24. Gew¨ ohnliche
Differentialgleichungen
Definition. Eine gew¨ ohnliche Differentialgleichung ist eine Glei- chung zwischen einer unabh¨ angigen Variablen x , einer Funktion y(x) und deren Ableitungen y
′(x) , y
′′(x) , . . . , y
(n)(x)
F (x, y, y
′, . . . , y
(n)) = 0
Der Grad der h¨ ochsten vorkommenden Ableitung ist die Ordnung der Differentialgleichung.
Eine L¨ osung einer Differentialgleichung ist eine (gen¨ ugend oft differenzier- bare) Funktion, welche die Dgl. identisch erf¨ ullt.
Beispiel. xy
′′′+ (y
′)
2(y
3− 1) + sin x = 0 ist eine Dgl. 3. Ordnung.
y = sin x ist eine L¨ osung der Dgl. y
′′+ y = 0 , weil f¨ ur alle x gilt dass (sin x)
′′+ sin x = 0 .
Bemerkung. Treten mehrere unabh¨ angige Variablen x
1, x
2, . . . , x
n, eine Funktion y(x
1, x
2, . . . , x
n) und deren partielle Ableitungen, so spricht man von einer partiellen Differentialgleichung (siehe Mathematik 2).
Beispiel. Wir wollen die Frequenz eines Federpendels berechnen, wobei eine Masse m an eine Spiralfeder aufgeh¨ angt ist.
Die Federkonstante wird mit c bezeichnet, die Zeit mit t und die
Auslenkung aus der Ruhelage mit x(t) .
Dann ist v = ˙ x(t) =
dxdtdie Geschwindigkeit, und b =
dvdt=
ddt2x2= ¨ x(t) die Beschleunigung.
F¨ ur die Bestimmung der Frequenz verwenden wir die aus der Physik bekann- ten, die Kraft F betreffenden Gesetze nach Hook und Newton
F = − c · x (Hook) , F = m · b (Newton) Wir erhalten m · x ¨ = − c · x bzw. m · x ¨ + c · x = 0 . Die allgemeine L¨ osung dieser Dgl. (zweiter Ordnung) ist
x(t) = C
1sin(ω(t + C
2)) ,
wobei C
1, C
2∈ R beliebige reelle Konstante sind und ω
2=
mc. Mit ω = 2πν ergibt sich ν =
2π1√
cm
. Dabei ist ν die Frequenz und ω die Kreisfrequenz.
Durch Einsetzen in die Dgl. kann man sich leicht von der Richtigkeit der L¨ osung ¨ uberzeugen.
Beispiel. Gesucht ist jene Kurve y = y(x) , f¨ ur die die Tangentenl¨ ange in einem Punkt P der Kurve stets gleich der L¨ ange der Strecke OP ist.
l = √
x
2+ y
2, sin φ =
yl( ⇒ y = l sin φ) , tan φ = y
′(x) sin φ =
sinφ cosφ 1 cosφ
=
√ tanφsin2φ+cos2φ cos2φ
= √
tanφtan2φ+1
= √
y′y′2+1
Damit ist y = l √
y′y′2+1
= √
x
2+ y
2√
y′y′2+1
bzw.
y √
y
′2+ 1 = y
′√
x
2+ y
2. Quadrieren liefert nun
y
2(y
′2+ 1) = y
′2(x
2+ y
2) bzw. y
2= x
2y
′2Daraus folgt y
′2=
yx22bzw. y
′= ±
yx.
• Die L¨ osung der Dgl. y
′=
yxist y = Cx mit C ∈ R . Dies ist eine Geradenschar durch den Ursprung.
• Die L¨ osung der Dgl. y
′= −
xyist y =
Cxmit C ∈ R . Dies ist eine Hyperbelschar.
Die wichtigste Frage ist nat¨ urlich, wie bei einer vorgelegten Dgl. eine entsprechende L¨ osung gefunden werden kann.
• F¨ ur gewisse Typen von Dgln. gibt es L¨ osungsverfahren, die in der Literatur gefunden werden k¨ onnen oder in Computeralgebrasystemen (wie Maple oder Mathematica) implementiert sind.
• Weiters k¨ onnen numerische Methoden verwendet werden.
• Zu den analytischen N¨ aherungsmethoden geh¨ oren u.a. die Rei- henentwicklung und die sukzessive Approximation.
Die allgemeine L¨ osung einer Dgl. 1. Ordnung enth¨ alt eine beliebige Konstante C . Dies entspricht geometrisch einer Kurvenschar mit dem Scharparameter C .
W¨ ahlt man f¨ ur C einen speziellen Wert, dann erh¨ alt man eine spezielle L¨ osungskurve.
Definition. Ein Anfangswertproblem (AWP) ist eine Problemstel- lung, die aus folgenden beiden Bedingungen besteht:
Differentialgleichung (Dgl.) : y
′= f (x, y) Anfangsbedingung (AB) : y(x
0) = y
0Gesucht sind also L¨ osungen, die durch den Punkt (x
0, y
0) gehen.
Wir diskutieren nun elementare einfache Typen von Differentialgleichun-
gen.
1) y
′= f (x)
Die allgemeine L¨ osung ist offenbar y(x) = ∫
f (x)dx + C , C ∈ R
2) Dgl. mit getrennten Variablen: y
′=
fg(y)(x)Sei F (x) eine Stammfunktion von f (x) und G(y) eine Stammfunktion von g(y) .
Dann ist G(y) = F (x) + C , C ∈ R die allgemeine L¨ osung der Differentialgleichung.
(Differenzieren nach x liefert
G
′(y) · y
′= F
′(x) ⇒ g(y) · y
′= f (x) bzw. y
′=
fg(y)(x)) Formal kann geschrieben werden
y
′=
dydx=
fg(y)(x)⇒ g(y)dy = f (x)dx ⇒ ∫
g(y)dy = ∫
f (x)dx + C
3) Lineare Dgl. 1. Ordnung y
′+ f (x) · y = g(x)
Bemerkung. y und y
′treten nur in erster Potenz auf. Die Funktion g wird oft auch als St¨ orfunktion bezeichnet.
Die obige Dgl. wird auch als inhomogene Dgl. bezeichnet. Die zugeh¨ orige homogene Dgl. ist y
′+ f (x) · y = 0 .
Wir behandeln zuerst die homogene Dgl. y
′+ f (x) · y = 0 . Dies ist eine Dgl. mit getrennten Variablen.
Offenbar ist y ≡ 0 eine L¨ osung. F¨ ur y ̸ = 0 gilt
dy
dx
= − f (x)y ⇒
dyy= − f (x)dx ⇒ ∫
dyy
= − ∫
f (x)dx + C ⇒
⇒ ln | y | = − ∫
f (x)dx + C ⇒ | y | = e
−∫f(x)dx· e
C⇒
⇒ y = ± e
C· e
−∫ f(x)dxDurchl¨ auft C alle reellen Zahlen, dann durchl¨ auft e
Calle positiven reellen Zahlen, und ± e
Calle reellen Zahlen ̸ = 0 . Weil auch y = 0 L¨ osung ist, k¨ onnen wir die allgemeine L¨ osung in der Form
y(x) = K · e
−∫f(x)dx, K ∈ R anschreiben.
Satz. Die allgemeine L¨ osung der inhomogenen Dgl. y
′+ f (x) · y = g(x) setzt sich zusammen aus der allgemeinen L¨ osung y
H(x) der zugeh¨ origen homogenen Dgl. und einer speziellen L¨ osung (partikul¨ aren L¨ osung) y
I(x) der inhomogenen Dgl., also
y(x) = y
H(x) + y
I(x)
Die Bestimmung einer speziellen L¨ osung der inhomogenen Dgl. kann durch
”Erraten”, mittels eines geeigneten Ansatzes oder mit Hilfe der Methode der Variation der Konstanten erfolgen.
Wir betrachten dabei die allgemeine L¨ osung y
H(x) = K · e
−∫f(x)dxder zugeh¨ origen homogenen Dgl. und setzen y
1(x) = e
−∫ f(x)dx
. Dann ist y
1′(x) = y
1(x) · ( − f (x)) .
Nun treffen wir den Ansatz
y
I(x) = K(x) · y
1(x) ⇒ y
I′= K
′· y
1+ K · y
1′Eingesetzt in die (inhomogene) Dgl. erhalten wir
K
′· y
1+ K · y
1′+ f · K · y
1= g ⇒ K
′· y
1= g ⇒
⇒ K
′=
yg1
⇒ K(x) = ∫
g(x)y1(x)