Deutsches Ärzteblatt
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28. Juni 2013 441M E D I Z I N
EDITORIAL
Umdenken in der Volumentherapie:
Nutzen oder Risiko
von Hydroxyethylstärke?
Thea Koch
Editorial zum Beitrag:
„Volumentherapie mit Hydroxy - ethylstärke beim kritisch Kranken:
eine Neubewer- tung“ von Hartog et al. auf den folgenden Seiten
kungen, wie toxische Effekte auf die Nieren, Beein- trächtigung der Blutgerinnung sowie das Auftreten von therapieresistentem Juckreiz (6).
Studienlage
Die international viel beachtete VISEP-Studie des Deutschen Kompetenznetzwerkes Sepsis, die erstma- lig in einer prospektiv randomisierten Studie auf die nephrotoxischen Effekte von HES (10 % HES 200/05), einer älteren höhermolekularen (200 kD) Präparation hinwies (7), hat eine lebhafte Diskussion über den Einsatz von HES bei Sepsispa- tienten ausgelöst. In der Folge sind nun mehrere groß angelegte prospektiv randomisiert kontrollierte Stu- dien (6S-, CHEST-Studie) und Metaanalysen zur Sicherheit und Effektivität der modernen Hydroxy- ethylstärkelösungen mit niedrigerem Molekularge- wicht (130 kD) erschienen. Nach einer vom Bundesin- stitut für Arzneimittel und Medizinprodukte veranlass- ten Prüfung hat das Expertenkomitee der European Me- dicines Agency (Pharmacovigilance Risk Assessment Committee) der EMA empfohlen, die Zulassung für HES-Präparate auszusetzen, bis überzeugende Daten ihre klinische Wirksamkeit und Sicherheit bei Patienten zeigen. Diese Empfehlung gilt für alle Produkte und In- dikationen (Pressemitteilung der EMA vom 14. 6. 2013).
Hartog, Welte, Schlattmann und Reinhart (8) führen in diesem Heft im Rahmen einer eigenen Meta analyse eine kritische Bewertung des Nutzen-Risiko-Profils von HES durch. In dieser Analyse wurden alle rando- misierten kontrollierten Studien und Metaanalysen berücksichtigt, in denen intensivmedizinisch behan- delte, Sepsis- und Traumapatienten über mehr als 24 Stunden mit 6-%-HES-130/04- beziehungsweise HES-130/0,42-Lösungen oder mit kristalloiden Infu- sionslösungen oder Humanalbumin therapiert wurden.
Nutzen neu bewerten
Hartog et al. kommen nach Auswertung von sieben randomisiert kontrollierten Studien (7 838 Patienten) und der Bewertung mehrerer Metaanalysen zu dem Schluss, dass die Anwendung von HES 130 keine Evidenz für einen Endpunkt-relevanten Nutzen für den Patienten erbringen. Vielmehr ist die Anwendung
H
ydroxyethylstärkelösungen (HES) sind weltweit die am häufigsten verwendeten synthetischen kolloidalen Volumenersatzlösungen (1). Diese Infusi- onslösungen enthalten als kolloidosmotisch wirksames Makromolekül Hydroxyethylstärke in unterschiedli- cher Molekülgröße und unterschiedlichem Substituti- onsgrad und weisen in der Regel einen plasmaähnli- chen kolloidosmotischen Druck auf. Kolloidale Lösun- gen sind durch den postulierten größeren Volumenef- fekt und die längere intravasale Verweildauer integra- ler Bestandteil der Volumentherapie. Dies gilt insbe- sondere bei akuten Blutverlusten, aber auch bei kri- tisch kranken Patienten, bei denen man – basierend auf dem physiologischen Prinzip der Starling-Gleichung – durch die Infusion größerer Mengen von kristalloiden Lösungen vermehrt Gewebeödeme befürchtet. Auch wurden in experimentellen Untersuchungen günstige rheologische Wirkungen und stabilisierende Effekte von HES auf die endotheliale Barriere mit protektiven Wirkungen bei inflammatorisch bedingten Permeabili- tätsstörungen beschrieben.Risiken und Nebenwirkungen
Aufgrund der im Vergleich zu Humanalbumin deut- lich geringeren Kosten und der besseren Verfügbar- keit haben sich diese Lösungen vor allem im peri - operativen und intensivmedizinischen Bereich bei kri- tisch kranken Patienten zur raschen Wiederherstel- lung des Intravasalvolumens seit den 1960er Jahren klinisch etabliert. Während andere Kolloide wie Dex- tranlösungen wegen des höheren Anaphylaxierisikos und Gelatinelösungen aufgrund einer eingeschränkten Volumenwirksamkeit eine geringere Bedeutung ha- ben, wurden besonders in Deutschland Hydroxyethyl- stärkelösungen breit eingesetzt und weiterentwickelt (2, 3). Viele der heute angewendeten kolloidalen Vo- lumenersatzlösungen sind vor ihrer Zulassung jedoch nicht bezüglich der Effektivität und der Sicherheit im Vergleich zu Humanalbumin in größeren Patienten- kollektiven untersucht worden. Beginnend mit Ergeb- nissen der Metaanalysen von Schierhout (4) und Choi (5) wurden die postulierten und in den tierexperimen- tellen Modellen gezeigten Vorteile der Kolloide in der Klinik zunehmend infrage gestellt. Darüber hinaus häuften sich Berichte über unerwünschte Nebenwir-
Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden:
Prof. Dr. med. Koch
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dieser Substanz bei Sepsis und Intensivpatienten mit einem erhöhten Risiko für den Tod des Patienten, mit einer vermehrten Notwendigkeit für Nierenersatzver- fahren und einem gesteigerten Transfusionsbedarf as- soziiert. Inwiefern diese Sicherheitsbedenken bei In- tensivpatienten auch auf den Einsatz von HES 130 im perioperativen Bereich zutreffen, ist derzeit noch un- klar. Hierzu gibt es nur wenig belastbare Studien.
In einer kürzlich erschienen Metaanalyse von Mar- tin et al. (9), welche die aktuelle Datenlage beim Ein- satz von HES-130/0.4-Lösung bei chirurgisch thera- pierten Patienten zusammenfasst, konnten keine sig- nifikanten Hinweise für eine Beeinträchtigung der Nierenfunktion beobachtet werden. In diese Analyse wurden 17 kleinere prospektiv randomisierte Stu - dien mit insgesamt 1 230 Patienten eingeschlossen.
Aufgrund der unzureichenden Datenlage und der Heterogenität der publizierten Studien sind dringend homogene großangelegte kontrollierte Studien, die HES 130 mit kristalloiden Lösungen im perioperati- ven Einsatz vergleichen, erforderlich.
Suche nach neuen Lösungen
Die in der Übersicht von Hartog et al. analysierten Daten implizieren, dass der Einsatz von HES 130 bei kritisch kranken Patienten nicht empfohlen werden kann und bestätigen die nationalen und internationa- len Sepsisleitlinien. Darüber hinaus muss die Sub- stanz bezüglich Nutzen und Risiko in der perioperati- ven Phase durch aussagefähige nichtkommerzielle Studien evaluiert und neu bewertet werden, um die Sicherheit und Effektivität der Therapie zu gewähr- leisten und eine Patientengefährdung auszuschließen.
Aus wissenschaftlicher Sicht stellt sich nach den vorgelegten Ergebnissen jedoch auch die Frage, in- wieweit die auf der Starling-Gleichung beruhende Vorstellung, dass durch kolloidosmotische Lösungen das Intravasalvolumen besser aufrechterhalten wer- den kann, im klinischen Bereich noch zutreffend ist.
Denn die Ergebnisse legen nahe, dass wir – unter Be- rücksichtigung der dynamischen Prozesse beim Aus- tausch von Flüssigkeiten zwischen dem intravasalen und den extravasalen Körperkompartimenten – um- denken und die statischen physiologischen Konzepte weiterentwickeln müssen (10).
Für die Entwicklung neuer Volumenersatzlösungen werden künftig Grundlagenwissenschaften, klinische Forschung und pharmazeutische Industrie noch enger zusammenarbeiten müssen, um wirksame und sichere Präparate für unsere Patienten zu erhalten. Insoweit ist die Suche nach neuen Lösungen eröffnet.
2. Ragaller M, Theilen H, Koch T: Volume replacement in critically ill patients with renal failure. J Am Soc Nephrol 2001; 12: 33–9.
3. Laxanaire MC, Charpentier C, Feldman L: Anaphylactoid reac - tions to colloid plasma substitutes: Incidence, risk factors, mechanisms: A French multicenter prospective study. Ann Fr Anesth Reanim 1994; 13: 301–10.
4. Schierhout G, Roberts I: Fluid resuscitation with colloid or crystalloid solutions in critically ill patients: A systemic review of randomized trials. Br Med J 1998; 316: 961–4.
5. Choi PT, Yip G, Quinonez LG, Cook DJ: Crystalloids vs. colloids in fluid resuscitation: a systemic review. Crit Care Med 1999; 27:
200–10.
6. Wiedermann CJ: Hydroxyethyl starch—can the safety problems be ignored? Wien Klin Wochenschr 2004; 116: 583–94.
7. Brunkhorst F, Engel C, Bloos F, et al.: Intensive insulin therapy and pentastarch resuscitation in severe sepsis. N Engl J Med 2008; 358: 125–39.
8. Hartog CS, Welte T, Schlattmann P, Reinhart K: Fluid replace- ment with hydroxyethyl starch in critical care—a reassessment.
Dtsch Arztebl Int 2013; 110(26): 443−50.
9. Martin C, Jacob M, Vicaut E, Guidet B, van Aken H, Kurz A: Ef- fect of waxy maize-derived hydroxyethyl starch 130/0.4 on renal function in surgical patients. Anesthesiology 2013; 118: 244–7.
10. Ragaller M, Theilen HJ: Colloid osmotic pressure. In: Ronco C, Bellomo R, Kellum J, (eds.): Critical Care Nephrology. 2nd editi- on. Philadelphia: Elsevier Health Sciences 2009; 487–92.
Anschrift der Verfasserin Prof. Dr. med. Thea Koch
Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie Universitätsklinikum Carl Gustav Carus
Fetscherstraße 74 01307 Dresden
Thea.Koch@uniklinikum-dresden.de
Englischer Titel: Rethinking the role of hydroxyethyl starch in fluid replacement
Zitierweise
Koch T: Rethinking the role of hydroxyethyl starch in fluid replacement.
Dtsch Arztebl Int 2013; 110(26): 441−2. DOI: 10.3238/arztebl.2013.0441
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The English version of this article is available online:www.aerzteblatt-international.de Interessenkonflikt
Die Autorin erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht.
LITERATUR
1. Gattas D, Dan A, Myburgh J, et al.: Fluid resuscitation with 6%
Hydroxyethyl Starch (130/0,4) in acutely ill patients: An updated systematic review and meta-analysis. Anesth Analg 2012; 114:
159–69.