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Zur Rationalisierung und Technisierung des Alltagslebens

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Academic year: 2022

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Gegen-Offentlichkeit

Einleitung

Mit der Schwerpunktsetzung »Gegen-Öffentlichkeit« wollten wir das komplizier- te Verhältnis von Frauen zur politischen, gesellschaftlichen und medialen Öffent- lichkeit thematisieren. Wir wollten die traditionelle Zuordnung des männlichen Geschlechts zu »Öffentlichkeit« und des weiblichen zu »Privatheit« in der Moderne zum Gegenstand machen. Aber auch die Verbindungslinien zwischen beiden Bereichen, die Entgrenzungen, die »Gegenöffentlichkeiten« von Frauen sollten beleuchtet werden.

Die eingegangenen Artikel zeigten sehr schnell, daß die bewährten Kategorien nicht taugen oder greifen, die übliche Gegenüberstellung »öffentlich« - »privat«

die Strukturen der Wirklichkeit von Frauen längst nicht nachzuzeichnen vermag.

Die Artikel zerfallen in zwei Gruppen, die sich höchst unterschiedlich zum Thema verhalten. Der eine Typ von Beiträgen handelt von Formen, in denen Frauen öf- fentlich eingegriffen haben, Teilöffentlichkeiten oder gar Gegenöffentlichkeiten hergestellt haben. Wir haben sie unter der Überschrift »Berichte« zusammenge- faßt.

Eine zweite Gruppe von Beiträgen nähert sich von verschiedenen Disziplinen her theoriegeleitet der Frage nach dem Strukturverhältnis von »öffentlich« und

»privat«. Diese Beiträge widerlegen die statische Zuordnung der anthropologi- schen Geschlechterdifferenz zu den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, indem sie sie mit der Empirie konfrontieren und zu dem Ergebnis kommen, daß die Zuschreibungen die gesellschaftliche Realität nicht treffen.

Der soziologischen Dimension des Problems »öffentlich - privat« widmet sich Christel Eckart in ihrem Aufsatz über »Rationalisierung und Technisierung des Alltagslebens«. Sie diskutiert die Behauptung, daß die Technisierung des Alltags die Grenzen zwischen Erwerbs- und Familiensphäre, zwischen Öffentlichkeit und Privatbcreich verwische. Ihre Überlegungen zeigen, daß diese Grenzen zwar nor- mativ und ideologisch bestehen, gleichzeitig kann sie aber mit Ergebnissen der hi- storischen Frauenforschung zur Frauenarbeit aufzeigen, daß die strikte Trennung der Sphären real nicht wirksam ist und war. Rationalisierungsprozesse stellen in der Privatsphäre kein Novum dar und finden spätestens seit Ende des 19. Jahrhun-

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derts statt. Rationalisierung und Technisierung der Hauswirtschaft, sowie die per- sonelle Verkleinerung der Familie entziehen in neuester Zeit - so die Autorin -

»...der Familie die Basis materieller Kooperation und lassen die Kommunikation immer mehr zur unmittelbaren >Beziehungsarbeit< werden«. Andererseits werden durch neue Kommunikationstechniken wie Fernsehen und Computer für (vorran- gig männliche) Familienmitglieder Möglichkeiten eröffnet, durch vermittelte Kommunikation der »Tyrannei der Intimität« (Sennett) zu entkommen und sich von den anderen abzugrenzen.

Die »Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts« und die komplizierte Funk- tion des »Geheimnisses«, besonders im Hinblick auf Frauen, sind das Thema des Aufsatzes von Angelika Ebrecht. Sie beschreibt die Logen der Geheimbünde als bürgerlichen Freiraum männlicher Privatleute, als »öffentliche Privatheit«, aus der Frauen ausgeschlossen sind. Diese Exklusivität funktionierte u.a. durch ausgren- zende Geheimhaltung und scheint - so die Autorin - »...vor allem in den Ängsten der Männer begründet gewesen zu sein«.Trotzdem kam es zur Gründung von ge- mischtgeschlechtlichen Gesellschaften und Frauenbünden unter männlicher Kon- trolle. Warum es dazu gekommen ist, ist eine weitere Frage, der die Autorin nach- geht.

Daß die Kategorien von »privat« und »öffentlich« aus der Perspektive einer schreibenden Frau in einer vormodernen Gesellschaft der europäischen Periphe- rie zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu völlig neuen Bedeutungen gelangen oder grundsätzlich infrage gestellt werden können, zeigt Eleni Varikas in ihrer Darstel- lung der griechischen Schriftstellerin Elisabeth Moutzan-Martinengou (1801- 1832). Durch ihr Schreiben, also »öffentliches« Handeln, zielte diese in vormo- dernen Familienstrukturen eingekerkerte Frau auf moderne intime Privatheit und Öffentlichkeit zugleich ab. Damit richtete sie sich »...gegen das Dogma von den zwei Interessen- und Handlungssphären von Männern und Frauen« in der bürger- lichen Gesellschaft. Diese Grenzüberschreitung führte zur überragenden literari- schen Bedeutung ihrer Arbeit für die Entstehung der modernen griechischen Lite- ratur. Spuren ihrer literarischen Arbeit lassen sich nur noch in einer vom Sohn her- ausgegebenen zensierten Autobiographie finden.

Von einer anderen »nichtbürgerlichen« Gesellschaftsformation und ihren Ge- schlechterarrangements, diesmal des 20. Jahrhunderts, handelt der Beitrag von KrisztinaMänicke-Gyöngyösi »Geschlechterverhältnis, Modernisierung und neue Öffentlichkeit in der Sowjetunion«. Einzelne Etappen der Frauenpolitik seit der Oktoberrevolution werden aufgesucht und mit Daten der zeitgenössischen empi- rischen Sozialforschung konfrontiert, aus denen sich Aussagen über das reale Geschlechterverhältnis ausschnittartig konstruieren lassen (Sexualverhaltcn, Frauenerwerbstätigkeit, Familienorganisation und Reproduktionsverhalten). Die neueste Entwicklung gesellschaftlicher Umstrukturierung unter >Glasnost< wird auf diesem Hintergrund nach ihren Kosten und möglichen Erträgen für die sowje- tischen Frauen befragt.

Brigitte Studer zeichnet die Entwicklung der historischen Geschlechtcrfor- schung akribisch nach. Sie fragt in ihrem Forschungsbericht »Das Geschlechtcr- verhältnis in der Geschichtsschreibung und in der Geschichte des 19. und 20. Jahr- hunderts« danach, wie die Wahrnehmung der Historisierung von »Biologie und

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Anthropologie« und dichotomischer Denkmuster, der Evaluation des Fortschritts und der politischen Dimension der modernen Gesellschaft durch die Frauenfor- schung entscheidend verändert wurde. Die Rekonstruktion der verschiedenen For- schungs- und Erkenntnisstränge in der Geschichtswissenschaft der letzten 30 Jahre führt sie auf die substantielle Bedeutung der feministischen Forschungsperspekti- ve für die neuere Geschichtsforschung überhaupt, bis hin zu der ermutigenden Per- spektive, daß auch nach einem eventuellen Abflauen der »Konjunktur« von Frau- enforschung die Frauen nicht wieder aus der Forschungsperspektive herausfallen können.

Die Berichte zum Schwerpunkt zeigen zwei aktuelle Beispiele öffentlichen Ein- greifens und Handelns von Frauen. Die Frauenbewegung hat ihren wichtigsten Themen durch Aktionen und Demonstrationen Öffentlichkeit verschafft. Parallel dazu schuf sie sich eine eigene Öffentlichkeit. Mit Projekten und Zentren gelang es ihr, ein Netz von Beziehungen zunächst über die Städte, dann auch über das Land zu ziehen. Neue, nur Frauen zugängliche Kommunktionsorte bildeten sich heraus und wurden stark nachgefragt. Das in einer eigenständigen Frauenkultur oder, anders ausgedrückt, in einer »subkulturcllen« Frauenöffentlichkeit gewon- nene Bewußtsein, die dort entwickelten Ideen, Analysen und Aktionen sollten in einer größeren Frauenöffcntlichkeit bekanntgemacht und diskutiert werden. So kam es zur Gründung autonomer feministischer Medien, vor allem zur Gründung von Zeitschriften.

Feministischer Presse - das macht der Beilrag von Brigitte Geiger deutlich - kommt eine zweifache Funktion zu: sie dient der Konstituierung von Frauenöf- fcntlichkeit, indem sie ein Diskussions- und Informationsforum nach innen, d.h.

innerhalb der Frauenbewegung bildet. Sie fungiert aber auch als Gegenöffentlich- keit, also nach außen, indem sie den Verfälschungen und Unterschlagungen, die in der herkömmlichen Medienberichterstattung im Hinblick auf Frauen alltäglich sind, entgegentritt und eine ausschließlich auf Frauen konzentrierte Berichterstat- tung aus der Sicht der Betroffenen bietet. Die Entwicklung und Differenzierung der feministischen Presse korrespondiert mit der Entwicklung und Differenzierung des Feminismus. Wer die Geschichte der Frauenbewegung rekonstruieren will, muß auf sie als unabdingbare Quelle zurückgreifen. Das macht auch ein anläßlich der Internationalen Presseausstellung in Köln erstellter Sonderband (Pressa 1928) deutlich, der ein beeindruckendes Zeugnis der breitgeföcherten Frauenpublizistik gibt. Wir entnehmen ihm für das Archiv einen Artikel von Emmy Wingerath über die Frauenabteilung der Pressa.

Die neue Frauenbewegung machte das Prinzip »Frauen helfen Frauen« zur Grundlage ihres Kampfes gegen Männergewalt. Die alltägliche Gewalt gegen Frauen und Mädchen - lange Zeit geleugnet, verschwiegen und tabuisiert - ist durch die Frauenbewegung ans Licht der Öffentlichkeit geholt worden. Am Bei- spiel des ersten autonomen Frauenhauses in Berlin verdeutlichen Monika Heggen- berger und Claudia Haarmann die verschiedenen Methoden der dort geleisteten Öffentlichkeitsarbeit und die Abwehr-, bzw. Vereinnahmungsversuche, die dadurch hervorgerufen wurden.

Die Zeitschriftenrundschau von Hedwig Meyer-Wilmes zeigt, daß in unserem nordwestlichen Nachbarland eine erstaunliche Vielfalt die Publikationen der Frau-

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enpresse prägt. Im Kontext des thematischen Schwerpunktes unseres Heftes drängt sich die Frage auf, ob hier die wesentlich ausdifferenziertere, traditionell bürger- liche Öffentlichkeit des alten Freihandelsstaates von Frauen für Frauen genutzt werden konnte. Darüberhinaus wird deutlich, daß in den Niederlanden »Weiblich- keitskonzeptionen zwischen Gleichheit und Differenz« einen Schwerpunkt der Diskussion unter feministischen Wissenschaftlerinnen bildet.

In der Rubrik »Außer der Reihe« werden Artikel veröffentlicht, die nicht unter den jeweiligen thematischen Schwerpunkt fallen, aber den Rahmen eines Diskus- sionsbeitrages überschreiten. Wir bringen hier einen Text von Rossana Rossanda, der noch einmal grundsätzlich bisher gültige kategoriale Zuordnungen und Denk- schemata in Frage stellt. Am Beispiel »weiblicher Kultur« diskutiert sie die Mög- lichkeiten und Chancen, das Weibliche neu zu definieren. Nicht zuletzt weil Frauen diesen Versuch »unter der immer noch gültigen Unerträglichkeit ihrer Entfrem- dung« unternehmen, steht sie einer solchen Neudefinition zum gegenwärtigen Zeitpunkt skeptisch gegenüber.

Ebenfalls in »Außer der Reihe« denkt Ulrike Prokop über eine der einflußreich- sten Weiblickkeitskonzeptionen der Moderne nach. Ihre tiefenhermeneutische In- terpretation deutet einige Szenen der Rousseauschen »Bekenntnisse« als Ergebnis der Ängste und Phantasien eines Intellektuellen in der Umbruchphase des 18. Jahr- hunderts, der sich als Bürger in Abgrenzung nach oben und unten seiner selbst zu vergewissern sucht. »Die ideale Frau«, Erfindung Jean Jacques, wird vor diesem Hintergrund als Vernichtungsphantasie des bürgerlichen Mannes gesehen.

Die Reaktionen auf die im ersten Heft angezettelten Diskussionen waren zahl- reich und teilweise heftig. Einige der Briefe, die uns erreichten, haben wir in den Diskussionsteil unter »Eingesandt« aufgenommen. Wir wünschen uns, daß auch das Schwerpunktthema dieses Heftes die im ersten Heft angefangene Diskussion über Differenz und Differenzen in der Frauenforschung in einem produktiven Sinne weiterführt: Etablierte Strukturkategorien werden aus der Frauenper- spektive relativiert, als begrenzt tauglich erkannt und in ihrer radikalen Historizi- tät herausgearbeitet. Wieder einmal Anlaß, »... auf der Unbestimmbarkeit mögli- cher Gleichheit und Verschiedenheit der Geschlechter« zu beharren (Einleitung, FS 1/88).

Mit den Abbildungen dieses Heftes präsentieren wir die künstlerischen Arbei- ten der in Hannover lebenden Buchhändlerin und Antiquarin Marion Gülzow. Fo- tografiert wurden ihre Objekte von Klaus Hoffmann. Vielleicht gelingt es uns in Zukunft noch häufiger, Arbeiten von einzelnen Künstlerinnen vorzustellen.

Juliane Jacobi -Ulla Wischermann

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Kurzschlüsse und Widerstände

Zur Rationalisierung und Technisierung des Alltagslebens

Meine Überlegungen* konzentrieren sich auf die Behauptung, daß der neue Schub in der Entwicklung der Technik die Grenzen zwischen Erwerbs- und Familien- sphäre, zwischen Öffentlichkeit und Privatbereich verwische und damit die Bedin- gungen von Reproduktion und Sozi alisation nachhaltig beeinflusse. In einer Skizze der historischen Entwicklung der Familie zum Privat- und Intimbereich soll ver- deutlicht werden, welche Bedeutung die Sphärentrennung für die bürgerlich kapi- talistische Gesellschaft mit ihrer spezifischen Vorstellung des Individuierungspro- zesses hat. In Umbruchsphasen industrieller und technischer Entwicklung wurde die Gefährdung einer komplementären Verbindung beider Sphären stets themati- siert und durch politische Anstrengungen in jeweils neue Formen gebracht. Die Si- cherung der Grundlagen eines emphatisch verstandenen Individuierungsprozesses ist also der Hintergrund für besorgte Beobachtungen vom Eindringen technischer Rationalität ins private Alltagsleben.

Die sozialhistorische Forschung zur Frauenarbeit hat in den letzten Jahren dazu beigetragen, die Entwicklung der alltäglichen Reproduktionsbedingungen aus der Anonymität hervorzuholen und die Interessen und Handlungsstrategien von Frauen in der Familie und im Haushalt zu untersuchen, die unter der Ideologie von der Privatsphäre als einem von Zweckrationalität freien Raum verdeckt wurden.

Durch diese Ausblendungen wurde einer Perspektive von einseitig fortschreiten- der Technisierung, die vom Produktionsprozeß her in die Privatsphäre übergreift, Vorschub geleistet. Obgleich die Frauenforschung sich notwendig um weitere Dif- ferenzierung vermeintlich allgemein gültiger Erklärungsmuster bemüht und ob- gleich der Umfang der Forschungsergebnisse hier nicht vollständig berücksichtigt werden kann, soll mit diesem Beitrag der Versuch gemacht werden, eine Perspek- tive der gesellschaftlichen Bedeutung der technischen Entwicklung für die Repro- duktionsverhältnisse zu skizzieren.

Grenzziehungen und Ausgrenzungen

Verschiebungen überkommener sozialer Grenzziehungen werden als wichtigste Veränderung in der »Dritten Phase der industriellen Revolution« diagnostiziert.

Feministische Studien 1/89

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Eine dieser Grenzverschiebungen sei die zwischen Öffentlichkeit und Privatsphä- re, zwischen Erwerbs- und Familienleben durch das Eindringen neuer Technolo- gien in bislang außerhalb des industriell organisierten Sektors liegende Lebensbe- reiche. Diagnosen dieser Art, verbunden mit der Behauptung eines radikalen Wandels, die die Formulierung von der dritten Phase der industriellen Revolution nahelegt, sind zunächst ein Hinweis darauf, daß Sozialstrukturen, die bisher als selbstverständlich, als geregelt, gesellschaftlich nützlich, funktional und alltäglich gewohnt erlebt wurden, durch Veränderungen zur Kenntnis genommen wurden.

Die Irritation in der Wahrnehmung des Gewohnten drängt, wenn die Diskussion darum einen hohen Grad an Öffentlichkeit erreicht hat, auf Prognosen und prag- matische Anweisungen zur Reparatur und Kontrolle des Erschütterten.

Die Suche nach pragmatischen Lösungen folgt unter dem Gebot der »Sach- zwänge« zumeist der Logik von technokratischen Entscheidungsprozessen. Die Irritation durch einen nicht mehr zu übersehenden Wandel der Lebensverhältnis- se kann aber auch dazu führen, eben diese Logik in Frage zu stellen. Die formale Rationalität, die Menschenleben, ja das Leben der Menschheit selbst, in der ma- thematischen Formel der Wahrscheinlichkeitsrechnung dem »Restrisiko« auslie- fert, entpuppt sich in dieser akzeptierten Selbstvernichtung als irrational. Daraus folgt freilich nicht zwingend die Abkehr von der formalen Rationalität, von Denk- formen, die Horkheimer und Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« beschrie- ben: »Denken verdinglicht sich zu einem selbsttätig ablaufenden automatischen Prozeß, der Maschine nacheifernd, die er selber hervorbringt, damit sie ihn schließ- lich ersetzen kann«. (Horkheimer/Adomo, 1947, S. 38) Gerade angesichts der Ka- tastrophe durch Unfälle wie Tschernobyl und bei psychischer Erschütterung des bisher Gewohnten weigert sich dieses Denken, »das Denken zu Denken«, die Ent- stehung von Denktraditionen zu reflektieren und in der Reflexion auf die Krise (nach dem psychoanalytischen Modell der Selbstreflexion) und der Vergegenwär- tigung des Leids von der zwanghaften Wiederholung zu lassen.

Sozialwissenschaftliche Reflexion über Technikentwicklung, die den vielfälti- gen Wechselbeziehungen zwischen dieser Entwicklung und dem sozialen Wandel nachgehen will (Programm des Soziologentages 1986), muß sich die »Entfernung des Denkens vom Geschäft, das Tatsächliche zuzurichten« (Horkheimer/Adorno, 1947, S. 38), abverlangen, wenn sie sich nicht als »wissenschaftliche Begleitfor- schung« eines Prozesses verstehen will, in dem der Motor sozialen Wandels in technischen Neuerungen gesehen wird und sozialer Fortschritt als Anpassung aller Lebensbereiche an die technische Entwicklung. Zwar ist der Glaube an die Mo- dernisierung der Gesellschaft und die Realisierung persönlicher Freiheit durch die produktionstechnische Befreiung vom Naturzwang weithin erschüttert. Dennoch bestehen weiterhin polarisierte Vorstellungen vom Weg, auf dem die Industriege- sellschaft aus der katastrophalen Sackgasse zu führen sei, in der sie nach der Un- terwerfung der Natur nun sich selbst aufzuzehren droht.

Im Alltagsleben sind die diagnostizierten Grenzüberschreitungen Hinweise auf tiefe Erschütterungen gesellschaftlicher Interpretatiönsmuster, die im öffentlichen Bewußtsein ihre bis dahin gültige Modernität und Legitimität verloren haben.

Dabei ist »die langsame Ausformung des täglichen Lebens ... ebenso wichtig wie die geschichtlichen Explosionen« (Giedion 1982, S. 20), denn die »anonyme Ge-

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schichte ist unmittelbar mit den allgemeinen Leitideen einer Epoche verbunden«

(ebd. S. 21). Wenn diese ins Wanken geraten, wird das bis dahin Selbstverständ- liche, Alltägliche sichtbar, und die Bemühungen um neue Leitideen haben nicht selten den Charakter von religiösen Glaubenskämpfen.

»Technological innovation has in our time the centrality - and the moral, intel- lectual, and social significance - that theological speculations had in the medieval period« (Signs Editors' Note to Judith McGaw 1982, S. 798).

Die Diskussion und Forschung zu der Art, wie Frauen potentiell und aktuell sowohl zum technischen Wandel beitragen, als auch wie dieser ihren sozialen Status beeinflußt, beleuchtet immer auch Alltag und Alltagsgeschichte, die in fa- milialer Abgeschlossenheit gehalten wurde. Sie bringt Probleme der Grenzziehung zum Beispiel der Sphäre industrieller Produktion und reproduktiver Arbeit im Haushalt und in der Familie zur Sprache, genauer: die Mechanismen, mit denen die Grenzen gesichert, und jene, mit denen die getrennten Sphären in einer mög- lichst komplementären Verbindung gehalten werden. Die Trennung der Sphären von Öffentlichkeit und Privatheit, von Produktions- und Reproduktionsprozeß ist konstitutiver Bestandteil der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft. Sie ist ein politisches Programm, nie vollständig abgeschlossen und historischen Änderun- gen unterworfen. Wenn die Technisierung des Alltags zum öffentlichen Thema wird, und zwar unter der Perspektive, daß Technik und technische Rationalität in Sphären »vordringe« oder auf Bereiche »übergreife«, die als bisher ausgegrenzt galten, so ist diese Diskussion zunächst nur ein Hinweis darauf, daß das Verhält- nis beider Sphären eine Qualität angenommen hat, in der ihr Zusammenspiel nicht mehr in Komplementarität gewährleistet scheint, nicht aber ein Beweis dafür, daß die Trennung zuvor wirklich bestanden hätte.

Die sozialhistorische Forschung zur Frauenarbeit teilt heute überwiegend die Meinung, daß Hausarbeit, Reproduktionsarbeit und die historisch entwickelten Vorstellungen vom weiblichen Sozialcharakter die unverzichtbare Kehrseite der industriellen Entwicklung sind (in der Einschätzung der politischen, sozialen Kon- sequenzen und in den Prognosen bestehen große Unterschiede). Ansätze zur Re- konstruktion der Entwicklung der Frauenarbeit versuchen diese »zum einen als Haushalts- und Familienarbeit, zum anderen als haushaltsintegrierte Erwerbsar- beit und schließlich als entlohnte Werkstatt- und Fabrikarbeit zu unterscheiden«

(Hausen 1978, S. 169). Mit diesem Forschungsinte resse geraten Form en von Frau- enarbeit und deren technische Gestaltung wieder in den Blick, dem sie über dem Starren auf die Entwicklung der industriell organisierten Arbeit entglitten waren.

Die Entwicklung der außerhäuslichen Lohnarbeit zur dominanten Form der ge- sellschaftlich organisierten Arbeit und die gleichzeitige Entwicklung der Familie zum Privatraum, der Lohnarbeit aus sich ausstößt, verlief in vielen Misch- und Übergangsformen. Durch alle Schichten hindurch blieben durch ihre politisch immer wieder erneuerte Bindung an die Familie stets die Frauen diejenigen, die am längsten diese Mischform der Arbeitsorganisation praktizierten und in ihrer Person durch ihre Arbeit Produktions- und Reproduktionsprozeß verbanden. Sie taten das in unbeachtet großer Zahl zum Beispiel im 19. Jahrhundert in der Form von Heimarbeit, bis zum ersten Weltkrieg als Dienstmädchen in privaten Haushal- ten, bis in die fünfziger Jahre als mithelfende Familienangehörige in der Landwirt-

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schaft und im Kleingewerbe, seit den sechziger Jahren zunehmend in Teilzeitar- beit, und als Zukunftsvision steht als Refamilialisierung hochtechnisierter Lohn- arbeit angeblich die Teleheimarbeit ins Haus.

Zugleich hatten und haben Frauen als Hausfrauen die Familie als komplemen- täre Gegenwelt zum öffentlich politischen und zum Berufsleben mit Arbeit und Leben zu füllen, das weitgehend frei sein soll von den formal-rationalen Hand- lungsimperativen, die in der Gesellschaft jenseits der Privatsphäre gelten. Die Si- cherung der Privatsphäre und der Familie und die Bindung der Frauen daran sind Objekte strategischer, politischer Planung, vornehmlich zur Sicherung eines Schonraumes, der den Individuierungsprozeß ermöglichen soll, im emphatischen Sinne bürgerlicher Selbstentfaltung, die nicht auf monadenhafte Individualisierung und nicht auf kollektive Anpassung reduziert ist.

Durch ihre Arbeit in beiden Bereichen sind Frauen Grenzgängerinnen mit Er- fahrungen im Wechsel zwischen den verschiedenen Wertsystemen, Handlungs- maximen und kommunikativen Strukturen in der Privat- und der Erwerbssphäre.

Selbst als ausschließliche Hausfrauen stehen sie nicht gänzlich außerhalb der Wa- renproduktion, sondern sind mit ihrer Arbeit und ihrer Existenz vielfältig auf diese bezogen. Mit ihren Strategien, mit denen sie die widersprüchlichen sozialen An- forderungen zu bewältigen suchen, werden Frauen selbst zu Akteurinnen einer Ra- tionaliserung der Alltagswelt. Wenn die neue Dimension der Technikentwicklung als Kolonialisierung der Lebenswelt (Habermas 1981) beschrieben wird, als Zu- sammenprall von Systemimperativen mit eigensinnigen kommunikativen Struktu- ren (Rammert 1985), dann treffen offenbar verschiedene gesellschaftliche Ratio- nalisierungsprozesse in einer Weise aufeinander, die Einsichten in die Akkumula- tion unbemerkter Rationalisierungsschritte in der »anonymen Geschichte«, in der Alltagswelt ermöglicht. Nicht allein Übergriffe einer produktionstechnischen Ra- tionalität in einen davon bisher freigehaltenen Lebensbereich erzeugen eine neue Alltagserfahrung; vielmehr das Zusammentreffen von Rationalisierungsprozessen in gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion. Die Irritation, die diese Berüh- rung zweier Sphären durch die Rationalisierung weckt, ist dem Erschrecken vor einem bis dahin unbemerkten Schwinden quasi naturwüchsiger, quasi vorindu- strieller Erfahrungsräume geschuldet. Es gibt sie noch immer, es gibt sie freilich immer weniger pur als vielmehr in wachsenden Ungleichzeitigkeiten verschiede- ner Rationalisierungsprozesse, die darum als »Unübersichtlichkeit« (Habermas

1985) erlebt werden, weil sie nach Rationalitätskriterien bewertet und nicht als Kontrasterfahrung erlebt werden. Solange der Wald wächst, wird er unbekümmert als Erholungsgebiet goutiert. Wenn er stirbt, wird er Gegenstand politisch strate- gischen Handelns, das anderen gesellschaftlichen Interessen entgegensteht. Wenn der Computer im Kinderzimmer Einzug hält, scheint ein Schutzraum notwendiger Regression, die Erwachsenen bei der Kindererziehung möglich sein muß, bedroht.

Wenn die Ehefrau und Mutter den Computer zu Hause für Erwerbsarbeit benutzt, verliert das private Heim seine Funktion und Aura als Freiraum persönlicher Ent- faltung. Der PC des Ehemannes und Vaters hat nicht die gleiche Wirkung, da sein Benutzer als »instrumental leader« der Familie durch seine Arbeit weniger sub- stantielles Handeln entzieht als die Frau als »emotional leader« (Parsons/Bales

1956).

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»Die mit der mikroelektronischen Technik ermöglichte flexible Automation der Produktion stellt die für die Moderne kennzeichnende zeitliche Abgrenzung von Arbeiten und Nicht-Arbeiten und die räumliche Trennung von Arbeitsplatz und Haushalt in Frage«. (Rammert 1985, S. 2) Diese Charakterisierung des neuen Schubs von Technisierung im Alltag ist durch die vorher dargelegte Skizze der Frauenarbeit als eine aus dem männlichen Blickwinkel zu erkennen. Die Aufmerk- samkeit für die verschwimmenden Grenzen ist einer Wiederkehr des Verdrängten (so selbstkritisch Gaus Offe auf dem Bamberger Soziologentag zur »Krise der Ar- beitsgesellschaft«) in einer Sozialwissenschaft geschuldet, die das normative Selbstverständnis der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft für Realität nahm und der die voher schon wirksame wechselseitige Durchdringung von Erwerbs- und Privatsphäre entgangen war, ebenso wie die Tatsache, daß für Hausfrauen und erst recht für erwerbstätige Hausfrauen die »zeitliche Abgrenzung von Arbeiten und Nicht-Arbeiten« nicht besteht und lange Zeit auch »die räumliche Trennung von Arbeitsplatz und Haushalt« nicht bestand.

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Die Beschreibung Rammerts, die er mit vielen anderen Autoren teilt, bezeich- net freilich dennoch einen neuen Zustand, nämlich den, daß die sozialen Bedin- gungen für die Ausübung der traditionellen Rolle des berufstätigen Mannes sich merklich wandeln, und darum werden die Probleme »öffentlich«. Da Rammert die sozialen Bedingungen des Handelns von Frauen außer Acht läßt, gerät seine Er- klärung dafür, warum die »alltägliche Geschichte der Technisierung« »gegenwär- tig aus dieser Anonymität heraustritt und zunehmend die öffentliche Aufmerksam- keit auf sich zieht« (S. 16), entsprechend einseitig und zudem, gemessen an seinem eigenen theoretischen Ansatz, seltsam blind für die »Akteure«, genauer: Akteurin- nen und deren Interessen, Bedürfnisse und Handlungszwänge, die sie zur Ratio- nalisierung und Technisierung des Haushalts bewegen.

Einen Grund für das Öffentlichwerden der Technisierung des Alltags sieht Rammert darin, daß der Haushalt »von den Unternehmen und Wirtschaftspoliti- kem ... als interessanter Gegenstand industrieller Emeuerungs- und Wachstums- strategien entdeckt« (S. 16) werde. Den anderen Grund machte er darin aus, daß

»von den Bürger-, Ökologie-, Frauen- und Altemativbewegungen ... der Haushalt und die ihn einbettende kommunitäre Lebenspraxis zum Ort individueller Auto- nomie- und kollektiver Widerstandsstrategien erklärt« (S. 16) werde. Der erste Grund steht der Tradition der Subsumptionslogik, der zweite in einer dieser ent- sprechenden Tradition von Zerfalls- resp. Revitalisierungsargumenten. Beide werden in Zeiten der Krise oder Irritation der Alltagserfahrungen immer wieder belebt, wenn die Spitze des Eisberges aufgetaucht ist. Dann beschreiben sie auch beobachtbare Phänomene in terms des Selbstverständnisses der bürgerlich kapita- listischen Gesellschaft: Ausweitung der Warenproduktion bei gleichzeitiger Siche- rung einer Privatsphäre. Aber diese Erklärungen erfassen nicht die darunter wir- kende »anonyme Geschichte«.

Der Unaufmerksamkeit für die Differenz von Norm und Lebensrealität und der unterstellten faktischen Dominanz der inneren Logik der kapitalistischen Produk- tionsverhältnisse, alle Menschen zu Lohnarbeitern zu machen, entgingen die dif- ferenzierte Entwicklung der Frauenarbeit und die Handlungsstrategien der Frauen, die die sozialen Verhältnisse beeinflußten. Diese Ausblendungen trugen zur An- onymisierung der Alltagspraxis und dort wirksamer Interessen bei.

Die Privatsphäre und die Familie, in denen die Handlungsmaximen formaler Rationalität und strategisches Handeln nicht in gleicher Weise dominant sind wie in der politischen Öffentlichkeit und in der gesellschaftlich organisierten Arbeit, sind nicht historische Relikte vorindustrieller Zeit oder Bereiche, die einem >cul- tural lag< unterliegen. Sie sind integraler Bestandteil der bürgerlich kapitalistischen Gesellschaft, auch wenn Formen ihrer Kooperation und Kommunikation älter sein mögen als jene Gesellschafts- und Herrschaftsverhältnisse. Die kapitalistisch in- dustrielle Produktionsweise enthält ja auch Techniken, die vor dem Kapitalismus entstanden sind, aber durch ihn eine andere gesellschaftliche Funktion und Form erhielten.

Rationalisierung und Technisierung alltäglicher Lebensführung sind daher nur unzureichend als Ubergriffe und einseitige Beeinflussung durch die Produktions- sphäre beschrieben. Wenn nicht die Differenzierung sozialer Verhältnisse und so- zialen Handelns verloren gehen soll, muß der Perspektive von Vergesellschaftung

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durch Technik notwendig eine von Individuierung korrespondieren, muß neben oder unter der Herrschaft der instrumenteilen Vernunft die eigensinnige Ausdiffe- renzierung der Wertsphären (Max Weber) wahrgenommen werden. Der Einfluß der einverleibten Alltagswelt auf den Ablauf und das Ergebnis des als dominant behaupteten Prozesses ist ebenso systematisch zu berücksichtigen, wie Prozesse zu beobachten sind, mit denen die Trennung der Lebensbereiche aufrechterhalten oder überhaupt erst produziert werden soll.

An den Frauen als Grenzgängerinnen zwischen Privat- und Erwerbssphäre ist zu verfolgen, wann die Trennung unerträglich und nach Angleichung gesucht wird, zum Beispiel in dem Bemühen von Frauenverbänden um Rationalisierung und Pro- fessionalisierung der Hausarbeit in den zwanziger Jahren (s. Schmidt-Waldherr, 1987), das sich in die umfassende Rationalisierungsbewegung einfügte; welche Widerstände gegen eine Angleichung entstehen, die die Andersartigkeit und Kom- plementarität der Frauenarbeit betonen wie zum Beispiel in der Stilisierung der Mütterlichkeit gegen die Maschinerie in einem anderen Teil der alten Frauenbe- wegung, ähnlich wie heute. In diesen Debatten wird implizit deutlich, wie die ge- sellschaftliche Verbindung zwischen den beiden getrennten Sphären gesichert wird oder sein soll, wie Ängste, Irritationen und aufbrechendes Unmutspotential zum offenen Widerstreit und zur Einmischung in politische Entscheidungsprozes- se sich formulieren.

Bedingungen der alltäglichen Reproduktion in der Phase der Industrialisierung der Produktion

Am Beispiel der »Sozialgeschichte der Nähmaschine« hat Karin Hausen (1978) zwei gängige Stereotype der üblichen Beschreibung der Trennung von Erwerbs- und Familiensphäre widerlegt. Sie zeigt, daß die vielzitierte Entlastung des Haus- halts von Produktionsfunktionen durch die Technisierung von Arbeitsvorgängen klassenspezifisch bis zur Gegensätzlichkeit unterschiedlich verlief und daß die Trennung von Wohn- und Arbeitsplatz überwiegend für Männer und teilweise für ledige Frauen, nicht aber für verheiratete und gar nicht für Frauen mit kleinen Kindern galt. Als »Zwitterding zwischen Hausrat und Produktionsanlage«

(Hausen 1978, S. 148) eroberte die Nähmaschine als erstes technisches Massen- konsumgut in Deutschland den Markt, genauer: die Wohnungen aller Klassen und Schichten. »Nähmaschinenarbeit ist in erster Linie Frauenarbeit, und zwar Frau- enarbeit, die auch noch in der konkreten Anwendungsform des späten 19. Jahrhun- derts alle nur denkbaren Variationen von privat bis gesellschaftlich organisierter Arbeit aufweist« und es von daher »nicht zuläßt, Hauswirtschaft und Erwerbswirt- schaft, wie sonst für das 19. Jahrhundert üblich, analytisch fein säuberlich zu trennen« (a.a.O. S. 149)

Die kommerziellen Reklamefloskeln waren damals für die Nähmaschine ähnlich wie die heutigen für technische Haushaltsgeräte: angepriesen wurde die Zeitersparnis und die Beförderung der Emanzipation der Hausfrau, selbstverständ- lich ohne Rücksicht auf den Verwendungszusammenhang, in dem die Arbeit an

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der Maschine stand. Tatsächlich bedeutete die Nähmaschine eine Konzentration von Hausarbeit bei der Hausfrau. Da Erwerbsarbeit von Ehefrauen bis in kleinbür- gerliche Schichten hinein als nicht standesgemäß galt, für Ehefrauen von Beamten sogar offiziell verboten war, wurden die »Eisemen Näherinnen« in den gehobe- nen Kreisen nur heimlich und als schmuckes Möbelstück dekoriert ins Haus geholt.

Dem unteren Mittelstand bot die Nähmaschine eine Möglichkeit für öffentlich nicht sichtbare Erwerbsarbeit, besonders den kleinbürgerlichen Töchtern. Den pro- letarischen Frauen diente sie ausschließlich zum Geldverdienen. Deren offene und die verschämte Heimarbeit kleinbürgerlicher Frauen schien äußerlich im Einklang mit der auch in der Arbeiterklasse sich allmählich durchsetzenden Norm, daß Frauen sich ausschließlich um die Gestaltung des Innenraums der Familie zu kümmern hätten. Faktisch führte die nicht vollzogene Trennung von Wohn- und Erwerbsarbeitsplatz zur Überlastung durch Haushalt, Kinder und die Fordeningen von Kunden oder Zwischenmeistern. Dagegen erschien die gleichförmige Arbeit in der Fabrik manchen Frauen als die geringere Strapaze (vgl.Dyhrenfurth 1898 nach Hausen 1978, S. 166).

Schon zu Beginn der Industrialisierung war das Bild von der Zuständigkeit der Frau für Haushalt und Familie so verbreitet, daß die übliche Abweichung davon zu heftigen öffentlichen Klagen über den gesellschaftlichen und sittlichen Verfall führten. Diese Klagen sind Hinweise auf die Bedeutung, die die Zeitgenossen der Herstellung und Wiederherstellung der Familie und der Bindung der Frauen an diese Institution der Privatsphäre für die Stabilisierung der sozialen Ordnung gaben. Auch der proletarische Antifeminismus großer Teile der Gewerkschaften im 19. Jahrhundert diente nicht nur dazu, die Frauen als konkurrierende Arbeits- kräfte vom Arbeitsmarkt fernzuhalten, sondern sie der proletarischen Familie als Hausfrau und Mutter zuzuführen und dem Arbeiter als »seine Frau« zu erhalten.

Mit den pädagogischen Programmen der »Erziehung zum Weibe« im 19. Jahr- hundert wurden Frauen auf ihre Funktion in der Familie vorbereitet. Weibliche So- zialisation wurde identisch mit der Ausbildung zur Ehefrau und Mutter für eine Familie nach bürgerlichem Vorbild. Die sittliche Ordnung des Familienlebens wurde nahezu gleichgesetzt mit der Sittlichkeit des weiblichen Geschlechts. Dieses Leitbild wurde zur gesellschaftlichen Norm, nach der Frauen ihren Lebensweg be- urteilen lassen mußten und selbst beurteilten, aber es entsprach lange nicht der Rea- lität. In Deutschland hat erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den fünfziger Jahren eine nennenswerte Anzahl von Frauen eine »Hausfrauenehe« führen können, und die Frauen aller Schichten haben die Gestaltung des Familienlebens - insbesonde- re des städtischen - und die Haushaltsführung in der Industriegesellschaft erst lernen müssen. Mit der Privatisierung und Intimisierung der Familie, die schließ- lich weder bezahltes Personal noch die nicht zur Kemfamilie gehörenden Ver- wandten mehr beherbergte, ging die Konzentration der Hausarbeit und familialen Kindererziehung bei der Hausfrau einher. Die Hausfrau wurde zur letzten unspe- zialisierten Arbeiterin (Schwarz Cowan 1985, S. 197). Je mehr die Industrialisie- rung der Produktion voranschritt und die Lohnarbeit zur dominanten Form verge- sellschafteter Arbeit wurde, desto mehr wurde die Familie zur Privatsphäre stili- siert, zum Reservat emotionaler und kommunikativer Bedürfnisbefriedigung, in dem die materielle Arbeit der Frauen zunehmend unsichtbar gemacht und unter

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dem Schleier der Zweckfreiheit zur »Arbeit aus Liebe« (Bock/Duden 1977) ro- mantisiert wurde.

Diese sehr knappe Erinnerung an die historische Veränderung der Familie und der Frauenarbeit darin diente der Illustration des Prozesses, der zur »Anomymi- sierung« des Familienalltags beitrug, in gewollter Komplementarität zur Industria- lisierung der Produktion und zur Entemotionalisierung und Entfeminisierung der Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Die Anstrengungen, dieses Familienideal prak- tisch durchzusetzen, hatten freilich durchaus öffentlichen Charakter, wenn auch den einer Teilöffentlichkeit, nämlich der der bürgerlichen Frauen. Mitte des 19.

Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg wurde der Prozeß der Entwicklung der Hausarbeit unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen durch zahlreiche so- zialreformische Initiativen der Frauenbewegung und von Frauenvereinen beein- flußt und durch Untersuchungen und Debatten in Zeitschriften zum öffentlichen Thema gemacht (z.B. ausführlich in der Zeitschrift »Die Frau«). Das Problem, die gesellschaftlich notwendige Arbeit der Reproduktion der Arbeitskraft, die jenseits der Familie in der industriellen Produktion sich verausgaben mußte, angemessen zu gestalten und gegen den Sog des Produktionsprozesses zu sichern, der tenden- ziell alle Mitglieder der Gesellschaft sich als Lohnarbeitende einverleibt, wurde öffentlich artikuliert und beachtet.

Hausarbeit als Erhaltung und Qualifizierung von Arbeitskräften für die Repro- duktionsarbeit wurde klassenspezifisch problematisiert. Für die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Haushalte ging es vornehmlich um die Möglichkeiten, Dienst- boten am häuslichen Arbeitsplatz zu halten; für die Proletarierfrauen darum, die neue Haushaltsführung zu erlernen. Als Dienstbotenmangel in den eigenen Schich- ten und als »Verwahrlosung des Hauswesens« (Salomon 1906, S. 584), als »haus- beruflicher Dilettantismus« (Lüders 1913, S. 33 f), als Kritik an den Bedingungen der »mangelnden Gebärwilligkeit« in den »niederen Schichten« (Bernays 1916, S.

17) brachten die sozialpolitisch engagierten Frauen die Kehrseite der Industriali- sierung zur Sprache. Mit ihren Interessen als Hausfrauen standen sie dabei nicht selten im Widerspruch zu den Interessen der Kapitalisten an Kostensenkung für die Arbeitskraft und an Produktionssteigerung und zu den Interessen der Lohnar- beiter am Arbeitseinsatz zur Einkommenssteigerung.

In dieser Phase der Industrialisierung der Produktion vom letzten Drittel des 19.

Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg besteht die »Rationalisierung des Alltags- lebens« insbesondere in der Ausformung einer dem Kapitalismus sozialadäquaten Familienstruktur und Haushaltsführung. In diesem Prozeß haben Frauen aller Schichten eine Qualifizierung zur Reproduktionsarbeit durchlaufen. Als Organi- satorinnen dieses Qualifizierungsprozesses können die bürgerliche Frauenbewe- gung, die Frauen- und Hausfrauenvereine gelten, die Haushaltungskurse und Hy- gienekampagnen abhielten, die Familienfürsorge organisierten und die Basis der Tätigkeiten schufen, die dann in der beruflich organisierten Sozialarbeit Kompen- sation und Ersatz von Familienfunktionen komplementär zur industriell organi- sierten Arbeit sichern sollten (vgl. Riemann 1985). Ziel dieser Initiativen war es, mit einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterfamilien möglichem explosiven sozialen Protest vorzubeugen, die sozialen Gefahren der »Technikfol- gen« einer einseiüg forcierten industriellen Produktionsentwicklung präventiv zu

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bannen, ohne daß diese Entwicklung selbst grundsätzlich in Zweifel gezogen worden wäre. Die gesellschaftliche Bedeutung dieser Arbeit, die einen geordne- ten Alltag sichern sollte, setzte die Frauenbewegung konsequent in die Forderung nach öffentlicher Anerkennung der Hausarbeit um und in die nach Professionali- sierung der sozialen Arbeit, die Frauen eine angemessene Erwerbstätigkeit ermög- lichen sollte.

Die Bemühungen um eine Rationalisierung alltäglicher Lebensführung in der skizzierten Phase der Industrialisierung der Produktion waren in einer Frauenöf- fentlichkeit konzentriert, die sich in der Reaktion auf die Industrialisierung kon- stituierte und breit wirksam wurde, die es offiziell politisch aber gar nicht gab. Ihre Ziele, z.T. geprägt von verschiedener Klassenzugehörigkeit und im einzelnen nicht einheitlich, hatten jedoch eine gemeinsame Basis und verhalfen einer historischen Einsicht zum Durchbruch, die in der weiteren kapitalistischen Rationalisierung be- rücksichtigt werden mußte: Hausarbeit und Familie, obgleich als »private« defi- niert, haben gesellschaftliche Bedeutung, weil sie Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft garantieren sollen, die der kapitalistische Produktionsprozeß nicht selbst produzieren kann, nämlich die Herstellung und Wiederherstellung mensch- licher Arbeitskräfte und den bürgerlichen Individuierungsprozeß. Zur Selbsterhal- tung ist die kapitalistische Gesellschaft also zur Rücksicht und zur Kontrolle der biologischen, emotionalen und sozialen Reproduktionsbedingungen ihrer Mitglie- dergenötigt. Frauen erfahren die Kontrolle alseine historisch in jeweils neuer Form immer wiederhergestellte Bindung an die Familie und an die Reproduktionsfunk- tionen. Die Balance, die die Gesellschaft zwischen den Interessen an der Lohnar- beit von Frauen und denen an ihrer biologischen und sozialen Reproduktionsarbeit herstellen muß, wird auch vom Verhalten der Frauen selber beeinflußt, das mit den gesellschaftlichen Interessen nicht übereinstimmen muß (vgl. Eckart 1986, S. 222 ff) und dennoch in seiner Komplementarität verwertet werden kann.

Das Familien- und Privatleben ist nicht ausschließlich ein Hort eigensinniger Lebensführung. Die Vernunft der Selbsterhaltung und Handeln nach Zweckratio- nalität prägen auch dort das alltägliche Verhalten bis in die persönlichen Bezie- hungen hinein. Das Widerstandspotential liegt darin, daß das Handeln nicht direkt gesellschaftlichen Herrschaftsinteressen unterliegt und Ziele und Absichten des Handelns in der Privatsphäre jenen Interessen - auch unbeabsichtigt - entgegen- stehen können.

Revoltierende Anpassung

Die Industrialisierung der Produktion, die Auslagerung produktiver Funktionen aus der Hauswirtschaft und die Reduktion der Familie auf reproduktive Funktio- nen für ihre unmittelbaren, biologisch verwandten Mitglieder hat die Arbeit bei der Hausfrau konzentriert (vgl. u.a. Schwarz Cowan 1983; Tilly/Scott 1978), und die Erfahrungsbereiche gesellschaftlich industriell organisierter Arbeit und öffent- licher Kommunikation und Arbeit und Kommunikation in der Familie polarisiert.

Die sozialen und psychischen Spannungen dieses äußeren Wandels, der traditio- nelle Lebenszusammenhänge zerbrechen ließ, mußten in neuen Formen kulturel-

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1er Reproduktion und sozialer Integration aufgefangen werden. Im raschen tech- nischen Wandel war eine sozialadäquate Sozialisation, ein »angemessener Sozial- charakter« nicht in gleich schnellem Tempo mitgewachsen. Ein Teil der bürgerli- chen Frauenbewegung setzte zu Beginn dieses Jahrhunderts gegen die Verallge- meinerung des Prinzips technologischer Rationalität, gegen die Ausweitung entfremdeter Arbeit die Mütterlichkeit als kulturellen Schutzwall. In der Kritik an der Ausweitung der Prinzipien technologischer Rationalität und der Zeitökonomie stand sie im Widerspruch zu den kapitalistischen Produktionsverhältnissen. »Im Schicksal der Frau steigert sich der Gegensatz zwischen Familieninteressen und Produktionsinteressen heute zu grellster Dissonanz; ihr Leben wird der Schauplatz des schärfsten Zusammenstoßes zwischen diesen beiden Tendenzen unserer Kul- turentwicklung, wird wirklich zweierZeiten Schlachtgebiet« (Helene Lange, Die Frauenbewegung in ihren modernen Problemen, Leipzig 1908, S. 12, zit. nach Brick/Woesler 1981, S. 65).

Die Kritik an der Gefährdung der kulturellen Reproduktion, an einem Kurz- schluß zwischen gesellschaftlichen Produktionsimperativen und der Privatsphäre durch die Verallgemeinerung des Prinzips technologischer Rationalität bezeichne- te zutreffend den kritischen Übergang von personaler zu sachlicher Herrschaft, die Bedrohung sinnlicher Wahrnehmungsfähigkeit auch in der Privatsphäre. Sie ging jedoch nicht an die Wurzeln kapitalistischer Produktionsverhältnisse selbst. Mit seinen Forderungen nach Anerkennung und Förderung der »weiblichen Kultur«

glaubte der gemäßigte Flügel der bürgerlichen Frauenbewegung den Geschlech- terantagonismus durch die »Verstaatlichung des natürlichen Wirkungskreises der Frau« in eine angemessene gesellschaftliche Komplementarität überführen zu können, die die soziale Gleichberechtigung der Geschlechter mit der Verschieden- heit der Geschlechter verbinden werde. Die Frauenbewegung beeinflußte durch ihre »revoltierende Anpassung« (Brick/Woesler, S. 67) die Erscheinungsform des Kapitalismus in der Art einer veröffentlichten Aufmerksamkeit für die »Humani- sierung technisierter Arbeitsverhältnisse«. Statt einer radikalen Kritik des kapita- listischen Realitätsprinzips als Leistungsprinzip stellte sie gegen Konkurrenz, Ag- gressivität und Effektivitätsdenken die emotionale und sinnliche Ausdrucksfähig- keit, die das bürgerliche Bildungsprogramm für die weibliche, besonders die mütterliche Lebensform in der Zweckfreiheit der Privatsphäre zur Norm erhoben hatte.

Vom Staat, betrachtet als Instanz zum Ausgleich verschiedener gesellschaftli- cher Interessen, wurde Anerkennung und Förderung der eigenen Werte »weibli- cher Kultur« und deren Ausweitung über die Familie hinaus ins gesamte Staatsle- ben gefordert. Intersubjektivität und emotionale Kommunikation wurden so im Kampf um die gesellschaftliche Anerkennung in »Gefühlsarbeit« und »Bezie- hungsarbeit« überführt und dem »patrizentrischen Wertsystem« (Fromm) einver- leibt. Mit der »Mütterlichkeit« hatte die Frauenbewegung die Bedeutung der frühen Intersubjektivität in der Mutter-Kind-Beziehung für eine emphatisch verstandene Individuierung verallgemeinernd ins öffentliche Bewußtsein gehoben, gegen ein männliches Selbstverständnis von Individualisierung, das in der Selbst-Verwirk- lichung nach den Prinzipien der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft verküm- merte.

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Der Mensch dieser (patriarchalisch-autoritativen)Gesellschqftfühlt keinen unbe- dingten Anspruch auf Liebe und Sympathie. Er glaubt vielmehr nur dann und in- sofern ein Recht auf Glück und Liebe zu haben, als er die Forderungen, die ihm von der väterlichen Autorität gestellt werden, erfüllt. Er bedarf grundsätzlich der

»Rechtfertigung« für sein Leben. (Fromm 1936, S. 127)

Nicht die reale Entfaltung emotionaler, sinnlicher und erotischer Fähigkeiten und eine radikale Individuierung der Frau von gesellschaftlich geformter und genutz- ter Mütterlichkeit wurde im politischen Kampf um gesellschaftliche Positionen für die Frauen vom gemäßigten Teil der bürgerlichen Frauenbewegung gefordert (das blieb Inhalt des Emanzipationsverständnisses des radikalen Flügels um Helene Stöcker), sondern Mütterlichkeit als gesellschaftliches Prinzip, zur Teilhabe am Modernisierungsprozeß. Mit ihrer Forderung nach Anerkennung der staatstragen- den Funktion von »Mütterlichkeit«, weniger gegen als neben der Maschinerie und technischen Rationalität, beugte sie jene selbst unter das Leistungsprinzip nach pa- trizentrischem Muster.

Mit einer weiteren Drehung an der Spirale der historischen Entwicklung griff unter dem umfassenden Programm der »Rationalisierung der Daseinsgestaltung«, die »auch das letzte Glied des menschlichen Lebens« ergreifen sollte, die betrieb- liche Sozialpolitik in den zwanziger Jahren dieses Prinzip auf.

Separierung und Normierung

Betriebliche Sozialpolitik war indirekt Familienpolitik und als solche auch Ge- schlechterpolitik (vgl. Sachse 1986), die die soziale und familiale Entwicklung an die zeitgenössischen technischen Entwicklungen anpassen sollte.

Im zwanzigsten Jahrhundert und verstärkt nach dem Ersten Weltkrieg machten sie (die Unternehmer) sich daran, die Familie als Produktionsstätte der Arbeitskraft und die Art und Weise, wie dort Arbeitskraft produziert und reproduziert wurde, zu »rationalisieren«. Betriebliche Familienpolitik wurde ... zur institutionellen Verknüpfung der familialen Produktion und betrieblichen Konsumption der Ar- beitskraft unter der Regie des modernen Managements. (Sachse 1986, S. 13) Und die wäre als einseitiger Übergriff nicht zustande gekommen, wenn sie nicht auch auf die Interessen der Hausfrauen und Arbeiter gestoßen wäre. Kasemierung in Wohnheimen war unter den Arbeitenden allgemein unbeliebt, und unter den Männern war die Schlafgängerei verbreitet. Auch wenn das Motiv dafür eher das Vermeiden weiterer Abhängigkeit vom Unternehmer war, wurde die Betonung einer Privatsphäre jenseits des Betriebes für die lohnabhängig Arbeitenden ähnlich bedeutungsvoll wie einst die des Bürgers gegen die Feudalherren.

Im Werkswohnungsbau um die Jahrhundertwende sollte die Sittlichkeit und fa- miliale Abgeschlossenheit gefördert werden durch getrennte Schlafräume für Eltern und Kinder und durch Geschlechterirennung der Heranwachsenden beim

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Schlafen zumindest durch Sichtblenden. Untervermietung war weit verbreitet als Zuverdienst, aber von den unternehmerischen Bauherrn nicht gem gesehen. In den

»Werkskolonien« und »Arbeiterdörfern« sollten möglichst alle Wohnungen einen separaten Eingang von der Straße her haben. Der zentrale Raum war die Wohnkü- che (Sachse 1986, S. 42 ff.), in der die Arbeit der Hausfrau und die Kommunika- tion der Familie verbunden waren. Die räumliche und architektonische Gestaltung einer Privatsphäre der Arbeiterklasse ging durch das von Unternehmern und Werk- vereinen organisierte Bauen mit einer Normierung der Wohnverhältnisse einher.

Einen weiteren Schritt zur Separierung von »Arbeit und Leben« nach dem Modell der bürgerlichen Gesellschaft leitete zu Beginn der zwanziger Jahre die Bewegung für rationelle Haushaltsführung ein, die von Verbänden mittelständi- scher Hausfrauen getragen war und mit der allgemeinen Rationalisierungsbewe- gung und Euphorie der »neuen Sachlichkeit« in der Weimarer Republik in Ein- klang stand. Reformierter Siedlungsbau wie etwa die May-Siedlungen und die

»Frankfurter Küche«, der Einfluß des Bauhauses auf die Architektur wie auch auf die Gestaltung von Möbeln, Geschirr und Haushaltsgeräten suchten der entstehen- den Konsumgüterindustrie ästhetische Standards für die Gestaltung technischer Geräte des privaten Alltags und bei der Fertigung von Einrichtungsgegenständen aufzunötigen (Wolfe 1984). Die Stilisierung sachlicher, technischer Herstellungs- weise zu einem modernen Lebensstil prägte auch das Bild der »Neuen Frau« (v.

Wysocki 1977) und schuf im androgynen Garçontyp eine Figur, die in konsequen- ter Fortsetzung ästhetischer Konstruktion des »technisch möglichen« selbst die Geschlechterdifferenzen spielerisch leugnete.

Zurück zur rationellen Haushaltsführung. Sie war sowohl eine mit dem »Zeit- geist« in Einklang stehende Reaktion auf die materielle Notwendigkeit von spar- samem Wirtschaften in allen Haushalten während des Krieges und der Inflations- zeit und auf das Schwinden von Dienstmädchen nach dem Krieg, als auch ein Mittel zur Aufwertung der Hausarbeit nach dem herrschenden Maßstab von Fort- schritt und Modernität.

Die wissenschaftlich vorgehende Hausfrau, Agent und Objekt ihrer rationellen Be- triebsführung in einem, ausgestattet mit den verschiedensten Berufs-Rollen in ihrem Haushalt, konnte als Teilnehmerin an gesellschaftlicher Produktion erschei- nen. Rationelle Haushaltsführung wurde nicht als Selbstausbeutung der zuvor un- reglementierten Hausfrau interpretiert, sondern als notwendige Disziplinierung, als Anwendung der gesellschaftlichen Regeln auf einen archaisch gebliebenen Bereich. Die gewonnene Zeit sollte Ehemann und Kindern, wir würden heute sagen: der Beziehungsarbeit, zugute kommen. (Kramer 1982, S. 117 f.)

Diese mittelständische Kampagne, theoretisch angeregt von Christine Fredericks

»The New Housekeeping - Efficiency Studies in Home Management«, 1911 in den USA, 1921 in deutscher Übersetzung in hohen Auflagen erschienen, übertrug Taylors Prinzipien der Betriebsfiihning von der Normierung von Arbeitsverfahren bis zu Bewegungsstudien in den privaten Haushalt. Die Absichten der Frauen, die diese Kampagne führten, waren wieder nach den beiden Richtungen der angestreb- ten sozialen Verortung und Anerkennung verschieden. Die eine Richtung verfolg-

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te eine Erleichterung der materiellen Hausarbeit für die Hausfrau, die nun weitge- hend ohne Dienstboten zur Managerin und Arbeiterin ihres Haushalts werden und zugleich die psychische Versorgung der Familie und die bürgerlichen Repräsen- tationspflichten bewältigen mußte. Die andere strebte nach Rationalisierung der Hausarbeit als Befreiuung der Frau zur Berufsarbeit.

Gleichviel, ob die Frau ausschließlich in der Familie oder auch im Beruf ihren sozialen Status suchen sollte, die Rationalisierung der Hausarbeit führte zum Be- wußtwerden des emotionalen Kems der Hausarbeit, der keiner Technisierung und Taylorisierung unterworfen werden kann (Kramer 1981). Elsa Herrmann, Befür- worterin der Berufstätigkeit von Frauen, formulierte das Ziel der »rationellen Ar- beitserledigung im Haushalt«:

Die Frau von heute hingegen gewinnt durch die bewußt sachliche Einstellung ihren Pflichten gegenüber Zeit für sich selbst und schafft sich dadurch die notwendigen Voraussetzungen zur Selbstbesinnung, zum Mitleiden- und Mitfreuen-Können.

(Elsa Hermann, So ist die Neue Frau, Berlin 1929, zit. nach Kramer 1982, S. 123) Das Individuierungspotential, das die Versachlichung der Hausarbeit den Frauen bot, wurde eingefangen durch die Veränderung der Konsum standards, auf die die Industrialisierung von Konsumgüterherstellung und Dienstleistungen Einfluß nahm und durch die im Gegenlicht der Versachlichung sichtbar werdenden emo- tionalen und kommunikativen Inhalte der Familienarbeit, die nun als direkte Zu- wendung gefordert wurde.

Nicht nur in der Privatsphäre wurden die emotionalen und kommunikativen Inhalte hinter der rationalisierten Arbeit als unverzichtbare kenntlich. Auch die Taylorisierung der Berufsarbeit in den zwanziger Jahren brachte teilweise eine strategische Humanisierung von Arbeitsbedingungen in Gang, zum Beispiel durch die Feminisierung von Zuarbeiten für männliche Vorgesetzte in den heute klas- sisch weiblichen Berufen von Sekretärin und Assistentin. Als Unterströmung zur fortschreitenden formal-rationalen Organisation industriell organisierter Arbeithat stets eine Kooption des Privaten, Emotionalen, der offiziell ausgegrenzten Sinn- lichkeit in der Form untergeordneter Arbeit von Frauen stattgefunden, die »weib- liche Eigenschaften« gleichsam als extrafunktionale Fähigkeiten in den verschie- denen Bereichen der Lohnarbeit verkörperten. Die Feminisierung der Büroarbeit mit der Rationalisierungswelle der zwanziger Jahre hatte zum Teil explizit die Funktion, derkommunikativen Verödung und dem Statusverlust im Arbeitszusam- menhang männlicher höherer Angestellter entgegenzuwirken (Kramer 1986, S. 148 f.).

Unterder Leitung eines traditionellen Betriebspaternalismus wurde strategische Rücksicht auf emotional kommunikative Bedürfnisse der Angestellten genommen.

Die rigorose funktionale Differenzierung des Arbeitsprozesses stieß auch im Betrieb auf Grenzen, die in menschlicher Kommunikation liegen und die bürokra- tische Personalplanung im Interesse des Betriebsklimas und der Effektivität der Arbeitsorganisation sichern muß. Heute werden diese Phänomene angesichts der

»japanischen Herausforderung« im Vergleich japanischer und »okzidental«-west- licher Organisationsformen und Managementstile diskutiert. Der japanische

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»Clan«, seine patriarchal männerbündische Struktur der Betriebsgemeinschaft ist ein anderer Weg kapitalislischerRationalisierung und Modernisierung, dessen spe- zifische Voraussetzungen und Auswirkungen auf das soziale Geschlechterverhält- nis als eine weitere Variation des Grundthemas der Dialektik der Aufklärung er- scheint, daß nämlich technisch-organisatorischer Fortschritt nicht in allen Lebens- bereichen zugleich auf soziale Emanzipation hinausläuft (C. Weber 1986).

Die Implosion der Privatsphäre

Das Familienleben ist mit seinen Funktionen der Haushaltsführung, Erziehung und Reproduktion Teil des Vergesellschaftungsprozesses und zugleich Ort emphati- scher Individuierung. Orientierungen an Zweckrationalität prägen auch dort das alltägliche Verhalten. Im Unterschied zu der im kapitalisten Produktionsprozeß geleisteten Arbeit ist jedoch »Konsument« und »Gegenstand« der Reproduktions- arbeit der Mensch selber, dessen Entwicklung und Entfaltung unlösbar mit dem Bedürfnis nach emotionalen und sozialen Beziehungen verbunden ist. An diesem Inhalt findet die ökonomische Analyse der Hausarbeit und deren technische Ver- änderung ihre Grenze, er wird aber auch durch den Funktionswandel der Familie erst sichtbar. Die materiellen und psychischen Bestandteile der Hausarbeit sind von den veränderten Anforderungen an die Familie unterschiedlich betroffen. Ein Teil ihrer Funktion wird in vergesellschafteter Arbeit organisiert oder in Institu- tionen ausgelagert. Zugleich kommen neue Funktionen hinzu oder werden beste- hende in anderer Weise gefordert, wie die psychische Versorgung der Familien- mitglieder, die aus der wachsenden Trennung von industrieller Arbeit und »Leben«

resultiert. Die Arbeit in der Familie wird zunehmend direkt personenorientiert, und materielle Versorgungsleistungen werden mit emotionaler Bedeutung aufgeladen, weil Kommunikation durch Kooperation in der isolierten Haushaltsführung immer seltener werden. Dies ist ein Grund dafür, daß die Technisierung der Hausarbeit nicht gradlinig zur zeitlichen (wenn auch zur physischen) Entlastung und zur Auf- hebung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung führt. Innovation und Anwen- dung technischer Geräte im Haushalt folgen im Beziehungsnetz der Familie, eines Paares oder einer Wohngemeinschaft nicht ausschließlich zweckrationalen oder ökonomischen Kriterien. Ebensowenig wurden Modelle für die Kollektivierung der Hausarbeit (in Deutschland z.B. die Initiative der »Einküchenhausbewegung«

vor dem Ersten Weltkrieg) als eine Entlastung gesehen, da mit dem Wandel der Arbeit in der Familie und selbst im Ein-Personen-Haushalt das Privateigentum an technischen Geräten zum Verständnis von Privatheit, Intimität und Autonomie der Alltagsgestaltung gehört.

Die personelle Verkleinerung der Familie und die Rationalisierung und Tech- nisierung der Hauswirtschaft (in der Bundesrepublik schichtübergreifend seit den sechziger Jahren) entziehen der Familie die Basis materieller Kooperation und lassen die Kommunikation immer mehr zur unmittelbaren »Beziehungsarbeit«

werden. Die politische Pflege für den Schonraum Familie als Gegenwelt zur Be- rufswelt führt über die »Tyrannei der Intimität« (Sennett 1983) zu der nicht beab-

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sichtigten Folge, daß alle diesen Raum wenigstens zeitweilig fluchtartig verlassen wollen, um in öffentlichen Räumen vermittelte Formen der Kommunikation zu suchen. Die Trennung der Sphären und der Geschlechterrollen (in den fünfziger Jahren durch die funktionalistische Theorie T. Parsons' in der Polarisierung von

»instrumentell« und »expressiv« für Mann und Frau in der Familie erneuert) bis zur Gegensätzlichkeit, die durch Kompensation und Komplementarität den Bestand der Gesellschaft sichern sollte, treibt in der bisherigen Form auf ihre Auf- lösung zu, sowohl in der Familie wie in der Öffentlichkeit und der Berufswelt. In der Familie erwachsen insbesondere den Frauen, bei denen sich die Anforderun- gen an die Gestaltung des Privatlebens konzentrieren, Motive, die Grenzziehung sprengen zu wollen. Die kommunikative Amputation, die soziale Isolierung und Intimisierung des Familienlebens sind vermutlich der sozialpsychologische Nähr- boden sowohl für die Tatsache, daß die Zeit, die Frauen für die Hausarbeit auf- wenden, trotz Technisierung seit über fünfzig Jahren nicht wesentlich reduziert wurde (vgl. u.a. Vanek 1974; Zapf u.a. 1987), als auch dafür, daß nicht nur aus ökonomischen und politischen Gründen Berufstätigkeit zum festen Bestandteil der Lebensplanung von Frauen geworden ist, sondern auch wegen der angestrebten Kooperation und Kommunikation in einer Öffentlichkeit »unter Menschen, die entschlossen sind, einander fremd zu bleiben« (Sennett 1983, S. 38) oder zumin- dest nach den offiziellen Spielregeln des Berufslebens keinen Anspruch auf Inti- mität erheben.

Für das Phänomen der tendenziell grenzenlosen Zeit, die die Arbeit in der Familie trotz Technisierung verschlingt, gibt es eine Reihe plausibler Erklärungen von den veränderten Standards und den veränderten organisatorischen Anforde- rungen der Hausarbeit bei gleichzeitiger Erleichterung einzelner Tätigkeiten als ehemals körperlicher Arbeiten. Dazu gehört auch die weniger beachtete Tatsache, daß, obwohl nun »kinderleicht«, Kinder weniger an der Hausarbeit beteiligt und z.B. in Supermärkten nicht zum Einkaufen geschickt werden können. Die Erklä- rungen bleiben dennoch unbefriedigend, weil sie nichts darüber aussagen, warum die Privatsphäre gegenüber den Konsumstandards so nachgiebig ist. In der histo- rischen Entwicklung der Familie, mit deren funktionaler und kommunikativer Am- putation hat sich die Versorgungsfunktion stabilisiert. Die Familie ist gleichsam auf eine kindliche, orale Stufe fixiert. Der Verlust der Funktion des Vaters in der Familie als Vermittlungsinstanz gesellschaftlicher Normen der Produktion ein- schließlich der Selbstentfaltung ist in der Tradition der Zusammenhänge von »Au- torität und Familie« vielfach analysiert worden. Pointiert in der Vision der vater- losen Gesellschaft wird der gesellschaftliche Kurzschluß des Individuums mit einem manipulierbaren kollektiven Ich-Ideal befürchtet, das die Entwicklung eines eigenständigen, widerständigen Individuierungspotentials verhindert - die Be- fürchtungen um die an neueste Standards gesellschaftlicher Modernität angepaß- ten Computer-Kids (Noller/Paul 1984) sind eine Variante davon. Folgt man diesem Argumentationsmuster, so hat die Funktion der Mutter komplementär eine Über- frachtung mit Fürsorgeerwartungen erfahren, die ihre Möglichkeiten zur Individu- ierung verschüttet.

Ruth Schwarz-Cowan hat zum Beispiel daraufhingewiesen, wie sich im Laufe der zwanziger Jahre das »Schuldgefühl« in amerikanischen Frauenmagazinen zum

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Topos herausschälte. Während sich früher Frauen schuldig fühlen sollten, wenn sie ihre Kinder verließen oder ihren Affekten ungezügelt freien Lauf ließen, sollte sie in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg das Gewissen plagen, wenn sie ihre Kinder mit schmutzigen Schuhen zur Schule schickten. »Zwischen diesen beiden Arten von Schuld liegt eine Differenz ums Ganze.« (Schwarz-Cowan 1985, S.

194). Nicht mehr eigene Wünsche und eigenes Erleben sind der Grund, sondern ungenügendes Tun für andere, ein Bezugspunkt, der Projektionen und Fremdbe- stimmungen Tür und Tor öffnet.

Gegen die infantilisierende Dominanz von Fürsorge in der Familie und gegen die vereinnahmenden emotionalen Ansprüche an die Ehefrau und Mutter können instrumenteile Orientierungen und der konkrete Umgang mit Instrumenten als

»männliches Prinzip« der Trennung bei allen Familienmitgliedern verstärkt werden. Die Kommunikationstechniken können dafür ein Mittel sein. Das Fern- sehgerät ist sowohl Mittel des Konsums nach oralem Muster als auch Instrument der Abgrenzung von anderen. Der Computer in der Familie bietet der oder dem, die oder der sich in seine Bedienung vertieft, ein psychologisch konstruiertes Separée gegenüber den anderen Familienmitgliedern bei gleichzeitiger Verbin- dung mit dem ganzen Rest der Welt: Eine Grenzüberschreitung globalen Ausma- ßes aus dem Nukleus heraus, den die Gesellschaft zu ihrem Intimsten erklärt hatte.

Grenzüberschreitungen

Noch immer gibt es »letzte Reservate«, die der technischen Rationalität unterwor- fen werden, noch immer geschieht dies unter dem Banner der Befreiung vom Na- turzwang. Der unterwerfende Zugriff auf die Natur in der Tradition des Rationa- lismus und des technischen Fortschrittglaubens traf stets auch die Frau und alles das, was an ihr und ihrer Rolle als natürlich definiert wurde (vgl. u.a. Merchant 1982; Fox-Keller 1985; Easlea 1986). Der kontrollierende Zugriff auf den Frau- enkörper im Interesse gesellschaftlicher Regulierung der Gebärfähigkeit von Frauen hat eine lange Tradition in der Medizingeschichte. Der neueste Schritt in der Entwicklung der »Fortpflanzungstechnologien« von der Naturbeherrschung an der Frau bis zur möglichen Menschenproduktion hat weitreichende Folgen für die Vorstellungen von der Normalität von Geschlechterbeziehungen, von einer »nor- malen« Schwangerschaft und von einem »normalen« Kind. Bisher als naturwüch- sig unterstellte Zusammenhänge werden dadurch aber auch als sozial beeinfluß- bare erkannt.

Durch die Möglichkeiten zur »Technisierung der Fortpflanzung« werden weitere soziale Dimensionen des Geschlechterverhältnisses sichtbar, die psycho- logisch tiefer liegen als die Folgen der Sphärentrennung. Die Entwicklung medi- zinischer Technik, die solche Einsichten ermöglicht, behält für Frauen weiterhin die Zweischneidigkeit einer Naturbeherrschung am eigenen Leib, die zur Selbst- bestimmung erst dann werden kann, wenn sie nicht fremden politischen Zwecken untergeordnet ist (vgl. Rothmann 1985; Kontos 1985). Die Frauenbewegung hat in der Bundesrepublik mit einem großen Kongreß Anfang 1985 für Öffentlichkeit

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der Probleme um die Gen- und Fortpflanzungstechniken gesorgt, da diese die Le- bensbedingungen von Frauen unmittelbar berühren. Der Protest ist auch gespeist von der Einsicht, daß in dieser neuen Stufe der technischen Entwicklung der Bio- medizin Strategien der Frauen zur Selbstbestimmung über ihren Körper in eine be- ängstigende, ungewollte Verbindung mit industriellen Forschungsinteressen geraten sind. In diesem sozialen Kurzschluß von privatem Kinderwunsch und in- dividuellem Streben nach Selbstbestimmung über den eigenen Körper mit den öf- fentlich organisierten Interessen biomedizinischer Großforschung werden gleich- sam schockartig Einsichten in politische Verhältnisse möglich, die bis dahin mit ihren gegensätzlichen Interessen nicht wahrgenommen wurden.

Anders als etwa im Falle militärischer Technik ist die eigene Beteiligung an der Technik im Alltag sowohl Grund für eine Gewöhnung, die den gesellschaftlichen Hintergrund der Entstehung der Technik vergessen läßt, als auch Anlaß für »be- troffene« Reaktion im Konfliktfall, weil die eigene Beteiligung auch Legitimation für Kritik bietet, wo sie nicht in Selbstbeschuldigung umgebogen wird. Die jüng- sten Katastrophen bei der Nutzung von Technik auch für alltägliche Zwecke wie die Explosion des Kernkraftwerkes in Tschernobyl schärften das Problembewußt- sein für die unheilvolle Verbindung von persönlichen Nutzungsinteressen mit den Interessen der Betreiber von Kernkraftwerken und einer technokratischen Denk- struktur, die persönliche Bedürfnisse mit gesellschaftlich gesteuerten Prozessen scheinbar verbindet.

Die soziologischen Diskussionen um die grenzüberschreitenden Dimensionen technischer Entwicklung, verbunden mit der Erfahrung des grenzenlosen Ausma- ßes von katastrophalen Unfällen bei der Anwendung der Technik thematisieren implizit den wachsenden Verlust von Rückzugsgebieten, zu denen hin oder von denen aus Umkehr zu praktizieren wäre. Die faktische Grenzüberschreitung der Folgen von Unfällen wie dem in Tschernobyl führt zu einer sozialen Entdifferen- zierung, da angesichts von Katastrophen, die das Leben bedrohen, soziale Unter- schiede ihre existenzielle Bedeutung zu verlieren scheinen (vgl. Beck 1986). Als Betroffene einer Katastrophe der zweiten Natur sind wir alle glcich gemacht. Aber in der Reflexion auf das, was scheinbar nicht mehr unterscheidet, zum Beispiel Wohnort, politische Einstellung, Besitzverhältnisse, Klassenzugehörigkeit, Ge- schlecht wird deutlich, daß wir keineswegs gleich beteiligt waren am Entstehen dieser Zwangsgleichheit.

Die vielfach beschriebenen, verschiedenen Reaktionen von Frauen und Männern nach der Explosion in Tschernobyl - Männer beschäftigt mit analyti- schen Erklärungen, Frauen besorgt um konkreten Strahlenschutz für die Kinder und strahlenfreie Nahrungsmittel - zeigt, daß Betroffenheit, Angst und Anstren- gungen um konkrete Veränderung sich noch immer deutlich unterscheiden nach dem Selbstverständnis und der tatsächlichen Beteiligung von Frauen und Männern an den Entwicklungsprozessen des industriellen technischen Fortschritts. Nicht als per se bessere Menschen haben Frauen fundamentale Kritik an der verselbständig- ten instrumentellen Vernunft geübt. Als von gesellschaftlicher Macht Ausge- schlossene konnten sie Entscheidungen für die Verwendung von Technik kritisie- ren und somit daran erinnern, daß der scheinbar alle gleichmachenden Katastro- phe interessengeleitete Entscheidungen vorausgegangen waren und entsprechende

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Bewältigungsstrategien folgten. Als in relativer Ferne zum technologischen Denken Sozialisierte sehen Frauen Ziel und Mitteleinsatz weniger in einer Eigen- logik technischer Prozesse verbunden und können die politische Reflexion über die Entscheidungen, die darin zu treffen sind und die Verantwortung dafür, einfor- dern. Da sie aus institutionalisierten Formen der Politik weitgehend ausgegrenzt sind, haben sie auch nicht deren Routinen und Rituale von Auseinandersetzungen verinnerlicht und finden zu alternativen Protestformen, zum Beispiel in Bürgerin- itiativen. Frauen erleben sich im doppelten Sinne als Opfer einer bedrohlichen Ent- wicklung: als nicht am historischen Entwicklungs- und Entscheidungspotential technischer Einrichtungen Beteiligte und dennoch unterschiedlos von deren Ver- sagen Betroffene. Ihre Ausgrenzung kann sie davor bewahren, Wissenschafts- und Technikgläubigkeit über ihre berechtigten Ängste siegen zu lassen.

Wenn Angst in den Mittelpunkt des Erlebens technischer Entwicklung tritt, besteht die Chance, daß ins Bewußsein rückt, was bis dahin an den Rand gedrängt wurde.

Angst, die so deutlich in Beziehung zur Gefahr und schon eingetretenen Zerstö- rungen steht, Realangst, ganz gleich, in welcher Intensität sie sich zunächst am einzelnen äußert. Für den einzelnen hat Realangst eine selbsterhaltende, gesell- schaftlich hat sie eine politische, weil auf Veränderung dringende Bedeutung.

(Deserno 1986, S. 38)

Angst war nach dem Reaktorunfall in den Mittelpunkt unseres Erlebens getreten.

Das Wort »Angst« wurde in den Medien, in politischen Reden, in öffentlichen Be- kenntnissen und in der Kritik inflationär häufig gebraucht. Der durch die Angst vor der Vernichtung geweckte Wille zur Veränderung wurde jedoch zum Gegen- stand politischer Behandlung und sollte in die Bahnen von Kontrolle und Verbes- serung des Bestehenden geleitet werden. Die Angst selbst wird psychologisiert und privatisiert. Die möglichen Einsichten, die sie eröffnete, werden mit betonter Emo- tionslosigkeit, gleichsam in beispielhafter Abwehr angeblich irrationaler Emotio- nen, auf das von Sachzwängen definierte kleinere Übel gelenkt. Dieser vorgeblich verantwortungsvolle Realismus (»über-wertiger Realismus«, Adorno 1970, S.

102) betreibt die Abgrenzung des Menschen von der Maschine zur moralischen Legitimation politischen Handelns (Weizenbaum 1987). Genuin menschlich ist das, was die Maschine, der Computer nicht ist: kondensiert der Computer Wissen und Intellekt zum perfekten Instrument, bleiben ftir den Menschen wesentlich noch Intuition und Gefühl. Die Argumentation für eine vermehrte, verbesserte Kontrol- le technischer Prozesse und politischer Entscheidungen durch Computer sugge- riert - zu Ende gedacht - , daß der Mensch die Erfüllung der Gebote der Zweckra- tionalität und Kontrolle dem Computer übertragen und durch diese nach außen ver- lagerte Realitätskontrolle vor den Konsequenzen seiner Gefühle und Sinnlichkeit geschützt werden könne. In einer unmittelbaren Verknüpfung von Individuum und Gesellschaft würde das Über-Ich als verinnerlichte patriarchale Instanz der Selbst- kontrolle ersetzt durch die im Computerprogramm vergegenständlichten Fähigkei- ten des Ichs zur Selbsterhaltung: Huxleys Utopie von der Herrschaft gewordenen Technik, die noch die Selbst-Beherrschung übernommen hat.

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