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Archiv "Von sterbenden Männern, die singen" (29.10.1986)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Kulturmagazin

Von sterbenden Männern, die singen

Literarische Opern des 20. Jahrhunderts

Werner Klüppelholz

Das märchenhafte Wesen der Oper war in der Vergangenheit gar den vernünftigen Philoso- phen selbstverständlich. So be- merkte Voltaire, bekanntlich ein Rationalist bis ins Mark, mit aller Großzügigkeit: „Die Oper ist ein ebenso sonderbares als prächti- ges Schauspiel, welches die Au- gen und Ohren mehr als den Ver- stand beschäftigt, welches we- gen der Begleitung der Musik die lächerlichsten Fehler macht, wo man bei der Zerstörung einer Stadt Arietten singen und um ein Grab tanzen muß. Man übersieht diese Ausschweifungen, man sieht sie sogar gerne, weil man jetzt in dem Feenlande ist."

Brecht hingegen konstatiert ge- nau zweihundert Jahre später:

„Ein sterbender Mann ist real.

Wenn er zugleich singt, ist die Sphäre der Unvernunft erreicht."

Es fällt dem so realistischen, zwecklogischen 20. Jahrhundert zuweilen schwer, sich auf den Schein und die Konventionen, vor allem die Konvention des Ge- sanges, einzulassen, von denen die Oper lebt und die in keiner Weise vernünftig zu begründen

Alban Bergs Oper vom bra- ven Soldat

„Wozzeck" in Köln: Der Mord ist geschehen, die Geliebte tot, jede Reue kommt zu spät

sind. Dennoch hat das Kompo- nieren von Opern bis heute nicht aufgehört. Allein zwischen 1945 und 1975, wie fleißige Zählung ergab, wurden nur im deutsch- sprachigen Raum über 750 Opern uraufgeführt, und das, obwohl bis weit in die sechziger Jahre die Vertreter serieller Un- sinnlichkeit den Ton angaben,

deren einer, Pierre Boulez, gar alle Opernhäuser in die Luft sprengen wollte.

Die Mischung von Gesang, Schauspiel und Musik wurde um 1600 von Florentiner Aristokra- ten in der Absicht erfunden, da- mit die antike Tragödie neu zu beleben. Was ist heute also dar- 3040 (58) Heft 44 vom 29. Oktober 1986 83. Jahrgang Ausgabe A

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Fotos: Jochen Clauss, Berlin (1), Stefan Odry, Köln (2)

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Literarische Opern

aus geworden, was meint die Vo- kabel „moderne" Oper? Eine er- ste augenfällige Veränderung in der Oper des 20. Jahrhunderts ist am Verhältnis zum Text zu be- obachten, eine Tendenz zum Li- terarischen. Fort mit den eigens zur Komposition verfertigten, nicht selten zusammengeschu- sterten Libretti — her mit richti- ger Literatur. Debussy handelte nach dieser Devise („Pelleas und Melisande") und Richard Strauss in seiner Zusammenar- beit mit Hugo von Hofmannsthal.

Beide konnten freilich auf Mo- delle bereits des 19. Jahrhun- derts zurückgreifen: auf Verdis Schiller- und Shakespeare-Ver- tonungen und auf die philoso- phisch beladenen Texte Wag- ners, den es zum bedeutungs- vollen Wort drängte, das nicht länger nur der „Anklebestoff der Töne" sein sollte. Die szenische Vertonung literarischer Vorlagen blieb eine Konstante bis heute, wo Stücke wie Benjamin Brittens

„Der Tod in Venedig" nach Tho- mas Mann, Wolfgang Rihms „Ja- kob Lenz" nach Büchner, Fried- rich Cerhas „Baal" nach Brecht oder Aribert Reimanns „Lear"

nach Shakespeare geradezu den Eindruck einer Mode dieses Ver- fahrens erwecken. Auch die pro- minenteren Premieren des Jah- res 1986 sind sämtlich Literatur- Opern: Reimanns „Troades"

nach Aischylos in München, Hans Zenders „Stephen Climax"

nach Joyce in Frankfurt oder Hans-Jürgen von Boses „Wer- ther"-Veroperung für die Schwetzinger Festspiele. Was Rang und Namen hat in der Welt- literatur muß auf die Bühne, was kaum noch wird gelesen, wird wenigstens gesungen.

Eine solche Aufwertung des Tex- tes geht freilich nicht selten mit einer Abwertung, zumindest ei- ner Relativierung des Schönge- sanges einher, der ja — um

„schön" zu sein — die Wörter zer- stückeln und zerdehnen, ihre Verständlichkeit mithin stark be- einträchtigen muß. Einen diame-

Auch „Der Tod in Venedig" will opulent besungen sein; Donald Grobe in Brittens Musikstück nach Thomas Mann, Deutsche Oper Berlin 1974

tralen Gegensatz zwischen Spre- chen und Singen konstruierte bereits Schönberg in seinem fragmentarischen Hauptwerk

„Moses und Aron" (1932). Diese unvollendete Oper, die so Undar- stellbares wie die Stimme Gottes aus dem Dornbusch oder den or- giastischen Tanz ums goldene Kalb enthält, ist ein Ideenkunst- werk.

Ein Dialog zwischen Moses, dem Überbringer des göttlichen Wor- tes, und Aron, dem Mann der Tat, ein Disput zwischen der As- kese des Geistes und der Herr- schaft, ja Demagogie der Sinn- lichkeit. Folgerichtig verharrt Moses beim Sprechen und Sprechgesang, während Aron ausschließlich singt. In Deklama-

tion und Vokalise, in musikloses Sprechen und sprachloses Sin- gen hat sich der Gesang in der Oper des 20. Jahrhunderts — mit allen Zwischenstufen — polari- siert. Problematisch wurde übri- gens seine Rezeption durch das Publikum. Die vokale Melodik ist häufig in großen Intervallen ge- zackt und atonal zerklüftet, von Laien kaum umstandslos nach- zusingen wie zum Beispiel der

„Jungfernkranz" aus Webers

„Freischütz", den vor eineinhalb Jahrhunderten ganz Europa auf den Lippen trug. Gesang in der modernen Oper mutet nicht sel- ten wie eine entfernte Fremd- sprache an. Nicht nur daß gesun- gen wird, berührt manche merk- würdig, vielmehr auch wie. So urteilte ein Kritiker bei der Ur- aufführung eines der größten Bühnenwerke dieser Epoche, Bergs „Wozzeck" 1925: „Ich will von morgen an Moses Kanalge- ruch heißen, wenn das kein auf- gelegter Schwindel ist".

Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 44 vom 29. Oktober 1986 (59) 3041

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Literarische Opern

Daß Bühnenkomponisten heute zu literarischen Vorlagen greifen und überdies das Spektrum vo- kaler Artikulation beträchtlich erweitert haben, besagt indes noch wenig über ästhetische Po- sitionen. Wie verfahren sie musi- kalisch mit einem Text? Gleich den meisten Erfindungen der Moderne, wurden ebenfalls für das Verhältnis von Text und Mu- sik im ersten Drittel des Jahrhun- derts die Grundprinzipien defi- niert, wie der Vergleich dreier Morde demonstrieren mag. Al- ban Bergs „Wozzeck" zeigt den Diener eines moralisierenden Hauptmanns, das Versuchsob- jekt eines größenwahnsinnigen und mit ihm experimentierenden Arztes (nur Hülsenfrüchte darf er essen), den Ausgenutzten, Un- terdrückten, zudem von Para- noia Verfolgten, den Vater eines Kindes der schönen Marie, die Wozzeck aus Eifersucht ermor- det. Berg überzieht das Gesche- hen mit einem feingliedrigen Netz klanglicher Zeichen, cha- rakterisiert Personen und Hand- lungsstationen mit einer Vielzahl von Motiven, die zu Erinnerungs- motiven werden, wo sie im Au- genblick des Todes übereinan- derstürzen, gleichsam als musi- kalischer Lebensfilm ablaufen.

Den Noten ist dort sogar zu ent- nehmen, wie Wozzeck die Mord- waffe führt: während eines sich harfenartig aufbauenden Orche- sterklangs sticht er das Messer in Maries Körper hinein und zieht es beim selben, gespiegelt sich abbauenden Klangs wieder heraus. Die Musik Bergs zeich- net den Text Büchners also in den kleinsten Regungen nach, identifiziert sich geradezu mit ihm.

Mord Nummer zwei: Paul Hinde- miths „Cardillac" (1926). Der Goldschmied Cardillac, im Paris des 17. Jahrhunderts, kann sich von seinen Werken nicht tren- nen. Ist er gezwungen, ein Ge- schmeide zu verkaufen, gewinnt er es durch Ermordung des Käu- fers zurück. Eine Dame verlangt von einem Kavalier ein solches

Kleinod, dann stünde um Mitter- nacht ihre Tür ihm offen. Der Ka- valier tritt ein, ein Liebesspiel entspinnt sich, der Mörder springt lautlos durchs Fenster.

Hindemith hat die Vorphase der Tat als Pantomime gestaltet, beim Mord selbst herrscht Schweigen, vorbereitet durch ei- ne spannungsvolle Beruhigung der Musik, die erst danach zu ei- nem Furioso ausbricht. Im übri- gen aber läuft zwar die Musik nicht völlig beziehungslos dem Text nebenher, sie unterstützt ihn jedoch nur mit allgemeinen Charakteren. Greift Hindemith hier auf einen vorklassischen, Text und Musik nur locker zu- sammenfügenden Typus der Oper zurück, so ist die dritte äs- thetische Position der Oper im 20. Jahrhundert gänzlich frei von allen historischen Vorbildern.

Der dritte Mord, eine ganze Mordserie steht zu Beginn der

„Dreigroschenoper" (1928), von einer Leierkastenmelodie mori-

Und noch ein Bühnenmord:

Wenn schon nicht die Liebe, so ist Gold der Stoff, aus dem die Mörder- opern schöpfen;

Hindemiths

„Cardillac" weiß davon eine Arie zu singen

tatenhaft begleitet. Süßlich und charmant, so die Absicht der Ur- heber Brecht und Weill, sollten dort die grauslichsten Schandta- ten besungen werden, damit sie um so unheimlicher wirkten. Das Gegenteil von Bergs Identifika- tion mit dem Text tritt dabei ein, eine Distanzierung durch Musik, wenn auch eine doppelbödige.

Kontrastierende, „gestische Mu- sik" soll verborgene Qualitäten des Textes sichtbar machen, nicht ihn bloß tautologisch ver- doppeln. Mag sein, daß dies die

modernste Position heutiger (Pardon, die Modernität hat seit 1928 etwas nachgelassen) — der Oper im 20. Jahrhundert dar- stellt: wenn schon Männer sin- gend sterben, soll wenigstens die Vernunft nicht ganz untätig bleiben.

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr.

Werner Klüppelholz Nußbaumer Str. 43 5000 Köln 30

3042 (60) Heft 44 vom 29. Oktober 1986 83. Jahrgang Ausgabe A

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