe dar mit 747 Personen oder 45,5 % – dies war um 57,3 % mehr als bei den den Dienstgrad ›Major‹ Tragenden. Knapp dahinter standen die jungen Oberleut- nante mit 19 %. Waren die Oberstleutnante um 75,6 % weniger als die Hauptleute, so gab es in der Charge ›Leutnant‹ und ›Oberst‹ um 93,7 % respektive 95,3 % we- niger Militärs im Vergleich zum Dienstgrad ›Hauptmann‹« (S. 244). Oder: »Um 6,4 Mal mehr Offiziere besaßen Kenntnisse des Tschechischen. Dagegen konnten nur 13 Heeresangehörige Ukrainisch sprechen, also, verglichen mit den Tschechisch Sprechenden, um 41 Mal weniger Offiziere« (S. 126).

Erst gegen Ende gibt es einige Lichtblicke in dieser Arbeit. Interessant ist im- merhin, dass knapp drei Viertel der um 1920 in das Bundesheer aufgenommenen Offiziere 1928 noch in dessen Dienst standen (S. 257) und dass nach dem »An- schluss« 1938 rund zwei Drittel der zu diesem Zeitpunkt noch Aktiven verabschie- det, also nicht in die Wehrmacht übernommen wurden (S. 264). Dies mag in vie- len Fällen freilich mit dem Lebensalter der Betroffenen zu tun gehabt haben. Einige kurze Passagen befassen sich abschließend mit jenen, die in der Wehrmacht Kar- riere machten. Eine wirkliche Zusammenfassung der Befunde fehlt.

In Summe legt man den Band mit Verdruss aus der Hand. Er bestätigt, dass bloßer Sammlerfleiß, der Albu-Lisson nicht abgesprochen werden soll, das Fehlen einer klar definierten Fragestellung, gekoppelt mit einer sinnvollen Präsentation der Ergebnisse, nicht ersetzen kann. In diesem Buch werden derart viele, vollkom- men irrelevante Befunde in einer derart missglückten Form dargelegt, dass die zweifellos investierte Energie der Autorin weitgehend verpufft. Unverständlich bleibt, wie ein solches Sammelsurium von Fakten als Dissertation angenommen und auch noch gedruckt werden konnte.

Martin Moll

(8)

Oswald Überegger, Erinnerungskriege. Der Erste Weltkrieg, Österreich und die Tiroler Kriegserinnerung in der Zwischenkriegszeit, Innsbruck: Wagner 2011, 304 S. (= Tirol im Ersten Weltkrieg, 9), EUR 32,00 [ISBN 978-3-7030- 0493-3]

Die Studie von Oswald Überegger untersucht die Erinnerung an den Ersten Welt- krieg im Bereich des heutigen Bundeslandes Tirol, also unter Ausklammerung Süd- tirols und des Trentino. Erinnerung wird dabei in einem weiten, sozialgeschicht- lichen Sinne verstanden, bei dem verschiedenste Akteure, Orte und Medien des Erinnerns in den Blick geraten. Der Autor vermeidet damit die in der Forschungs- literatur nicht nur zu Österreich oft anzutreffende Fokussierung auf einen einzel- nen empirischen Zugang zu Erinnerungsmustern, wie etwa die Analyse von Krie- gerdenkmälern. Überegger benutzt den von Jan Assman entlehnten Begriff der

»Erinnerungsfiguren«, um zentrale Themen der diskursiven Auseinandersetzung mit dem Trauma der Niederlage wie etwa den Mythos der »undankbaren Heimat«

im Schnittfeld von Wahrnehmung, Legendenbildung und politischer Instrumen- talisierung des Erinnerns zu situieren (S. 16 f.). Sein besonderes Augenmerk gilt den Überschneidungen und Dissonanzen zwischen »öffentlich inszenierter Kriegs- erinnerung und individuellen Erinnerungsmustern«, oder, mit anderen Worten, der Spannung zwischen Gedächtnis und Gedenken (S. 11). Das ist ein überaus an- spruchsvolles Forschungsprogramm, das in direkter, steter Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur zu vielen empirischen und konzeptionellen Fra- gen durchgeführt wird, die vor allem von französischen, britischen und deutschen Historikern vorgelegt worden ist. Überegger kann sich dabei auf eine reiche und für diese Zwecke noch nicht erschlossene Quellenüberlieferung stützen. Neben den einschlägigen Akten des Österreichischen Staatsarchivs und des Tiroler Lan- desarchivs sind dies eine Fülle von komplett durchgesehenen regionalen Tages- zeitungen und Verbandszeitschriften sowie eine ganze Reihe von Titeln aus der selbstständig publizierten Erinnerungsliteratur.

Im ersten umfangreichen Abschnitt (S. 49–126) untersucht Überegger zunächst die im engeren Sinne »militärischen« Erinnerungskulturen, wie etwa den instru- mentellen, »strategiegeleiteten« Umgang des Offizierkorps mit dem Topos der un- dankbaren Heimat oder dem Kameradschaftsmythos (S. 54). Das geschickt ge- nutzte Aktenmonopol des österreichischen Kriegsarchivs und die 1925 mit dem Übergang zum deutsch-nationalen Edmund Glaise von Horstenau als Direktor auch personell vollzogene »konservative Wende« (S. 70) in der offiziellen Militär- geschichtsschreibung sicherten der Militärelite eine privilegierte Position bei der Produktion und Verbreitung von Erinnerungsdiskursen. Damit vollzog sich eine Restauration von Sinngebungsmustern, welche die Vergangenheit des Weltkrieges hochgradig selektiv in der Hervorhebung von als »heroisch« markierten Ereignis- sen, Personen und Narrativen erinnerte und dabei Fragen nach der Schuld am Weltkrieg oder den Ursachen der Niederlage im konservativen Sinne beantwor- tete. Diese öffentliche Propagierung von exkulpatorischen Kriegsdeutungen war eingebettet in die sozialen Netzwerke der organisierten »Veteranenkultur« (S. 257), die ihr einen Resonanzraum schuf. An der Spitze standen dabei die Regiments- und Traditionsvereine der Tiroler Kaiserjäger- und Kaiserschützen-Regimenter, die mit einer stark familienbezogenen Rhetorik das »Zauberwort« der Kamerad- schaft zum diskursiven Mittelpunkt der soldatischen Erinnerungskultur aus- formten (S. 103). In der revolutionären Umbruchphase des Jahres 1919 gab es den

(9)

Versuch, pazifistische und kriegskritische Soldaten aus der Arbeiterschaft in einem sozialdemokratischen »Verein dienender und gedienter Soldaten« zu organisieren und damit die »Erbitterung« gegen den Krieg und die klerikale Politik in die Er- innerungskämpfe in der Republik als kritisches Potenzial einzubringen (S. 110).

Dieser Versuch blieb allerdings erfolglos, die Kriegskritik vieler kleinbürgerlicher

»Mitläufer« nur Episode, und so blieb den Sozialdemokraten nur die undankbare Aufgabe, jene Menschen als »Vergessmaschinen« anzuprangern, die sich an den Erinnerungsritualen unter Ausblendung der Frage nach den Nutznießern des Krieges beteiligten (S. 111).

In einem zweiten längeren Abschnitt (S. 127–180) untersucht Überegger Krie- gerdenkmäler als Medien der lokalen Kriegserinnerung. Er arbeitet dabei in einer grundlegenden Kritik die Mängel einer rein ikonografischen oder ikonologischen Analyse des Denkmalkultes heraus, wie sie sich vor allem im Gefolge der Arbei- ten von Reinhart Koselleck historiografisch weit verbreitet hat (S. 128 ff.). Eine sol- che auf die Symbolik der figuralen und architektonischen Elemente des Denkmals begrenzte Analyse greift insofern zu kurz, als sie die Sinnhaftigkeit dieser Sym- bole für die am lokalen Gemeindelokal versammelten Erinnerungsgemeinschaften gerade für den ländlichen Raum überschätzt. Selbst die – in Absprache mit den Architekten – zumeist allein über das Design befindenden lokalen Honoratioren waren weniger an der Symbolik interessiert als am Aufstellungsort. Zudem war die katholische Kirche, wie eine quantitative Analyse der Aufstellungsorte auf- zeigt, der wichtigste Akteur im Denkmalskult, sodass eine christliche Ikonografie ohnehin überwog. Überegger fokussiert die Analyse stattdessen auf den »Konfor- mitätszwang« (S. 143), den die Errichtung von gemeindlichen Kriegerdenkmälern mit sich brachte, und arbeitet die Rolle der Heimkehrer als bloße »Statisten« bei den Gefallenenehrungen heraus (S. 152). Mit einer detallierten Analyse der die Er- innerung an die Toten aktualisierenden Gedenkrituale zeigt Überegger auf, wie der Krieg in erster Linie als ein »Verteidigungskrieg« gegen den italienischen Feind erinnert wurde (S. 162). Das war eine funktionale Form des Gedenkens, die letzt- lich vor allem der Repräsentation der Macht der konservativ-klerikalen Eliten diente.

Weitere, kürzere Abschnitte des Bandes widmen sich dem Topos des von der Heimat verratenen Kriegsheimkehrers, der spezifischen Rolle kirchlicher Rheto- rik in der Kriegserinnerung sowie der »Generation Nachkrieg«, also den im Schat- ten der inszenierten Kriegserinnerung aufwachsenden Jugendlichen der 1920er Jahre. Überegger bietet hier gute kritische Argumente gegen eine Überbetonung der Militarisierungstendenzen unter den Jugendlichen, indem er auf den geringen Organisationsgrad der deutsch-national orientierten Jugendverbände verweist, die solche Sinnmuster vor allem propagierten (S. 228 f.). Ein abschließender, höchst aufschlussreicher Abschnitt verfolgt die Ambivalenzen in der massenmedialen Er- innerung an den Gebirgskrieg, in der sowohl die archaischen, »aktiv-heldenhaften«

und damit um Individuen zentrierten Elemente dieses Kriegstheaters als auch die

»modernen«, von der Technologie bestimmten Momente hervortraten (S. 245).

Die wichtige Studie von Oswald Überegger setzt Maßstäbe für jede künftige Beschäftigung mit der Kriegserinnerung in der Zwischenkriegszeit, nicht nur mit Blick auf die Forschung zur Republik Österreich, sondern auch in vergleichender, internationaler Perspektive. In politikgeschichtlicher Hinsicht zeigt diese Studie, warum gerade im Kontext einer weitgehend gelungenen Reintegration der Kriegs- heimkehrer konservativ-klerikale, der Schuldabwehr dienende Erinnerungsfiguren

(10)

rasch hegemoniale Geltung erlangen konnten. In methodisch-konzeptioneller Hin- sicht besticht diese Studie, indem sie untergründige, persönliche Facetten der Kriegserinnerung aufzeigt, die trotz der öffentlichen Hegemonie konservativ-na- tionaler Topoi Relevanz besaßen. Dies gilt etwa für die Krise der Schützenvereine.

Diese waren durch den Vertrag von St. Germain ohnehin auf eine lokale Pflege des Schützenwesens zurückgeworfen. Zugleich artikulierten viele Mitglieder aber deutlich die Angst davor, aufgrund ihrer Fähigkeit im Umgang mit Waffen wo- möglich erneut zum Kriegseinsatz herangezogen zu werden. Zudem war das Schie- ßen auch als Hobby in der Sicht vieler Veteranen generell diskreditiert (S. 120 f.).

In komparativer Hinsicht zeigt Überegger, wie eine auf der Höhe des Forschungs- standes argumentierende Regionalstudie wichtige neue Thesen und Befunde in die internationale Diskussion über die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ein- bringen kann.

Benjamin Ziemann

Rüdiger Bergien, Die bellizistische Republik. Wehrkonsens und »Wehrhaft- machung« in Deutschland 1918–1933. Hrsg. mit Unterstützung des Militär- geschichtlichen Forschungsamtes, Potsdam, München: Oldenbourg 2012, 452 S. (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, 35), EUR 59,80 [ISBN 978-3-486-59181-1]

Überzeugten Republikanern und Demokraten wird die These, die Weimarer Re- publik sei eine bellizistische, sich auf die Führung eines künftigen Krieges aktiv vorbereitende gewesen, gegen den Strich gehen, wird doch häufig die Auffassung vertreten, Demokratien seien per definitionem friedliche, jeglichem Militarismus abholde Systeme. Mit Blick auf Weimar wird allenfalls eingeräumt, die durch den Versailler Vertrag auf 100 000 Mann beschränkte Reichswehr habe sich zum Staat im Staate entwickelt und ein geheimes Aufrüstungsprogramm an der politischen Führung vorbei bzw. gegen deren Willen betrieben. Mit derlei Vorstellungen, die maximal eine Unterlassungsschuld der demokratischen Politiker konzedieren, räumt die vorliegende Studie – die Druckfassung einer 2008 an der Universität Potsdam verteidigten philosophischen Dissertation – gründlich auf.

Die Kernthese des Buches lautet: Kennzeichnend für die Weimarer Republik war nicht die Existenz einer hinsichtlich der »Wehrhaftmachung« zwischen links und rechts gespaltenen Nation, sondern ein lagerübergreifender, von ganz rechts bis zur Mehrheit der Sozialdemokratie reichender Konsens über die Notwendig- keit, das ab 1919 weitgehend entwaffnete, in Ost und West von bedrohlichen Nach- barn umgebene Reich mit legalen oder illegalen Mitteln in einen adäquaten Ver- teidigungszustand zu versetzen. Angesichts der Erfahrungen des Weltkrieges bestand ferner Einigkeit darüber, dass derlei Ziele, selbst wenn sie bescheiden di- mensioniert waren, nur mittels enger Kooperation zwischen den Militärs, der zi- vilen Verwaltung und der Gesellschaft zu realisieren waren. Diese Hauptthesen sowie weitere, noch vorzustellende Nebenthesen verifiziert Bergien am Beispiel Preußens (mit Ausblicken auf größere Länder wie Bayern) sowie durch drei lokale Fallstudien. Sein Blick ist stets auf die politischen und, weniger ausgeprägt, mili- tärischen Entscheidungsträger gerichtet, wobei er von der Reichsspitze abwärts

(11)

unterschiedliche Verwaltungsebenen wie Ober- und Regierungspräsidenten, Landräte und Bürgermeister, Führer diverser Wehrverbände etc. beleuchtet.

Teil A »Voraussetzungen des Wehrkonsenses« verdeutlicht auf 60 Seiten die Forschungsfelder, den Forschungsstand sowie die Quellenlage, thematisiert das Wechselverhältnis zwischen handlungsleitenden Ideen und der Verwaltungspra- xis und definiert zentrale, in der Studie gebrauchte Begriffe, wobei Bergien insbe- sondere »Bellizismus« vom gängigeren »Militarismus« abgrenzt. Es folgt eine Skizze des ideengeschichtlichen Hintergrunds, des sich in den Befreiungskriegen gegen Napoleon herauskristallisierenden Leitbilds der Landesverteidigung, die schon im 19. Jahrhundert als eine zivil-militärische Querschnittsmaterie galt und als Integrationsbegriff die Grundlage für den parteienübergreifenden Wehrkon- sens der Zwischenkriegszeit legte.

»Entwicklungslinien der Wehrpolitik« widmet sich der chronologisch aufge- baute, rund 120 Seiten starke Hauptteil B. Materialreich legt Bergien dar, wie die Bedrohung der jungen Republik durch den polnischen Nachbarn im Osten ange- sichts der Schwäche der Reichswehr den Einsatz von Einwohnerwehren und sons- tiger Milizen zu einer unabweisbaren Notwendigkeit machte. Die SPD war darin restlos eingebunden, drängte aber nach den Erfahrungen mit der Verselbstständi- gung einzelner Wehrverbände auf deren stärkere Verankerung in staatlichen Struk- turen – eine Tendenz, der die kontinuierlichen Skandalmeldungen über geheime Rüstungen sowie Fememorde der »schwarzen Reichswehr« zusätzlich Nahrung gaben. Politiker im Reich wie in Preußen reagierten darauf mit der Etatisierung und damit Versachlichung der Geheimrüstung – ein »im Wortsinne gesamtstaat- liches und lagerübergreifendes Projekt« (S. 119). Erst um 1929/30, mit der Welt- wirtschaftskrise und dem Übergang zum Präsidialsystem auf Reichsebene, geriet die Landesschutzorganisation (LO) zunehmend in die Krise: Weil die SPD sich zu- rückzog, avancierte die LO zu einer Domäne der republikfeindlichen Rechten in- klusive der NSDAP. Die administrativen Eliten in den bedrohten Gebieten zogen, unabhängig von ihrer politischen Einstellung, einen rechten Grenzschutz keinem Grenzschutz vor (S. 136). Damit war der um 1920 anhebende Übergang zu einem nationalistisch-etatistischen, die »Wehrhaftmachung« als Mittel nationaler Integra- tion einsetzenden Bellizismus zu Lasten eines republikanischen Denkstils abge- schlossen (S. 125 f.). Da die zwar bellizistische, jedoch am Primat des Republik- schutzes orientierte Variante des Wehrkonsenses übergeordneten wehrpolitischen Erwägungen im Weg zu stehen schien, bildeten Letztere nach der wohlbegründe- ten Meinung Bergiens ein wesentliches, bislang kaum berücksichtigtes Motiv für den Übergang zum Präsidialsystem (S. 132 f.).

Der 160 Seiten starke Teil C, »Die Praxis der ›Wehrhaftmachung‹«, führt die im vorherigen Hauptteil entwickelten Thesen an das lokale Geschehen angelehnt nä- her aus, beleuchtet nochmals die Rüstungsfinanzierung, die konfliktreiche Erstel- lung von Richtlinien für die LO, deren Professionalisierung durch die Einbindung militärisch geschulter Kräfte, Bewaffnung und Ausbildung der männlichen Bevöl- kerung insbesondere in den Ostgebieten sowie die Rolle der Zivilverwaltung bei all dem. Anregend sind die Mikrostudien dieser Vorgänge in je einer Region in Hinterpommern, der Prignitz und Hessen. Es gelingt dem Verfasser, kleinräumige, dicht geknüpfte Netzwerke der Landesverteidiger an den Schnittstellen von Reichs- wehr, Lokalverwaltung und Wehrverbänden lebendig zu machen und darzulegen, wie schwer es fiel, sich insbesondere in Ostelbien der Sogwirkung dieser Netz- werke zu entziehen. Gerade dort bellifizierte die soziale Praxis die regionalen Le-

(12)

benswelten und somit auch die politische Kultur (S. 350). In Summe zeigt sich,

»dass die Landesschutzarbeit im Reichsinneren völlig von der Mobilisierungskraft der paramilitärischen Verbände abhängig war« (S. 330).

Ein etwa 50 Seiten langes Schlusskapitel (Teil D: Bellizistische Republik) fasst die Befunde konzis zusammen und schlägt die Brücke zum Machtantritt Hitlers Anfang 1933, dessen Wehrpolitik bis Ende 1934 als nur geringfügig modifizierte Fortsetzung der von der Republik verfolgten Linie gedeutet wird. Bilanzierend hält Bergien fest, dass der Wehrkonsens zwar ein parteien- und lagerübergreifen- des Integrationsinstrument darstellte und seine Reichweite deutlich größer war als bisher angenommen, dass jedoch auch ihm Grenzen gesetzt waren und die Zwei- teilung der politischen Landschaft in jene, welche primär die republikanische Ord- nung schützen wollten, und jene, denen es um den wehrhaften Staat bzw. das wehr- hafte Volk ging, nicht jeder Grundlage entbehrt.

Selten hält man ein Buch in der Hand, welches das, was es einleitend zu leisten verspricht, auf Punkt und Beistrich einlöst. Die Arbeit verfügt über eine wohlüber- legte Fragestellung, ein geeignetes theoretisches Instrumentarium sowie eine un- gemein breite Quellenbasis, dessen archivalischer Teil aufgelistet sieben Seiten ein- nimmt. Will man überhaupt etwas Kritikwürdiges erwähnen, so den Umstand, dass sich Bergien von den nominellen Erhöhungen der deutschen Rüstungsausga- ben blenden lässt (S. 204): Die auf dem Papier beeindruckenden, prozentuellen Steigerungen bezogen sich auf ein extrem niedriges Ausgangsniveau und blieben bis 1933 meilenweit hinter den Militärausgaben vergleichbarer Staaten zurück.

Aber das ist fast schon Beckmesserei und tut dem Wert dieser quellennahen, flüs- sig geschriebenen Studie keinerlei Abbruch. Sie hat das Format, unsere Sicht der Innen-, Wehr- und Außenpolitik der Weimarer Republik nicht nur zu modifizie- ren, sondern teilweise auf eine neue Grundlage zu stellen.

Martin Moll

Handbuch zum Widerstand gegen Nationalsozialismus und Faschismus in Europa 1933/39 bis 1945. Hrsg. von Gerd R. Ueberschär unter Mitarb. von Peter Steinkamp, Berlin: de Gruyter 2011, XI, 383 S., EUR 78,00 [ISBN 978-3-598- 11767-1]

Gerd Ueberschär, ehemaliger Historiker im Militärgeschichtlichen Forschungsamt, ist als Herausgeber einer Vielzahl von Sammelbänden zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus hervorgetreten. Jetzt ergänzt er seine editorische Tätigkeit durch einen Band, der Widerstand und Opposition gegen den Nationalsozialis- mus ebenso wie gegen andere europäische Faschismen zusammenfasst. Mit die- sem Band greift Ueberschär frühere Ansätze auf (etwa in: Der deutsche Wider- stand gegen Hitler. Wahrnehmung und Wertung in Europa und den USA. Hrsg.

von Gerd R. Ueberschär, Darmstadt 2002). Dafür hat er teilweise einheimische Fachkollegen, teilweise deutsche Kenner der Materie gewonnen, die häufig seit Jahren in ihren Themengebieten ausgewiesen sind. Die Beiträge lassen erkennen, dass der Herausgeber die Autoren wohl gebeten hat, am Ende auch die Forschungs- geschichte zum jeweiligen Thema in dem betroffenen Land zu behandeln; die meis- ten Beiträger sind dieser Vorgabe gefolgt, einige haben auch ein (teilweise kom- mentiertes, gelegentlich unvollständiges) Literaturverzeichnis angefügt.

(13)

Widerstand gegen Nationalsozialismus und Faschismus kennt dabei verschie- dene Motivkomplexe: zum einen sind da die faschistisch beherrschten Länder selbst, in denen Gruppen unterschiedlicher sozialer Herkunft und politischer Vor- stellungswelt, von den Nationalkonservativen bis zu den Kommunisten, häufig aus den früheren Parteien der vor-faschistischen Zeit erwachsen, gegen die eigene Regierung opponieren. Der Herausgeber selbst breitet hier als erstes das Spektrum von Widerstand und Opposition in Deutschland aus, wobei die wirklich für das NS-Regime existenzgefährdende nationalkonservative Bewegung, die im 20. Juli 1944 kulminiert, angesichts des begrenzten Platzes recht knapp abgehandelt wird.

Sodann behandelt der Band jene Staaten, die von Deutschland militärisch be- setzt wurden, also Dänemark, Norwegen, die Benelux-Staaten, Frankreich, die Balkanländer und vor allem die Staaten der damaligen Sowjetunion. In diesen Ge- bieten vermischen sich antifaschistische und nationale Beweggründe; gerade in den nichtrussischen Republiken der Sowjetunion richtet sich Widerstand zunächst gegen die sowjetische Besetzung und erst später gegen die Deutschen. Dabei wird deutlich, dass die ideologiebezogene Definition des Widerstandsbegriffs, wie sie der Titel des Bandes impliziert, dem komplexen Phänomen nur begrenzt gerecht wird. Gerade für die Gebiete der damaligen Sowjetunion zeigt der Beitrag von Bernd Bonwetsch die Vermischung nationaler und ideologischer Motive mit den Zwängen der deutschen ebenso wie der sowjetischen Repression auf. Die Partisa- nen werden vor allem in der sowjetischen Geschichtsschreibung auf eine »antifa- schistische« Bewegung reduziert; dass ihnen wie dem »Großen Vaterländischen Krieg« ganz allgemein ein erhebliches nationales Element anhaftet, und dass sie zu einem wesentlichen Teil Ergebnis der deutschen Vernichtungs- und Ausbeu- tungspolitik sind, wurde vor 1991 lange verschwiegen.

Das länderweise Vorgehen hat gewisse Unausgewogenheiten zur Folge. So wer- den die besetzten Westgebiete der Sowjetunion auf 14 Seiten abgehandelt, wäh- rend Transnistrien mit acht Seiten zu Buche schlägt, Luxemburg mit zehn, und die drei baltischen Staaten zusammen mit 30. In ähnlicher Weise werden die Teilstaaten Jugoslawiens getrennt betrachtet. Das hat seinen Grund aber wohl auch in dem Anspruch, nicht nur die Zeit von 1939–1945 zu schildern, sondern zugleich die Ge- schichtsschreibung zum Thema bis in die Gegenwart nachzuverfolgen. In den so- zialistischen Staaten ist hier durchgängig zu konstatieren, dass bis zum Zerfall des

»Ostblocks« fast ausschließlich der kommunistisch gesteuerte Arbeiterwiderstand im Fokus der Betrachtung stand, während andere Formen schnell als »konterre- volutionär« abgetan oder einfach beschwiegen wurden. Seit der Wiedergewinnung der nationalen Souveränität konzentriert sich die öffentliche Wahrnehmung dage- gen auf die nationalen Aspekte von Widerstand. In vielen Ländern sind die Fra- gen von Kollaboration und Mitläuferschaft noch immer tabu, in anderen – etwa Polen, für das der Breslauer Historiker Krzysztof Ruchniewicz einen ausgezeich- neten und umsichtigen Aufsatz beigesteuert hat – hat die Aufarbeitung dieses dor- nigen Themas zu erheblichen geschichtspolitischen Auseinandersetzungen ge- führt.

Im letzten Teil widmet sich der Band dem Widerstand im und aus dem Exil – eine in Deutschland lange abwertend wahrgenommene Form von Widerstand, man denke etwa an die langlebigen Vorbehalte gegen Willy Brandt oder Marlene Dietrich. Aber auch hier wird der Band seinem europäischen Anspruch gerecht:

ein eigener Beitrag widmet sich dem Widerstand des italienischen Exils.

(14)

Insgesamt bietet das Buch einen soliden Einstieg in das breit gefächerte Feld, ohne den bisherigen Erkenntnissen der Forschung Neues hinzuzufügen.

Winfried Heinemann

Es lebe das ›Geheime Deutschland‹! Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Per- son – Motivation – Rezeption. Beiträge des Sigmaringer Claus von Stauffen- berg-Symposiums vom 11. Juli 2009. Hrsg. von Jakobus Kaffanke OSB, Tho- mas Krause und Edwin Ernst Weber im Auftr. der 10. Panzerdivision, des Landkreises Sigmaringen und der Erzabtei St. Martin Beuron, Münster: LIT 2011, 217 S. (= Anpassung – Selbstbehauptung – Widerstand, 30), EUR 24,90 [ISBN 978-3-643-10144-0]

Die im LIT Verlag erscheinende Reihe »Anpassung – Selbstbehauptung – Wider- stand« porträtiert nach ihrem fast zwanzigjährigen Bestehen erstmals explizit ei- nen Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944. Entstanden ist der Band aus einem Stauffenberg-Symposium zum fünfzigjährigen Aufstellungsjubiläum der seit 1959 in Sigmaringen stationierten 10. Panzerdivision der Bundeswehr. Bereits die Ver- schiedenartigkeit der Herausgeber – ein Oberstleutnant a.D., ein Archivar und ein Mönch – deutet auf die inhaltliche Vielseitigkeit des Bandes hin. Das Autorenver- zeichnis des rund 200 Seiten starken, reich bebilderten Werkes gibt darüber Aus- kunft, dass zudem Historiker sowie ein Völkerrechtler, ein Literaturagent und ein Polizeikommissar Texte beigetragen haben.

Was motiviert angesichts Dutzender bereits erschienener Biografien und Mo- nografien über Stauffenberg zu einer solchen Publikation? Dass es abgesehen von den Jubiläumsfeierlichkeiten noch weitere Gründe für die Erstellung dieser Publi- kation gab, kann der Leser der Einleitung entnehmen, in der auf die Aktualität des Themas im Hinblick auf die heutige Situation der Bundeswehrsoldaten in Aus- landseinsätzen verwiesen wird. Die für Stauffenberg wichtige Frage »Bis wohin muss ich gehorchen und ab wann darf ich nicht mehr gehorchen?« habe heute wie- der eine ganz andere Bedeutung erhalten, als in all den Jahren des Kalten Krieges.

Damit der Leser diese Botschaft nicht versehentlich überliest, wird sie zum Ab- schluss des letzten Beitrages nochmals deutlich wiederholt. Ist diese Publikation somit in erster Linie als gedanklicher Leitfaden für heutige Soldaten gedacht, mög- licherweise mit bereits vorgeschriebenen Interpretationsvorgaben?

Eine nähere Betrachtung entkräftet die Sorge über eine zu eindimensionale Dar- stellung. Die Beiträge des Bandes versuchen, die Person Stauffenberg in ihrer Viel- schichtigkeit zu begreifen. Da es keine schriftlichen Aussagen von Stauffenberg über seine eigentlichen Motive gibt, wird versucht, diese Motive durch eine Ana- lyse jener Faktoren deutlich werden zu lassen, die Stauffenberg wesentlich beein- flusst haben: familiärer Hintergrund, katholischer Glaube, Stefan George sowie seine eigenen militärischen Kenntnisse und Fähigkeiten. Die einzelnen Autoren gewichten die Bedeutungen dieser Faktoren jedoch unterschiedlich. Mehrere Deu- tungen stehen nebeneinander, ohne einer Wertung durch die Herausgeber ausge- setzt zu werden. Die in der Einleitung formulierte Maxime, dass die verschiedenen Beiträge der Autoren dem Leser erlauben sollen, selbst zu einem Urteil über Stauf- fenberg zu gelangen, überzeugt daher.

(15)

Der Sammelband ist durch viele Zwischenüberschriften und ein ausführliches Orts- und Personenregister leicht und schnell erschließbar. Er gliedert sich – wie der Titel schon vorgibt – in drei Bereiche: Person, Motivation und Rezeption. Je- doch wird diese Dreiteilung nicht konsequent eingehalten, da sich bereits im ers- ten Teil zahlreiche Textpassagen mit der Motivation Stauffenbergs beschäftigen.

Zudem mag die Zuordnung eines interessanten Beitrages über eine allgemein ge- schichtliche Einordnung des Staufer-Mythos zum Themenbereich Motivation nicht für jeden Leser sofort erkennbar sein. Die sehr unterschiedlich langen Beiträge sind von differierendem Erkenntnisgewinn. Während einige im Wesentlichen die Dar- stellungen aus den Standardwerken – vor allem des Stauffenberg-Biografen Peter Hoffmann – wiedergeben, bieten andere interessante Ergänzungen zu der bishe- rigen geschichtswissenschaftlichen Literatur. Hierzu zählt zum einen der Beitrag von Thomas Karlauf über den Einfluss Stefan Georges auf Stauffenberg. Es gelingt ihm in einer nüchternen Darstellung, Deutungshilfen für die sehr sperrigen letz- ten Textzeugnisse Stauffenbergs anzubieten und sie aus der Zeit heraus zu inter- pretieren. Auch die Analyse des Völkerrechtlers Wolfgang Graf Vitzthum über Eid- bruch und Tyrannenmord ist hier zu nennen, da es in der Widerstandsliteratur kaum eine so klare Darstellung und Zusammenfassung der juristischen Hinter- gründe dieser Themenbereiche gibt.

Wie der Titel des Bandes bereits verdeutlicht, kommt dem Satz, den Stauffen- berg kurz vor seiner Erschießung rief, eine besondere Bedeutung zu. Dass es zwei unterschiedliche Überlieferungen davon gibt, wird im Buch mehrfach erwähnt.

Umso verwunderlicher ist es, wenn der Mitherausgeber Thomas Krause wie selbst- verständlich und ohne weitere Kommentierung formuliert: »Gegen 00.15 Uhr starb Stauffenberg mit dem Ruf ›Es lebe das heilige Deutschland‹«. Die übrigen Auto- ren halten in der Regel die andere Version »Es lebe das ›Geheime Deutschland‹«

für wahrscheinlicher. Bei Karlauf erfährt der Leser, dass der Spruch Mitte der 1920er Jahre durch ein Gedicht von George mit dem Titel »Geheimes Deutschland«

erstmals Verwendung als Wahlspruch des George-Kreises fand. Thomas Zotz er- läutert hingegen, dass die Wendung Geheimes Deutschland zum ersten Mal 1910 in einer Publikation des George-Kreises erschien und in dieser Gruppe etwa seit 1915 als verborgenes Potenzial der Deutschen angesehen wurde.

Die geschichtswissenschaftlichen Beiträge sind zumeist angenehm nüchtern und analysierend und geben anders als viele andere Publikationen interessante Einblicke in spezielle Fragestellungen. Doris A. Muth beschreibt beispielsweise ausführlich den familiären Hintergrund Stauffenbergs und geht der Frage nach, ob Stauffenbergs Denken und Handeln aus einer Familientradition des »Dienstes«

abgeleitet werden könne. Der Benediktinermönch Jakobus Kaffanke plädiert – wenn auch nicht als Historiker – stärker für die Wirkung des religiösen Motivs und verweist auf den interessanten Umstand, dass viele religiöse Zitate Stauffenbergs in den Büchern der 1950er Jahre publiziert wurden, in späteren Jahren jedoch teil- weise ganz verschwanden.

Wolfram Wette stellt in seinem Beitrag fest, dass die Rezeption nach Diffamie- rung und Heroisierung Stauffenbergs nun bei der Historisierung angekommen sei.

Nachdem er Stauffenbergs Weg in den Widerstand überzeugend kritisch darge- stellt hat, versucht er sich schließlich an der – wie er sagt – bisher noch fehlenden systematischen Analyse der Motive. Er überprüft im Wesentlichen vier Motive und kommt zu dem Ergebnis, dass für die Tat das machtpolitische Motiv ausschlagge- bend gewesen sei. In seinem Urteil bezieht er sich vor allem auf »einen aussage-

(16)

kräftigen Beleg« – eine Niederschrift, die Stauffenberg am 20. Juli 1944 bei sich trug. Das so eindeutig und endgültig vorgestellte Ergebnis »Also: Erhalt des Rei- ches und der Wehrmacht als zentrales machtpolitisches Ziel« verwundert bei ei- ner nur 4½-seitigen Analyse der Motive. Abgesehen davon, dass Motivation und Ziel gleichgesetzt erscheinen, wird die Aussagekraft des »Beleges« nicht weiter problematisiert. In den zitierten Kaltenbrunner-Berichten ist das sechsseitige Do- kument nicht abgedruckt, lediglich Teile daraus sind durch die Gestapo-Beamten in indirekter Rede wiedergegeben. Neben den von Wette angeführten Passagen werden hier auch moralische Motive genannt. Zudem trug Stauffenberg diese Pa- piere möglicherweise als Überzeugungshilfe für Gespräche mit bestimmten Per- sonenkreisen bei sich. Ob hier tatsächlich seine innersten Motive für eine spätere Analyse von Historikern offengelegt worden sind, sollte zumindest diskutiert wer- den dürfen.

Schließlich endet der Band mit einer knappen, doch aufschlussreichen Zusam- menfassung der Rezeption des 20. Juli 1944 und mit Beispielen gesellschaftlicher Debatten um die Wiedereinführung der Wehrpflicht und der Benennung von Ka- sernen nach Widerstandskämpfern am Beispiel von Sigmaringen.

Die Vielseitigkeit und Offenheit der verschiedenen Deutungsansätze des Sam- melbandes sind ein deutlicher Gewinn für die Widerstandsliteratur, die mitunter auftretende Widersprüchlichkeit ist teilweise erhellend, zum Teil erscheint sie wie ein unbeabsichtigtes Versehen. Zudem mag der Leser gelegentlich über starke in- haltliche Verkürzungen stolpern. Der Sammelband ist insgesamt jedoch eine inte- ressante und sehr lesenswerte interdisziplinäre Zusammenstellung von Beiträgen, die sich mit unterschiedlichsten Aspekten der Person, Motivation und Rezeption von Stauffenberg befassen.

Linda von Keyserlingk

Stefanie Schüler-Springorium, Krieg und Fliegen. Die Legion Condor im Spa- nischen Bürgerkrieg, Paderborn [u.a.]: Schöningh 2010, 369 S., EUR 39,90 [ISBN 978-3-506-76747-9]

Als Bundesverteidigungsminister Peter Struck im Jahre 2005 dem Luftwaffenge- schwader in Neuburg an der Donau seinen Ehrennamen »Mölders« entzog, exe- kutierte er einen bereits im April 1998 gefassten Beschluss des Deutschen Bundes- tages. Demnach durften Angehörige der Legion Condor keine Tradition in der Bundeswehr begründen. Diese stark zeitverzögerte Maßnahme löste eine öffent- liche Diskussion aus, deren Ausläufer Veteranenkreise noch heute beschäftigen.

All jenen, die sich daran beteiligten, doch nicht nur ihnen, sei die Lektüre des vor- liegenden Bandes empfohlen. Sie trägt zur Versachlichung der emotional geführten Debatte bei, weil die Arbeit das auslotet, was die Gegner der »Entnamung« stets für ihre Argumentation beanspruchten, nämlich die historisierte Betrachtung der Verhaltensmöglichkeiten des Individuums, zumal in Uniform, in der NS-Zeit.

Der Autorin geht es nicht um eine weitere politik- oder wirtschaftsgeschicht- liche Studie zur deutschen Intervention im Spanischen Bürgerkrieg. Sie will »die Geschichte eines geschlossenen Luftwaffenverbandes in einer spezifischen Kriegs- situation aus kultur- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive« (S. 13) zeigen.

Aus Gründen der Gruppenkohäsion, aber auch wegen der Quellenproblematik

(17)

hat sich Schüler-Springorum dabei auf das fliegende Personal fokussiert und be- zieht das Bodenpersonal nur fallweise mit ein. Dazu gliedert sie ihre Arbeit inklu- sive der ausführlichen Einleitung und eines leider sehr knappen Fazits (S. 257–264) in sechs Kapitel. Logisch nachvollziehbar rahmen das zweite Kapitel (»Der Traum vom Fliegen«, S. 24–60) und das fünfte (»Nach dem Krieg«, S. 215–256) den haupt- sächlichen Untersuchungsgegenstand der Autorin, den »Krieg in Spanien« (S. 61–104) sowie »Deutsche Flieger in Spanien« (S. 105–214) ein. Der obligatorische Anmerkungs- apparat beschließt das Buch. Ihm ist ein nichtpaginierter »Bildteil« vorgeschaltet. Des- sen 27 Abbildungen sind allerdings kaum kontextualisiert, und auch die Bildunter- schriften fallen mager aus. Da zudem die Auswahlkriterien nicht erläutert werden, vermag man sich des Eindrucks nicht zu entziehen, dass es sich dabei um eine ur- sprünglich wohl vorläufige Illustrierung handelte, deren dezidiertere Einbezie- hung wohl Zeitgründen geopfert worden ist. Dem aufmerksam Lesenden fallen nämlich sehr wohl deutliche Text-Bild-Bezüge auf.

Die Verfasserin stand bei der Drucklegung offenbar unter Zeitdruck. Eine ge- wisse Hast macht sich besonders an dem mit über 80 Teilüberschriften auf 232 Sei- ten doch arg zerstückelten Hauptteil bemerkbar.

Die Auswahl ihres Forschungsgegenstandes versprüht dabei in vielerlei Hin- sicht Charme. Schüler-Springorum erklärt ihn selbst damit, dass sich der deutsche Spanieneinsatz »zeitlich, geografisch und bis zu einem gewissen Grad auch per- sonell klar definieren lässt« (S. 18). Sie verspricht sich davon, »Einblicke in Wert- haltungen, Erfahrungen und Erinnerungsmuster einer Gruppe von Männern jener

›Zwischenjahrgänge‹, die den Ersten Weltkrieg nicht mehr bzw. kaum bewusst er- lebt hatten und gleichzeitig noch nicht primär nationalsozialistisch sozialisiert wur- den«, und die »den ersten modernen Luftkrieg mit massivem Einsatz gegen die Zivilbevölkerung führten« – gegen einen Staat zudem, mit dem man sich weder im Krieg befand noch der auf irgendeine Weise die »Heimat bedrohte« (S. 18). Das erscheint insbesondere deswegen interessant, weil das von ihr recherchierte Sozi- alprofil ihrer Akteure »ungefähr dem von Horst Boog für den gesamten Zeitraum von 1935 bis 1945 erstellten Sozialprofil der Luftwaffengeneräle [entspricht]« (S. 50 – Horst Boog, Die deutsche Luftwaffenführung 1935–1945. Führungsprobleme. Spit- zengliederung. Generalstabsausbildung, Stuttgart 1982).

Ihre Arbeit ist darüber hinaus aber auch »ein stark von den Quellen bestimmter Versuch, einen Krieg zu beschreiben« (S. 22). Das bekannte Argument des Auspro- bierens der »neuen« deutschen Luftwaffe als Begründung für die nationalsozialis- tische Intervention in Spanien schließt sie zwar nicht gänzlich aus, wohl aber sei die Beteiligung von der Luftwaffenführung zum Experimentieren genutzt worden. Da- bei habe man die Boden-Luft-Koordinierung ebenso eingeübt wie »verschiedene An- griffsmodi und Wurftechniken [...] ausprobiert und akribisch notiert« (S. 193).

Im Vordergrund stehen für Schüler-Springorum jedoch die Menschen in der Legion Condor. Bei ihnen machte sich bereits im Dezember 1936 »immer wieder eine Art ›Sinnkrise‹ breit« (S. 209). Vor allem machten den Legionären die »aus- bleibende öffentliche Anerkennung bzw. die Denunziation ihrer Kriegstaten [...]

zu schaffen« (S. 211). Auch in deren eigener Rückschau sei ihr Einsatz in Spanien

»daher kein Einschnitt gewesen, nicht der Beginn von etwas qualitativ Neuem und auch kein Einzelfall – sondern die Normalität des Luftkrieges wie ihn die deut- schen Militärflieger in Spanien kämpften, in Polen, Frankreich und der Sowjet- union« (S. 258). Seine besondere Wertigkeit erreichte der deutsche Einsatz im Spa- nischen Bürgerkrieg nach Meinung der Verfasserin vielmehr durch seine

(18)

Instrumentalisierung in technischer und propagandistischer Hinsicht sehr rasch nach seinem Ende.

Im Ergebnis hat die Autorin eine beeindruckende Studie vorgelegt. Sprachlich stilsicher und handwerklich gekonnt führt sie die Lesenden durch die besondere Lebenswelt der Piloten im Allgemeinen wie unter den Bedingungen des Spa- nischen Bürgerkrieges im Besonderen. Ohne den durchaus nahe liegenden Versu- chungen zu erliegen, entweder zu trivialisieren oder zu moralisieren, stellt sie die Akteure, deren Sozialisierung und erfahrungsgeleitete persönliche Entwicklung ebenso dar wie sie die Menschen und deren Weg in die historische Umgebung ein- passt. Immer wieder verortet sie die Individuen und ihr Handeln dabei metho- disch konsequent und kenntnisreich, stellt Bezüge her zu bereits erforschten Phä- nomenen wie der Technikbegeisterung oder der romantisierten Vorstellungspraxis von den »Rittern der Lüfte«. Konsequent arbeitet sie dabei argumentative Gegen- sätzlichkeiten zu den Nachkriegserklärungen heraus. Sie dekonstruiert gängige Muster wie das der »Kameradschaft«, die sie unter den Piloten ebenso selten zu belegen vermag wie deren ideologische Indoktrinierung als handlungsleitende Motivation. Beides sei jedoch »in den Erinnerungstexten pflichtschuldigst beschwo- ren« worden (S. 261). Gerade »Draufgängertum und Jugend, diesen beiden ›klas- sischen‹ Fliegereigenschaften« habe man »in den Texten mit dem allgegenwärtigen Topos der ›Freiwilligkeit‹ [verschmolzen]« (S. 246). Stattdessen dechiffriert sie dies als »Farce der Freiwilligkeit« (S. 108). Motivierend hätten vielmehr »erhebliche ma- terielle Vorteile« gewirkt, einen »gewisse[n] Anreiz« auch »Dekoration und bevor- zugte Beförderung« ausgeübt (S. 109).

Zielsicher und zielführend behält die Autorin ihre Protagonisten parallel zu längerfristig wirksamen Entwicklungslinien im Fokus und stellt die wechselsei- tigen Beeinflussungen dar. Damit präsentiert sie nicht nur einen Überblick über die Entwicklung der Fliegerei und der mit ihr verwobenen Luftkriegführung in Deutschland vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis hin zum Spanischen Bürger- krieg. Sie verortet auch die Angehörigen der Legion Condor in dieser vom Klischee besonderer Männlichkeit, dem Nimbus beherrschbarer Technik und der Moderni- sierungsgläubigkeit geprägten Umwelt. In diesen Männern erkennt sie die Angehö- rigen einer Generation, die sich von alldem willig begeistern ließ und sich weiterge- henden Fragen durchweg entzog. Ihre »Generation Legion Condor« (S. 48–60) erweist sich folgerichtig als willkürliche Ansammlung junger Männer, die zu ihren Zeiten ebenso typisch für die fliegende Klientel daher kommt wie zu späteren. Das, so ver- mag Schüler-Springorum nachvollziehbar zu erläutern, war und ist einem beinahe mythischen Bild vom (Militär-)Piloten geschuldet, das die Zeitläufe offenbar unbe- schadet überdauerte.

Nicht nur in diesem Kontext weisen die Ergebnisse des vorliegenden Bandes deutlich über die Legion Condor hinaus. Die Autorin bleibt ihrem methodischen An- satz treu und verfolgt ausgewählte »[p]ostfaschistische Lebensläufe« (S. 227–256).

Dabei zeigt sie die veritablen Karrierechancen auf, die ihre ehemaligen fliegenden Angehörigen in der jungen Bundeswehr geboten bekamen. Die Jahrgänge der »Spa- nienkämpfer« gehörten zur »Gründungsgeneration der Bundeswehr« (S. 23) wie auch zu derjenigen der Bundesrepublik insgesamt. Schüler-Springorum gelingt der Nachweis, dass »Deutschland mitverantwortlich nicht nur für die Installierung des franquistischen Regimes [war], sondern auch für sein diplomatisches Überleben in den fünfziger und sechziger Jahren« (S. 264). An die vormaligen deutsch-spa- nischen Beziehungen konnte deswegen schon in den frühen 1950er Jahren ange-

(19)

knüpft werden, weil sie »vielfach auf den alten deutsch-spanischen Kontakten aus der Bürgerkriegszeit gründeten« (S. 230); gerade die westdeutschen Luftwaffen- militärs gingen in ihren bilateralen Zusammenarbeitsabsichten gar so weit, dass sie von den US-amerikanischen Verbündeten zwischenzeitlich zurückgepfiffen werden mussten. Die Feststellung der Autorin zur langen und intensiven Prägung der Bundeswehr durch den »zentrale[n] ›Legion Condor-Jahrgang‹ 1913« (S. 236) wird inzwischen auch von anderen Forschungsergebnissen gestützt (siehe z.B. Auf- baugenerationen der Bundeswehr 1955 bis 1970. Ausgewählte Biografien. Im Auf- trag des MGFA hrsg. von Helmut R. Hammerich und Rudolf J. Schlaffer, München 2011; John Zimmermann, Ulrich de Maizière. General der Bonner Republik, 1912 bis 2006, München 2012).

Einmal mehr erweist sich die kulturgeschichtliche Perspektive mit dem vorlie- genden Werk als ertragreich für die Horizonterweiterung bei der Untersuchung des Subsystems ›Militär‹. Dass »der Fliegeroffizier [...] Mitte der dreißiger Jahre zum Inbegriff einer hochstilisierten Männlichkeit geworden [war], die militärisches Gepräge mit Individualismus und kühle Technikbegeisterung mit Abenteurertum verband« (S. 259) und deswegen in Spanien dabei gewesen zu sein »entgegen der Legendenbildung eben kein Maßstab für politische Einstellungen« gewesen ist, sondern viel eher die Motivation »endlich einen echten Krieg zu erleben« (ebd.), sollte nicht allein die geschichtswissenschaftliche Fachwelt weiter anregen. Mili- tärs und für ihren Einsatz Verantwortliche sei die Lektüre des vorliegenden Bandes insgesamt zu empfehlen.

John Zimmermann

Michael Jonas, NS-Diplomatie und Bündnispolitik 1935–1944. Wipert von Blücher, das Dritte Reich und Finnland, Paderborn [u.a.]: Schöningh 2011, 687 S. (= Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), EUR 74,00 [ISBN 978-3-506-76928-2]

Gleich zu Beginn sei kritisch angemerkt, dass der Titel von Jonas‘ Werk »NS-Di- plomatie und Bündnispolitik 1935–1944« irreführend ist, da der Inhalt des Buches sich erst aus dem Untertitel »Wipert von Blücher, das Dritte Reich und Finnland«

erschließt. Jonas‘ an der Universität Helsinki 2009 eingereichte Dissertationsschrift trug ursprünglich den weit treffenderen Titel »Wipert von Blücher und Finnland, Alternativpolitik und Diplomatie im ›Dritten Reich‹« und die finnische Ausgabe heißt übersetzt »Gesandter des ›Dritten Reiches‹, Wipert von Blücher und Finn- land«. Jonas‘ Werk ist nämlich nicht, wie der Titel suggeriert, in erster Linie eine Studie über die NS-Diplomatie und Bündnispolitik im Allgemeinen, auch nicht bezogen auf das Beispiel Finnland, sondern vielmehr eine – sehr verdienstvolle und kenntnisreiche – Biografie Wipert von Blüchers in seinen »finnischen Jahren«.

Jonas gelingt es – und dies macht auch die Stärke dieser Studie aus –, Blüchers di- plomatische Arbeit in den Kontext der sich angesichts des Zustandekommens so- wie des Bruchs des Hitler-Stalin-Paktes um 180 Grad wendenden Politik Hitlers gegenüber Finnland einzubinden.

In den letzten Jahren haben Biografien bzw. biografisch basierte Studien zu Pro- tagonisten der zweiten und dritten Reihe der nationalsozialistischen Diktatur ins- besondere als Dissertationsschriften Konjunktur. Der Erkenntnisgewinn solcher

(20)

Arbeiten liegt im kritischen Blick auf die, über Jahrzehnte deutsche historische Nar- rative beeinflussenden, Memoiren eben dieser Protagonisten. Zu diesem, von Bernd Wegner in Anlehnung an Mansteins Memoirentitel als »erschriebene Siege«

bezeichneten Phänomen, kann man wohl auch die Selbstzeugnisse des deutschen Gesandten in Helsinki (1935–1944), Wipert von Blücher, insbesondere dessen fin- nische Erinnerungen »Gesandter zwischen Diktatur und Demokratie, Erinne- rungen aus den Jahren 1935–1944« (1950) zählen. Deren Wirkmächtigkeit zeigt sich vor allem in Finnland, wo diese unter dem finnischen Titel »Suomen kohtalonai- koja« (Finnlands Schicksalszeiten) innerhalb der ersten fünf Tage vergriffen war und die bis ins Jahr 1960 hinein in fünf Auflagen verkauft wurden (S. 618). Wesent- licher ist noch, dass Blüchers Bild, wonach Finnland gleich einem »Treibholz« in den Krieg gegen die Sowjetunion (1941–1944) hineingetrieben sei, als sogenannte Treibholztheorie (S. 15, 617) Eingang in das geschichtspolitische Verteidigungsre- pertoire des in der unmittelbaren Nachkriegszeit am Rande des sowjetischen Machtbereichs oszillierenden Finnland fand.

Jonas‘ Studie beruht auf einer Vielzahl von Blücher hinterlassenen Selbstzeug- nissen (gedruckten Memoiren, deren ungedruckten Frühfassungen, Tagebüchern, autobiografischen Skizzen) vor allem auf dessen reichhaltigen dienstlichen und privatdienstlichen Berichtsaktivitäten als Gesandter sowie alternativpolitischen Denkschriften, die er verfasste. Neben diesen als klassisch zu bezeichnenden di- plomatiegeschichtlichen Quellen, konnte Jonas auf verschiedene im Laufe der Ent- nazifizierungsverfahren entstandenen Schriftstücke, welche Blücher als Gegner des Nationalsozialismus zeigen, zurückgreifen. Hervorzuheben ist hier Jonas‘ quel- lenkritische Betrachtung dieser allesamt nur aus ihrem jeweiligen Entstehungs- kontext heraus zu interpretierenden Quellen. Blüchers eingangs erwähnten fin- nischen Memoiren unterzieht Jonas nahezu durchgängig einer Kontrolle durch diplomatische Quellen und zeitgenössische Aufzeichnungen. Er geht dabei so sehr ins Detail, dass seine Studie sich teilweise wie der Anmerkungsapparat einer kri- tischen Edition eben dieser Memoiren liest. Dieser Genauigkeit im Detail ist es wohl geschuldet, dass der Autor erfolgreich der Versuchung des Biografen, etwa Blüchers nationalsozialistischen Duktus in seinen öffentlichen Reden als dessen Ansicht wahrzunehmen oder andererseits diesen etwa aufgrund seiner Nähe zu Ulrich von Hassel als Widerständler zu überhöhen, widersteht. Er zeichnet dage- gen ein hochkomplexes Bild eines in seiner Einstellung reaktionären Berufsdiplo- maten, dessen politische Anschauungen sich einerseits teilweise mit Aspekten na- tionalsozialistischer Außenpolitik (etwa Deutschland als Hegemonialmacht, Antibolschewismus) deckten, der aber andererseits gerade als Reaktionär zum er- klärten Feindbild der Nationalsozialisten gehörte. Viel Platz räumt Jonas dabei den in traditioneller Großmachtpolitik verwurzelten Vorschlägen Blüchers für eine die politischen Systeme in Nordeuropa bewahrende deutsche Hegemonie ein.

Die schwierige Verortung der Rolle Blüchers im bzw. gegenüber dem national- sozialistischen System und dessen schwer zu fassender Position zwischen innerem Widerstand, Formulieren von alternativpolitischen Vorschlägen, Obstruktion, Er- füllung und Ausharren am Platz, ziehen sich wie ein roter Faden durch Jonas‘ Ar- beit. Es ist dabei beim Lesen spürbar, wie der Autor um eine sachliche und mit den Quellen zu vereinbarende Wertung Blüchers und dessen Politik ringt. Vereinfacht gesprochen, steht hierbei auf der »Haben-Seite« Blüchers offenes und tapferes – wenn auch in NS-Terminologie verbrämtes – Eintreten gegen eine Judenverfolgung in Finnland, das teilweise gewagte Festhalten an der und dauerhafte Eintreten für

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

lungsraum denn anderes aussagen als- Seht her, wenn solche bedeutenden Zeitgenossen hinter Breker stehen bz^- sich von ihm porträtieren lassen, kann der doch so schlecht nicht

Er entde____ te ein kleine Schne_____ e, die auf einem Blatt Papier auf dem Wasser trieb.. Um an ihr zu schnuppern, stre____te er sich solange bis er das Gleichgewicht verlor und

damit alle Kinder und alle Erwachsenen in der Schule weiterhin gesund bleiben, bitte ich Sie um Ihre Unterstützung..  Sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind eine

Einer Geschichte nach verbrannte auch der Vogel Phönix in seinem Nest, aber aus der Asche wurde ein neuer

Sein Postulat einer zeitge- schichtlichen Zäsur in den 1980er Jahren sowie der Hinweis auf die „ideolo- gischen Dimensionen“ von Wissenschaft und Technik sind dennoch für eine

- Ist der Regierungsrat bereit, sich diesem Problem anzunehmen und Lösungen zu suchen, damit diese Lücke im System - falls nicht ganz – wenigstens teilweise

Dies wird gerade in der neueren Strategie der Universität Bern, welche vermehrt Schwerpunkte bilden will (z.B. Schwerpunkt Klimaforschung) besonders wichtig

5 Eine Gemeinde erhält den Zuschuss nur noch zur Hälfte ausbezahlt, solange auf ihrem Gebiet eine oder mehrere Anlagen oder Einrichtungen gemäss Anhang III des Gesetzes be- stehen,